Pressegespräch zum NSU-Prozess: Wie Ämter bis heute die Augen verschließen

Im Münchner NSU-Prozess geht es um Mord. Vielmehr jedoch muss die Öffentlichkeit über latenten Rassismus in Gesellschaft und Behörden sprechen. Die Heinrich-Böll-Stiftung lud in Berlin drei Experten zur Pressekonferenz ein, die ein Plädoyer für die Aufarbeitung der furchtbaren Nazi-Mordserie hielten.

Alle Kameras richten sich zu Beginn des NSU-Prozesses auf die „Nazi-Braut“. Diesen bizarren Namen fanden Medien für Beate Zschäpe, die sich seit dem 6. Mai vor dem Oberlandesgericht München für zehn Morde verantworten muss. Doch in all dem Rummel um Zschäpes Blicke, ihre Kleidung oder die wechselnden Frisuren droht eine Frage in der Versenkung zu verschwinden: Wie um alles in der Welt konnte das mörderische Trio der drei Rechtsextremen Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt über Jahre durch alle Raster der Behörden fallen, wieso versagten die Verfassungsschützer so kläglich?

Der Opferanwalt Mehmet Daimagüler, der Kriminalist und Rechtsextremismus-Fachmann Bernd Wagner und der Grünen-Bundestagsabgeordnete Hans-Christian Ströbele wagten am Freitag (17. Mai) in der Böll-Stiftung den Vorstoß – und benannten den institutionellen Rassismus in deutschen Behörden als Problem. Alle drei waren sich einig: Es ist bis heute nicht gelöst. Und teilweise wurde noch nicht einmal damit angefangen, gegen seltsame völkische Sichtweisen vorzugehen, die ein Ermittlungsverfahren von vornherein in die falsche Richtung leiten können.

Rechte waren nicht auf dem Radar der Ermittler

Fast alle damals handelnde Beamte seien heute noch auf gleicher Position tätig, berichtete Hans-Christian Ströbele aus dem Untersuchungsausschuss, den der Bundestag zur Mordserie des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) eingesetzt hat. „Dass sie jetzt noch im Dienst sind, ist für mich nicht nachvollziehbar.“ Lange Zeit stand es in den Amtsstuben gar nicht zur Debatte, dass hinter den Taten fanatische Rechte stecken. Ermittler glaubten an Drahtzieher im Drogenmilieu. In den Medien entstand der hässliche Begriff „Döner-Morde“, der zum Unwort des Jahres 2011 gewählt wurde. Die Hinterbliebenen der Mordopfer leiden noch heute unter dem vorschnellen und dämlichen Verdacht, dass „bei all diesen ermordeten Türken“ doch sicher irgendwas faul war.

Rechtsanwalt Mehmet Daimagüler sagte, im Münchner NSU-Prozess gehe es deshalb nicht nur um die Mordserie. Es gehe auch um das Kernvertrauen der Bürger in den Staat, der alle schützen solle unabhängig davon, wo sie herkommen, wie sie aussehen oder heißen. „Wir müssen deshalb über Rassismus sprechen und wir müssen auch über institutionellen Rassismus sprechen“, sagte er und verwies auf die Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) bei der Gedenkfeier vor einem Jahr. Alles was sie sagte, sei richtig gewesen. Aber wichtige Dinge habe sie nicht klar benannt – etwa dass die neun Männer zu Opfern wurden, weil die Täter sie als Türken und Muslime erkannten. Und in den bisherigen Äußerungen des Untersuchungsausschuss-Vorsitzenden Sebastian Edathy (SPD) fehlt Daimagüler etwas: „Ich vermisse das Wort 'institutioneller Rassismus'.“

Struktureller Rassismus in Polizei und anderen Behörden

Auch Bernd Wagner wies darauf hin, dass an der NSU-Mordserie nicht „drei durchgeknallte Ostdeutsche“ Schuld seien, sondern ein ganzes System. Auch er berichtete von einem strukturellen Rassismus in der Polizei und anderen Behörden. Wagner, der einst die Abteilung Extremismus im Zentralen Kriminalamt der DDR geleitet hatte, berichtete aus eigener Erfahrung: Schon im Jahr 1990 gab es ihm zufolge die weitverbreitete Meinung in den Behörden, der Rechtsradikalismus sei ein Auslaufmodell. So passiere es, dass von der Polizei manche Dinge nicht festgestellt werden, weil darüber niemand spricht. Der Gründer der Neonazi-Aussteigerinitiative EXIT forderte deshalb Ombudsstellen einzurichten, damit sich Menschen gegen ungerechte Behörden wehren können.

Hans-Christian Ströbele gab Wagner Recht. Das völkische Denken, die Überzeugung von der Überlegenheit der „weißen Rasse“, sei nicht nur Grundlage für die Taten gewesen, sondern wohl auch für das Versagen bei den Ermittlungen. Mehr als ein Dutzend Hinweise hätten schon viele Jahre zuvor auf das Trio Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt hingedeutet – doch sie wurden liegengelassen und vergessen. Bis heute, ergänzte Wagner, gebe es in Behörden einen abweisenden Geist gegenüber Menschen ausländischer Herkunft.

Kampf gegen die Strukturen der Nazis

Als Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung appellierte Ralf Fücks, die Zivilgesellschaft möge die Lehren aus dem Versagen der Vergangenheit ziehen. Jeder müsse seine eigenen Einstellungen stärker hinterfragen und sich einsetzen, damit Deutschland nicht nur institutionell eine Demokratie ist, sondern eine lebendige noch dazu. Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt seien keine Einzeltäter gewesen. Sie bewegten sich in einem Umfeld, aus dem sie ideologischen und praktischen Rückhalt bezogen, wie Fücks analysierte. „Diese Strukturen müssen ausgeleuchtet werden, um neue mörderische Anschläge zu verhindern.“

Überraschend äußerte Opferanwalt Mehmet Daimagüler Bedauern für die toten mutmaßlichen Mittäter Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. Aus den Ermittlungsakten kenne er Fotos von ihnen im Alter von etwa zwölf Jahren – Jungen mit „ganz offenen, lieben Kindergesichtern“, die wenig später mit kahlgeschorenem Kopf „Heil Hitler“ gebrüllt hätten. „Ich habe auch Mitleid mit Mundlos und Böhnhardt – nicht mit den Mördern, aber mit den Kindern“, sagte Daimagüler. Aus deren Geschichte leite sich für die Gesellschaft eine Frage ab: Warum werden Kinder so?

Die Taten der NSU

Als Nationalsozialistischer Untergrund (NSU), bekannt auch als die Zwickauer Zelle, ist die Gruppe aus Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt bekannt geworden. Mundlos und Böhnhardt sind tot, deshalb wird derzeit nur Zschäpe der Prozess vor dem Oberlandesgericht München gemacht – gemeinsam mit vier mutmaßlichen Unterstützern aus der Szene.

Der NSU soll acht türkische Kleinunternehmer und einen Griechen erschossen haben, auch der Mord an einer Heilbronner Polizistin soll auf ihr Konto gehen. Begonnen hat die Mordserie am 9. September 2000 im hessischen Schlüchtern, wo der Blumenhändler Enver Simsek getötet wird. Es folgen Taten in Nürnberg, Hamburg, München, Rostock, Dortmund, Kassel und schließlich die Schüsse auf die Polizistin Michèle Kiesewetter am 25. April 2007 in Heilbronn.

Die Ermittler vermuten teilweise die „Türkenmafia“ hinter den Taten. Erst ab dem 4. November 2011 werden die Ausmaße des NSU offenbar: Mundlos erschießt Böhnhardt und dann sich selbst nach einem missglückten Banküberfall. Zschäpe setzt die Zwickauer Wohnung in Brand, flüchtet mehrere Tage lang und stellt sich dann. Seit dem 6. Mai muss sie sich vor dem Münchner Gericht verantworten.

Mitschnitt des Pressegesprächs

Pressegespräch aus Anlass des NSU-Prozessbeginns - Heinrich-Böll-Stiftung

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Interview mit Mehmet Daimagüler

Mehmet Daimagüler: "NSU-Prozess muss Rechtsfrieden herstellen" - Heinrich-Böll-Stiftung

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Ralf Fücks

Ralf Fücks: "Systematische Unterschätzung der Gefahren" - Heinrich-Böll-Stiftung

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Bernd Wagner

Bernd Wagner: "Verfassungsschutz auf neue Beine stellen" - Heinrich-Böll-Stiftung

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Hans-Christian Ströbele

Hans-Christian Ströbele: "Kampf gegen Rassismus ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe" - Heinrich-Böll-Stiftung

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