Romafeindlichkeit in Tschechien eskaliert

Tschechien im Zeichen einer neuen Hetzstimmung gegen Roma: Seit Monaten vergeht kaum eine Woche, in der nicht irgendwo im Land neonazistische Gruppen aufmarschieren und, aktiv unterstützt von „Normalbürgern“, Parolen skandieren wie „Schwarze Schweine“, „Gegen Multikulti“, „Zigeuner zur Arbeit“. In dieser Häufigkeit, landesweit und vor allem: unter Beteiligung der Bevölkerung hat es das in Tschechien noch nicht gegeben. Banale Anlässe genügen, um die latente Roma-Feindlichkeit vieler Tschechinnen und Tschechen in offene Aggression umschlagen zu lassen.

Von latentem Rassismus zu offener Aggression

Wie Ende Juni in České Budějovice, als ein Sandkastenstreit zwischen einem tschechischen Roma-Kind und einem „weißen“ Kind in einer lautstarken Auseinandersetzung Dutzender Eltern eskalierte. Mehrere hundert Tschechinnen und Tschechen marschierten daraufhin, angeführt von einer Gruppe Neonazis, zur Plattenbausiedlung Máj, um sich an den Roma im Viertel zu rächen. Es kam zu Straßenschlachten, Blutvergießen konnte nur dank der Polizei verhindert werden.

Ähnliche Szenarien gab es während des Sommers in Ostrava, Duchov, Vitkov und anderen Orten, quer durch die Republik. Weitere werden folgen. Insgesamt 13 Aufmärsche für die „Rechte aller anständigen Bürger“ hat die erst im Sommer gegründete Bewegung „Tschechische Löwen“  bis Ende des Jahres angekündigt. Die Bewegung um Pavel Sládek Matějný, der u.a. für seine Kontakte zu deutschen Neonazis bekannt ist, ist eine Absplitterung der rechtsextremen  DSSS (Arbeiterpartei für soziale Gerechtigkeit) und will sich laut eigenem Selbstverständnis „hart gegen Multikulturalismus stellen“.

Der tschechische Inlandsgeheimdienst BIS warnte Ende Juli davor, dass die Roma feindliche Stimmung der  „Normalbürger“ ein größeres Sicherheitsproblem für das Land darstellen könnte als die Rechtsextremisten.

Ghettoisierung statt Integration

Das Ausmaß der Aggression ist neu, die Ursachen lange bekannt. Seit Jahren warnen tschechische und internationale Nichtregierungsorganisationen vor einer Eskalation jahrelang verschleppter, eklatanter sozialer Missstände.

Etwa ein Drittel der geschätzten 250.000 Roma im Land leben in ghettoartigen Siedlungen mit einer Arbeitslosenquote von über 90 Prozent, Kriminalität, Wucher, Drogen. Über 400 solcher Roma-Ghettos gibt es in Tschechien.

In der Mehrheitsgesellschaft hingegen hält sich hartnäckig die Überzeugung, Roma liegen der Mehrheitsgesellschaft nur auf der Tasche, beziehen mehr Sozialhilfe als andere tschechische Bürgerinnen und Bürger und können bequem davon leben, ohne arbeiten gehen zu müssen.

Infolge eines segregativen Bildungssystem haben junge Roma minimale Chancen, aus den „sozial ausgeschlossenen Gemeinden“, wie die Ghettos offiziell bezeichnet werden, auszubrechen. Jedes dritte Roma-Kind besucht eine „Praktische Schule“ für Kinder mit geistiger Behinderung. Trotz wiederholter internationaler Appelle, etwa seitens des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, hat sich an diesem Zustand bislang kaum etwas geändert.

Politiker, vor allem auf kommunaler Ebene, haben dieser Entwicklung nicht nur tatenlos zugesehen, sondern sie aktiv gefördert, kritisiert etwa die Nichtregierungsorganisation Romea. In ihrem Mitte September veröffentlichten Bericht über den Zustand der Roma-Minderheit in Tschechien beschreibt sie unter anderem, wie Roma in verschiedenen Gemeinden von der Stadtverwaltung gezielt an die Stadtränder verdrängt wurden, in überfüllte, überteuerte Unterkünfte mit unhaltbaren hygienischen Zuständen. Eklatanteste Beispiele: die Städte Ustí nad Labem und Ostrava.

Mit solchen Signalen förderten Politiker die weitere Zerklüftung der Gesellschaft, anstatt sich um sozialen Zusammenhalt zu bemühen, so Romea.

Das Schweigen der Politikerinnen und Politiker

Auch in den betroffenen Gemeinden blieben sowohl eine Verurteilung der Aufmärsche überwiegend aus als auch positive Signale an die Adresse der Roma.

„Ich weiß nicht, warum ich mich zu irgendwelchen Meinungen politisch äußern sollte“, antwortete etwa der Bürgermeister von Vitkov, Pavel Smolka, Anfang August auf die Frage der Zeitschrift Respekt, ob er sich von den Organisatoren des geplanten Neonazi-Aufmarsches in seiner Gemeinde distanzieren werde. Vitkov hatte vor vier Jahren traurige Berühmtheit erlangt, als bei einem brutalen Brandanschlag auf eine Roma-Familie ein zweijähriges Mädchen lebensgefährlich verletzt wurde. 

 „Die Bürgermeister tragen die Hauptschuld daran, dass die Lage eskaliert“, meint Miroslav Tancoš. Er ist Vorsitzender der kürzlich gegründeten Demokratischen Roma-Partei. „Sie stecken voller Vorurteile und zeigen der Bevölkerung überhaupt keine positiven Beispiele von fleißigen Roma.“

Auch im Wahlkampf herrschte peinliches Schweigen zu der im Raum stehenden Frage: Was tun gegen die eskalierte Anti-Roma-Stimmung im Land?  „Es ist schon befremdlich, dass keine der großen Parteien die Pogrome und das Erstarken der Rechtsextremen thematisiert hat“, meint der Politologe Jiři Pehe. Einzige Ausnahme: die Grünen. Parteichef Ondřej Liška singt in einem als Rap inszenierten Wahlspot seiner Partei: „Mit deiner Stimme kannst Du vieles verändern, endlich anfangen die Roma zu integrieren“.

Tomio Okamura hingegen, einer der populärsten Politiker im Land, kam mit dem Vorschlag, die Roma sollten in die Länder ihrer Vorfahren, z.B. nach Indien, zurückkehren. Okamura ist Vorsitzender der neuen national-populistischen Partei „Morgendämmerung“, die Umfragen zufolge nach den Wahlen am 25./26. Oktober ins Abgeordnetenhaus einziehen könnte.

Gegenöffentlichkeit

Während die meisten tschechischen Politiker die explosive Stimmung im Land mit Blick auf die bevorstehenden Wahlen ignorierten, hat sich in der Gesellschaft spontan auch eine Gegenöffentlichkeit formiert.
Die Plattform Blokujeme.cz („Wir blockieren“) etwa veranstaltet seit Juli konsequent Gegendemonstrationen in den Orten, in denen rassistische Aufmärsche angekündigt sind.

„Wir werden nicht untätig zusehen, wie der Hass gegen Roma, der aus Mangel an Information und gesellschaftlichem Frust rührt, von Tag zu Tag steigt“, schreibt die Initiative auf ihrer Webseite. „Wir fordern die Regierung, Politiker auf allen Ebenen und vor allem die Zivilgesellschaft auf: Lasst uns die Reihe von Anti-Roma-Aufmärschen stoppen!“

Roma gehen in die Politik

Unter der Roma-Minderheit selbst lässt sich als Reaktion auf die wachsende Aggression zum einen eine zunehmende Radikalisierung beobachten. Besonders in Ústí nad Labem und Ostrava, den beiden Städten mit dem größten Roma-Anteil, sei dies offensichtlich, schreibt das Roma-Nachrichtenportal Romea.cz.

Andere Roma warnen vor einer weiteren Eskalation der Gewalt. „Zu Gegendemonstrationen aufzurufen, macht die Situation nur noch explosiver. Wir müssen uns an einen Tisch setzen und einen Dialog führen“, sagt Miroslav Tancoš. Er hat daher in diesem Jahr die Demokratische Roma-Partei gegründet. „Ohne politische Vertretung können wir in Tschechien nichts ausrichten“, sagt Tancos.

Insgesamt 20 Vertreter der Roma-Minderheit kandidieren bei den Parlamentswahlen am 25./26. Oktober – mehr als in allen bisherigen Parlamentwahlen. Allein neun von ihnen auf der Liste der Grünen. Diese haben neben ihren eigenen zwei Roma-Kandidaten auch Kandidaten der Roma-Partei für Chancengleichheit (SRP) Listenplätze zur Verfügung gestellt. 

"Wir machen keine Politik für Roma, sondern mit den Roma. Ihre Kandidatur ist der einzige Weg, um ihnen Chancengleichheit in der Gesellschaft zu ermöglichen.“, sagte Grünen-Vorsitzender Ondřej Liška. 

Auch für die Mehrheitsgesellschaft ist ein größeres Engagement von Roma in der Politik ein wichtiges Signal, meint Lucie Horváthová. Sie ist eine der beiden Roma-Kandidatinnen für die Partei der Grünen. „Das zeigt den Menschen, dass Roma aus verschiedenen Perspektiven zur Problemlösung beitragen können“, so Horváthová im Interview mit der Zeitung Romano vodi.

Ausblick

Einfache Lösungen für die seit 1989 verschleppte Integration der Roma-Minderheit gibt es nicht. Die sozialen Probleme lassen sich nur durch konsequente, unpopulistische und vor allem: ernst gemeinte Schritte in den Griff bekommen. Eine Grundvoraussetzung dafür ist der Dialog mit der Roma-Minderheit. Diese hatte in der Vergangenheit häufig das Gefühl, es werde „über uns ohne uns“ entschieden.

Mit Blick auf die Roma feindlichen Aufmärsche der letzten Zeit stimmen Initiativen wie blokujeme.cz optimistisch. Wenn Rechtsextremisten versuchen, den öffentlichen Raum an sich reißen, ist ein „Aufstand der Anständigen“ angezeigt. Die symbolische Wirkung von blokujeme.cz dürfte dabei weit größer sein als die Zahl ihrer Anhänger auf der Internetplattform (knapp 200).

Initiativen aus der Zivilgesellschaft allein reichen aber nicht. Tschechische Politikerinnen und Politiker dürfen die Gesellschaft im Kampf gegen rechtsextremistische Aggression und auf ihrem Weg hin zu einem multikulturellen Selbstverständnis nicht alleine lassen. Sie müssen die Roma-Frage endlich zum Politikum im positiven Sinne machen.

In diesem Sinne appellierte auch der Menschenrechtskommissar des Europarats, Nils Muižnieks an die tschechischen Behörden. Diese sollten unmissverständlich signalisieren, dass sie keinerlei Ausdruck von Hass tolerieren werden, sagte Muižnieks am Mittwoch vor dem Hintergrund der aktuellen Situation in Tschechien.