Niederlage in der Mediendemokratie - Das grüne Bundestagswahlergebnis 2013

Kind mit grünem Luftballon
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Auf der Wahlparty der Grünen

1. Schlecht rübergekommen

Kurz gesagt: Die Grünen hatten verdammt schlechte Presse in diesem Wahlkampf. Dass die ein Hauptfaktor für den Verlust von einer Million Wählern war, ist kaum umstritten. Die Partei streitet eher darüber, ob das nun ein unfairer Medienfeldzug oder die selbstverschuldete und verdiente Strafe war.

Die meisten öffentlich geäußerten grünen Selbst-Analysen in den ersten Wochen nach der Wahl machten sich im Wesentlichen die verbreitete mediale Kommentarlinie der letzten Wochen vor der Wahl zu Eigen. Die Grünen erschienen als Partei der Steuererhöhungen, der Verbote und der Pädophilie und vernachlässigten ihre Kernkompetenzen in der Umwelt-, Energie- und Klimapolitik. Das Bild, das in den Köpfen des Publikums angekommen ist, ist damit vermutlich richtig getroffen. Die Annahme, die Führung der Grünen habe diesen Eindruck erwecken wollen und bewusst dementsprechende Kommunikationsentscheidungen getroffen, ist natürlich absurd. Wie er dennoch entstehen konnte, und welchen Anteil falsche Entscheidungen von grüner Seite dabei hatten, darüber muss sich die Partei klar werden. Die Debatte der ersten Wochen nach der Wahl war dabei allerdings wenig hilfreich.

In unzähligen öffentlichen Äußerungen nahmen weite Teile der Partei die durchgesetzten Negativ-Schablonen des politischen Gegners als Selbstbeschreibung an und bestätigten so in einem Akt der vollständigen Unterwerfung die Niederlage im Deutungsstreit. Das führte von grüner Seite zu Aussagen wie: „Wir haben unseren Markenkern vernachlässigt und nicht über die Energiewende geredet.“ „Die Steuerpläne waren exzessiv und haben unsere bürgerlichen Wähler verschreckt.“ „Wir haben den Veggie-Day zum Thema gemacht, das war ein Riesenfehler, wir wollen zu viele Verbote“. „Wir hätten Pädophilie ganz anders aufarbeiten müssen, es selbst massiv betreiben sollen.“

Damit wird das Ergebnis des medialen Deutungskampfes - in dem mit konkurrierenden Parteien, Medien und Verbänden eine Vielzahl von Akteuren mitspielen - allein den eigenen grünen Kommunikationsentscheidungen angelastet und im Rausch der „Selbst“-Geißelung als Schuld akzeptiert. Das mag nach einer Wahlniederlage kommunikationstaktisch zunächst einmal richtig sein. Aber überziehen sollte man nicht, denn je mehr die Grünen selbst diese Negativ-Etiketten bestätigend wiederholen, desto schwieriger wird es, sie jemals wieder loszuwerden. Und eine Analyse des kommunikativen Geschehens dürfte zeigen, dass die simple Selbstbezichtigung zu kurz greift.

Das Bild, das von Parteien in den Medien entsteht, ist von ihnen selbst nur in sehr geringem Maße kontrollierbar. Themensetzung, Selektion der relevanten Aspekte eines Politikfeldes, die Bewertung politischer Vorschläge und die Interpretation ihrer Resonanzchancen, all das bestimmen sie natürlich nicht allein. Zum Glück, schließlich mag niemand reihenweise Verlautbarungsartikel lesen. Alle malen gern am Bild des politischen Gegners mit und erhoffen sich Unterstützung durch sekundierende Medien. Die Images der Parteien sind das Ergebnis eines komplexen kommunikativen Geschehens, das schwer zu durchschauen ist. Die Öffentlichkeit interessiert sich für die Genese öffentlicher Bilder nicht. Sie rechnet das Ergebnis den Parteien selbst zu.

Um die größtmögliche Beeinflussung des medialen Bildes im eigenen Sinne geht es beim Wahlkampf in der Mediendemokratie. Er besteht geradezu daraus. Die dominierende Bühne des Wahlkampfes sind die Massenmedien. Das geht sehr weit: Berichten die Medien nicht über den Wahlkampf, dann „findet er nicht statt“. In einer bestimmten Phase dieses Bundestagswahlkampfes interpretierten die Medien in einer verbreiteten Kommentarlinie die Abwesenheit ihrer eigenen Berichterstattung über die strittigen Themen insofern ganz richtig. Es gab zwar Veranstaltungen, Plakate, rufende Politiker auf Plätzen, aber „der Wahlkampf fand nicht statt“. In den Medien. Da, wo es drauf ankommt.
 

Dieser Wahlkampf war medial lange Zeit wenig intensiv und bis zum Schluss in der Breite eher oberflächlich. Bei sinkender Parteienbindung und einer nach wie vor eher entpolitisierten - oder gar politikverdrossenen - gesellschaftlichen Gesamtstimmung wählen immer mehr Wählerinnen und Wähler stark stimmungsabhängig. In einem solchen Umfeld steigt - vor allem in der Schlussphase - die Deutungsmacht der Leitmedien und der von ihnen angebotenen und dann oft breit reproduzierten Wahrnehmungsmuster an.

In diesem Wahlkampf ist zunächst von der SPD, dann von den Grünen – und wohl auch von der FDP - ein sehr selektives und verzerrtes Bild in den Köpfen angekommen. Im Fall der Grünen hatte es wenig mit dem zu tun, was sie sagen und worüber sie reden wollten. Das empfinden die Grünen natürlich als unfair. Sicher können auch SPD, FDP, Linkspartei und Piraten plausibel darlegen, inwiefern sie sich falsch dargestellt fühlten. Die Verschwörungstheorien schlechter Verlierer will allerdings niemand hören und sie tragen auch kaum dazu bei, das Bild zu verbessern. Die Angst vor dem Vorwurf, verbittert Medienschelte zu betreiben, sollte aber auch nicht davon abhalten, das kommunikative Geschehen und die kommunikativen Machtverhältnisse in einem Wahlkampf angemessen zu rekonstruieren. Denn mindestens so wichtig wie das, was man sagen will, ist in einem medial dominierten Wahlkampf eine realistische Einschätzung der Chancen, mit den gewünschten Botschaften medial transportiert zu werden, in einem Feld kommunikativer Machtverhältnisse.
 

2. Kein Wohlwollen

Ein Dreiklang aus Klimaschutz durch den Erfolg der Energiewende, mehr Teilhabe durch besser finanzierte Bildung, Betreuung und Infrastruktur sowie gesellschaftliche Modernisierung im Bereich der Gleichstellungspolitik - das sollten die Themen des Grünen Wahlkampfes werden. Später entschieden dann die Mitglieder welche konkreten Projekte das verkörpern sollten, je drei wurden gewählt, insgesamt neun. Alle Kommunikationskanäle, die die Grünen direkt zur Verfügung hatten, wurden dementsprechend genutzt: Programmtexte, Kampagnenmaterial, Bildaktionen, Interview-Antworten, Gastbeiträge, Reden, etc.

In die Köpfe der Menschen allerdings drangen andere Botschaften durch. Von den grünen Kernthemen und –Projekten haben viele in diesem Wahlkampf vermutlich gar nichts mitbekommen. Letztlich sind die vier bis fünf Schneisen durch die Medienlandschaft, die man als kleinere Partei hinlegt, entscheidender als der gesamte Wahlkampf im engeren Sinne. Die dort - oft von anderen bestimmten - Botschaften erreichen unendlich viel mehr Köpfe. Kommt man gar nicht vor, erreicht man dementsprechend weniger Menschen. Ein Problem das die Piraten traf.

Steuern

Es hat nie eine strategische Entscheidung seitens der Grünen gegeben, die Steuerpolitik in den Vordergrund des Wahlkampfes zu rücken. Sie sollte als Mittel zum Zweck mitlaufen, als Nachweis der Seriosität und Finanzierbarkeit des grünen Programms. Für den Fall einer Debatte über die angebotenen Instrumente zum Schuldenabbau und zur Finanzierung öffentlicher Güter glaubte man sich gut gerüstet, da die Partei die Vorschläge für eine Verteilung der Kosten dieser Projekte für fair und kommunizierbar hielt. Gegen das Projekt, die öffentliche Hand auch durch Erhöhung der Einnahmen - und nicht nur durch Kürzungen - in eine bessere Lage zu versetzen, regte sich allerdings sehr schnell Widerstand in vielen Verbänden und auch in der großen Mehrzahl der Medien. Sie nahmen den öffentlich ausgetragenen Konflikt in den eigenen grünen Reihen im Umfeld des Wahlparteitages zum Anlass, einige Wochen lang vor allem über die Details der Steuerpolitik zu berichten. Dieser Aspekt des grünen Programms wurde so dominant wahrgenommen, dass das gewünschte Signal für die ökologisch-soziale Transformation, der „grüne Wandel“, kommunikativ unterging. Die Phase intensiver Berichterstattung über das grüne Programm war nicht mehr geprägt von der Energiewende, den Investitionen in Hochschulen und Kitas, der Gleichstellung von Frauen oder Lebenspartnerschaften sondern von steuerpolitischen Details und Verteidigungsrhetorik. Durch hartnäckige Lobbyarbeit verschiedener Verbände und ein klares Meinungsklima in der Überzahl der Medien wurden die grünen Pläne dabei als Steuererhöhungs-„Orgie“ dargestellt. Der Eindruck, die Mehrzahl der Menschen sei von den grünen Plänen betroffen, konnte dabei - trotz einiger sogenannter „Faktenchecks“, die die grüne Gegenbehauptung bestätigten - auf der emotionalen Ebene effektiv durchgesetzt werden.

In den grünen Wahlkampfgremien wurde früh erkannt, dass Sinn und Zweck der Übung, also die Verwendung des Geldes für durchaus populäre und gut begründbare politische Projekte kaum bekannt wurden, doch alle Kommunikationsversuche in dieser Richtung waren erfolglos. Diese Schwerpunktsetzung der Berichterstattung war keine Entscheidung der grünen Kandidaten sondern eine der Medien. Dass konservative Zeitungen wie FAZ und WELT so berichten würden, war klar. Einhellig erwiesen sich jedoch auch sämtliche Medien der links- und rechtsliberalen Mitte (SPIEGEL, Süddeutsche Zeitung, DIE ZEIT, Der Tagesspiegel, etc.) als nicht ansprechbar für die Problematik der Finanzierung öffentlicher Güter und der Schuldenexplosion. Flächendeckend dominierten Vokabeln wie „abkassieren“, „Raubzug“, „Melkkuh“ oder „Lastesel“, wenn es darum ging, höhere Einkommen und Vermögen stärker heranzuziehen. Über die grünen Steuerpläne veröffentlichten viele Medien teilweise stark übertriebene, oft auch falsche Zahlen. Dabei wurden diejenigen Anteile der Steuervorschläge ins Zentrum gerückt, die am unpopulärsten sind, etwa die Abschmelzung des Ehegattensplittings. Der SPIEGEL verschwieg in seinem einflussreichen „Raubzug mit Ansage“ Artikel die deutlich beliebtere Vermögensabgabe gleich ganz. (Genauer gesagt: Der Artikel rechnete sie in die Gesamtsumme der zusätzlichen Einnahmen durch die grüne Steuerpolitik mit ein, verschwieg aber das Instrument der Vermögensabgabe.)

Das traf und trifft nicht nur die Grünen. Eine Woche nach der Wahl denunzierten SPIEGEL und FOCUS in einem peinlicherweise identischen Titel die sich ankündigende Thematik höherer Steuern bei den schwarz-roten Koalitionsverhandlungen als „Raub“ am „Volk“ mittels Bildern von Gabriel und Merkel mit Räubermaske. Nur sehr wenige Journalisten ließen während des gesamten Wahlkampfes Sympathie für das Anliegen erkennen, staatliche Aufgaben besser zu finanzieren. Da gleichzeitig die Kritik an der Staatsverschuldung ebenfalls einhellig geteilt wird, ist impliziert, dass weite Teile der meinungsmachenden Medien glauben, das Problem über massive Ausgabenkürzungen lösen zu müssen. Wo gekürzt werden soll, bleibt zumeist offen. Hinweise auf konsensuell skandalisierbare Beispiele für Einzelverschwendung (Elbphilharmonie, BER, S21) kaschierten die Scheu vor der strukturellen Frage und den großen Ausgabenblöcken (z.B. Rente). Das Meinungsklima in den Redaktionen war allerdings für die deutliche Konsequenz einer FDP in dieser Frage, also der klaren neoliberalen Forderung nach weniger Staat, ebenfalls nicht mehr ansprechbar. Überzeugt hat bei der Mehrheit der Meinungsmacher nur der Ansatz, keine Lösung anzubieten und sich auf künftig wachsende Steuereinnahmen zu verlassen. Dieser Ansatz wurde nur milde kritisiert und stattdessen oft als clever und geschickt dargestellt. Interpretativ gestärkt wurde er durch konjunkturell gute Steuereinnahmen, die mit dem breit durchgesetzten Bild der „sprudelnden“ Steuer-„Quellen“ den Eindruck eines Staates erzeugten, der im Geld schwimmt. Ein entsprechendes Wahlergebnis kam heraus.

Trotz Finanzkrise, verschuldeter öffentlicher Hand und Spaltung der Gesellschaft herrscht bei vielen tonangebenden Leitmedien immer noch ein eher wirtschaftsliberales und staatskritisches Meinungsklima vor. Dazu kommt die Unterlegenheit der sozial-ökologischen Reformrichtung in der Verbände- und Institutslandschaft. Umweltverbände und Gewerkschaften waren bis auf wenige Ausnahmen in diesen Wahlkampf eher leise. Wirtschaftsverbände, Industrieverbände und nahestehende Institute waren dagegen überlaut und jede Pressemitteilung dieser Seite wurde in vielen Medien dankbar als Neuigkeit akzeptiert. So waren die gegnerischen Stimmen in der kommunikativen Landschaft ganz einfach übermächtig und konnten ihre Negativ-Deutung der grünen Finanz-, Bildungs- und Haushaltspolitik durchsetzen.

Energie

Es gab in allen Phasen dieses Wahlkampfes eine Vielzahl von Versuchen seitens der Grünen, die Energiewende und den Klimaschutz zu thematisieren. Es gab Auftritte vor der Bundespressekonferenz, Bund-Länder Papiere, Flugzettelaktionen, Vorstöße zur Strompreisbremse, einen Energiefahrplan, eine Energiekonferenz, den Entwurf eines Klimaschutzgesetzes, unzählige Pressemitteilungen und Zitat-Angebote, das hartnäckige Ansprechen der Thematik in Reden und Interviews. Medial wurde nur wenig aufgegriffen. Lediglich als Debatte über die Kosten der Energiewende, provoziert durch den Umweltminister und orchestriert durch Verbandsforderungen, tauchte das Thema im Wahlkampf auf. Für dieses Agenda Setting sind die grünen Spitzenpolitiker nicht verantwortlich. Die leicht dahingesagte Forderung, sie hätten diesen Politikbereich dann eben mehr und anders „zum Thema machen sollen“, ist naiv und überschätzt die Themensetzungsmacht einer kleinen Oppositionspartei stark.

Beim Thema Energie gibt es demoskopische Befunde, die darauf hinweisen, dass viele Menschen der Ansicht sind, die Energiewende laufe auch ohne die Grünen passabel. Das könnte für die mangelnde Polarisierungskraft des Themas in diesem Wahlkampf mitverantwortlich sein und es ist aus grüner Sicht hochgradig beunruhigend. Es gab den Versuch von grüner Seite, Energie und Klimaschutz in den Vordergrund zu rücken. Er ist gescheitert, vor allem wegen mangelnder Resonanz in der Öffentlichkeit. Die Grünen werden immer besser abschneiden, wenn grüne Kernthemen im Fokus stehen. Sie dort hineinzustellen liegt nicht in ihrer Macht. Eine Beschränkung grüner Wahlprogrammatik und Kampagnen auf den sogenannten „Markenkern“ oder gar eine Verengung der Grünen auf Öko-Themen ist daher strategisch hochgefährlich. Denn wenn die Medien in Wahlkampfzeiten andere Themen setzen, steht man als Umweltexperte schnell außen vor. Diesem Mechanismus ist etwa der grüne Wahlkampf 1990 zum Opfer gefallen. Die Grünen reden gerne über Extremwetter; wenn alle über Europa oder Arbeit reden, hört ihnen aber dabei keiner zu.

Veggie-Day und Grüne „Verbote“

Während der grüne Versuch, das Merkel-Image aufzubrechen und die Interessen hinter ihrem Machterhalt zu thematisieren, sich nicht durchsetzen konnte, glaubte anscheinend ganz Deutschland sofort, dass die Grünen alles verbieten wollen. Den Veggie-Day haben nicht die Grünen selbst in das Zentrum des Wahlkampfes gerückt, er wurde von der BILD Zeitung im Programm aufgespürt und aufgespielt. Die diversen abstrusen Verbote, die in der darauf folgenden denunzierenden Kommentarlinie aufgezählt wurden waren teils gelogen und teils aus entlegenen grünen Texten zusammengesammelt. Es handelt sich nicht um eine Kommunikationsentscheidung der Grünen, den erhobenen Zeigefinger nach vorne zu stellen.

Negative Campaigning ist Wahlkampf-Alltag. Es stellt sich allerdings die Frage, warum so viele Medien entschieden, diese Attacke des Gegners so dankbar aufzunehmen und so massiv in den Vordergrund der Berichterstattung und Kommentierung zu stellen. Die grüne Gegen-Kommunikation, etwa der vielen Freiheitsimpulse im grünen Programm oder der vielen Verbote im CDU-Programm wurde nicht aufgegriffen und ging unter. Die Resonanz in den Redaktionen für die Denunziation ökologisch orientierter Veränderung als „Bevormundung“ war deutlich größer als das Interesse an den vielen Problemen etwa der Massentierhaltung. Und das nicht nur in der BILD Zeitung. Das ist zunächst einmal kühl festzustellen.

Genauso wie dies: Die Vorstellung ist naiv, eine Partei, die – flügelübergreifend einig – auf Transformation abzielt, sei sie nun nur ökologisch oder ökologisch-sozial, könne auf jeglichen Programminhalt verzichten, der in einem Wahlkampf vom Gegner diffamiert werden kann. Grüne Politik zielt darauf ab, eingeschliffene Produktions-, Konsum- und Verhaltensmuster zu verändern. Die Frage wäre eher, ob und wie man besser darauf einwirken kann, dass fair und kontrovers darüber berichtet wird, statt hämisch und denunzierend.

Von grüner Seite ist eine positivere Ansprache von ökologischen Reformthemen wie der Agrarwende sicher vorzuziehen. Welche auch immer die Grünen selbst aber wählen: Der Gegner wird sich immer eine Unangenehmere aussuchen. Die Grünen können nicht alle Programminhalte, die zur negativen Instrumentalisierung taugen, ausmerzen. Bevor der Ruf danach zu laut wird, bedenke man: Einflussreiche Stimmen aus dem ökologischen Lager fordern von den Grünen eine viel stärkere Thematisierung von Lebensstilveränderungen, und eine viel radikalere Wachstumskritik. Eine Reihe von ihnen hat den Grünen in diesem Wahlkampf die Unterstützung verweigert oder zur Nichtwahl aufgerufen, weil die Grünen ökologisch nicht radikal genug seien. Das kann man angesichts der enormen Prügel, die die Grünen für ihre Positionen wochenlang in weiten Teilen der Presse bezogen haben, zwar als ausnehmend naiv oder schockierend desinformiert sehen. Es zeigt aber die Risiken hastiger und ängstlicher programmatischer Manöver angesichts der Veggie-Day-Erfahrung. Zum Veggie-Day im engeren Sinne: Es liegen vier Umfragen aus vier verschiedenen Zeitpunkten des Wahlkampfes vor. In allen liegt die Zustimmung zu diesem Vorschlag zwischen 40 und 55 Prozent.

Pädophilie

Es ist gut und richtig, dass die grüne Partei sich diesem Thema nun auf unterschiedliche Weise - wissenschaftlich aufarbeitend und über Zeitzeugenrunden - widmen wird. Und es hätte in den letzten Jahren sicher Gelegenheiten gegeben, - etwa den Skandal um die Odenwald-Schule, - bei denen man eine solche Beschäftigung bereits hätte initiieren können. Man hätte dann auch bereits die Frage klären können, was die Grünen als Partei unternehmen würden, sollten sich denn Opfer potentieller Fälle von Kindesmissbrauch melden, denen dieses Unrecht möglicherweise im Kontext grüner Parteistrukturen zugefügt worden ist.

Zur Rolle dieses Themas im Bundestagswahlkampf bleibt aber festzustellen: Die Forderung nach Straffreiheit für bestimmte Formen der Pädophilie wird heute von keinem Grünen mehr erhoben. Die betreffenden Beschlüsse liegen sehr lange zurück, wurden damals öffentlich kontrovers diskutiert und sind seit langer Zeit revidiert. Selbst diejenigen Protagonisten, die das früher anders sahen und heute noch aktiv sind, haben sich schon vor langer Zeit unmissverständlich distanziert. Neues aus dieser Zeit gab es in den letzten Jahren eigentlich kaum zu berichten. Trotzdem konnte - nachdem Andreas Vosskuhle eine Laudatio für Dany Cohn-Bendit verweigerte - durch die hartnäckige Arbeit einiger sehr aktiver Zeitungen (zuerst FAS und WELT, dann SPIEGEL) und begleitender Attacken aus der CSU die gesamte Medienlandschaft schließlich überzeugt werden, dass diese Verfehlungen aus der Frühzeit der Grünen mitten in diesem Bundestagswahlkampf ausführlich thematisiert werden müssen. Und es waren offenbar auch alle schnell überzeugt, dass dieses Thema nicht im breiten gesellschaftlichen Kontext, in den es in der betreffenden Zeit gehörte, diskutiert werden sollte, sondern vor allem mit Bezug auf die Partei der Grünen. Dem Spektakelwert der Angelegenheit konnte irgendwann kein Medium widerstehen, der „Pädophilie-Skandal“ bzw. die „Pädophilie-Debatte“ war zur Welt gebracht. Die ein oder andere inhaltlich unscharfe oder im Ton ungeschickte Äußerung von Seiten grünen Spitzenpersonals tat ihr Übriges. Dass es in der Schlusswoche des Wahlkampfes durch die Verknüpfung des Themas mit dem Spitzenkandidaten zu einem spektakulären Finale dieses erfolgreich durchgesetzten Agenda-Settings kam, hätten sich seine Betreiber kaum zu träumen gewagt. Es ist wohl eher eine unglückliche Verkettung der Umstände. Der Einfluss auf das Wahlergebnis durch diese flächendeckend medial transportierte Story in einer Phase, in der viele Wählerinnen und Wähler nach allen demoskopischen Befunden immer noch schwankten, kann kaum überschätzt werden. Plausibel scheint die Annahme, dass viele Wechselwähler, die früher durch - oft auch diffuse - moralisch motivierte Impulse am Ende zu Grün neigten, dann Abstand nahmen. Häme über den Makel bei den „Gutmenschen“ kam dazu. Der „Values Vote“ war dahin.

NSA

Mehrere Wochen lang, während des Vorwahlkampfes im Sommer dominierte das Thema NSA und die Enthüllungen des Edward Snowden die Medien. Kaum jemand würde bestreiten, dass es sich bei Bürgerrechten und Datenschutz um ein grünes Kernthema handelt. Grüne Spitzenkandidaten waren in der Debatte sofort und hörbar präsent. Lauter und präsenter als die Piraten, ebenbürtig mit der SPD. Alle Medien berichteten breit und regierungskritisch, boten viel Raum für Kritik von Seiten der Opposition. Das Thema dominierte über mehrere Wochen. Es hatte allerdings keinerlei Effekt auf Umfragewerte. Und nach allem was wir wissen hatte es auch keinerlei Effekt auf das Wahlergebnis. Der grüne Kernbereich der Bürgerrechte und des Datenschutzes hat in diesem Wahlkampf also trotz eines der größten Skandale der letzten Jahrzehnte und trotz breiter und einmütiger Unterstützung durch die Medien nicht gezählt. Auch dies sollte bedenken, wer die Beschränkung auf grüne Kernthemen fordert.

Koalitionen und Machtoption

Die ganzen letzten Jahre über waren koalitionspolitische Überlegungen in der Berichterstattung über die Grünen dominant und wurden in jedem Interview angestellt. Noch bis Mitte des Wahljahres hatten die Grünen dabei mit einer paradoxen Darstellungszange zu kämpfen. In den eher konservativen und rechtsliberalen Medien tauchten sie bereits als nahezu linksradikale Robin Hood Partei irrsinniger Steuererhöhungen auf, während in eher linken oder linksliberalen Medien noch immer das Bild der neuen bürgerlichen Opportunisten gepflegt wurde, deren etwas ältere Spitzenleute insgeheim bereits Schwarz-Grün vorbereiteten um ihre letzte Chance auf Ministerämter zu nutzen. Die entsprechende selektive Berichterstattung machte es den Grünen lange schwer, inhaltliche Botschaften über ihr Programm an die eigenen potentiellen Wähler zu transportieren. So gibt es viele Indizien dafür, dass die stark transformative ökologische Botschaft des Programms in den dieser Agenda zugeneigten Milieus gar nicht ankam.

Es gab eine klare strategische Entscheidung der Grünen, Rot-Grün positiv anzustreben, und die Optionen Rot-Rot-Grün oder Schwarz-Grün zwar nicht auszuschließen, aber nicht positiv anzusprechen. Diese Linie war orientiert an Programmüberschneidungen und gestützt auf Datenmaterial über die Vorlieben im grünen Wählerpotential. Das hat sich auch medial in der Schlussphase angemessen durchgesetzt und eine breite Schwarz-Grün Debatte blieb - wie gewünscht - aus.

Da die rot-grüne Mehrheit aus verschiedenen Gründen zu keinem Zeitpunkt in die Nähe der umfragegestützten Glaubwürdigkeit kam, fehlte den Grünen zum Schluss eine Machtoption. Eine solche ist zumindest für viele Wechselwähler mit auschlaggebend. Und ihr Fehlen verursacht natürlich auch ein Nachlassen der Berichterstattung, da mögliche Regierungspartner mehr Aufmerksamkeit genießen als sichere Oppositionsparteien.

Mit Bezug auf die mediale Darstellung dieser Linie kann aber nicht unerwähnt bleiben, dass die überwiegende Mehrheit der über die Grünen berichtenden Journalisten sie für falsch hält und diese schwarz-grüne Vorliebe auch dauerhaft, hartnäckig und energisch zu erkennen gibt. Die Risiken eines offen schwarz-grünen Kurses für die grüne Partei, die sich angesichts von Erhebungen über die Meinungen im Wählerpotential gut belegen lassen, werden bis heute ignoriert oder heruntergespielt, die parteitaktischen Chancen systematisch hoch-interpretiert. Das liegt vermutlich auch an weltanschaulichen Haltungen, die für den oben beschriebenen Kurs in der medialen Darstellung der Steuerpolitik verantwortlich sind. Wie immer man das nun bewertet, es führte jedenfalls von Anfang an zu einer sehr kritischen Bewertung des grünen Wahlkampfes in konservativen und rechtsliberalen Medien.

3. Eigene Fehler

Das Meinungsklima in den tonangebenden Redaktionen stand klar gegen eine sozial-ökologische Transformationsagenda. Das ist bedauerlich, doch so richtig überraschend kam es auch wieder nicht. Was hätten die Grünen anders machen können, um trotz dieses nicht wohlwollenden Umfeldes, die Kommunikationschancen für eigene Botschaften zu verbessern?

Der Ton der Spitzenkandidaten

Teilweise wurde auf Spitzenkandidatenebene der konfrontative Ton übertrieben und auf zu viele Adressaten gemünzt. Zwar gilt: Ein Wahlkampf ohne Konfrontation und Polarisierung ist nicht denkbar, insbesondere aus Oppositionssicht. Wer die Regierung nicht angreift und scharf kritisiert, bleibt Argumente schuldig, warum sie gewechselt werden sollte. Außerdem ist ein großer Teil der konfrontativen Rhetorik von anderen gegen die Grünen in diesen Wahlkampf hineingebracht worden, etwa von vielen Verbänden, die sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln gegen die Vermögensabgabe, die Zahlung der EEG Umlage, die Abschaffung der Abgeltungssteuer oder die Bürgerversicherung wehrten. Dennoch fragt sich, ob auch von grüner Seite unnötigerweise potentielle Alliierte im Kampf gegen Schwarz-Gelb verprellt wurden.

Wo die lautstarke und polemische Rede einerseits die nötige Empörung und politische Leidenschaft hin zur Veränderung mobilisiert, da kann sie andererseits auch Leute vor den Kopf stoßen und abschrecken. Manche fühlten sich offenbar von grüner Wahlkampf-Polemik am Ende beschuldigt, obwohl sie für die vorgebrachten Solidaritätsanliegen ansprechbar gewesen wären (viele kleine und mittelständische Unternehmen, „Reiche“). Eine auf Polarisierung angelegte, in Freund/Feind-Kategorien gekleidete Rhetorik wurde wohl ins Übermaß getrieben und lag dann neben der gesellschaftlichen Stimmung. Die war 2013 von noch größerem Harmoniebedürfnis geprägt als in Deutschland ohnehin üblich. Offenbar ist auch in grünen Milieus die Sehnsucht nach Konsens so groß, dass man von Interessensgegensätzen nichts mehr hören möchte. Das hätte im grünen Wahlkampf punktuell in eine andere Art der Ansprache übersetzt werden müssen.

Der gelegentlich geäußerte Vorwurf, die Grünen hätten auf Spitzenkandidatenebene im Sozialbereich zu sehr eine Rhetorik der Verelendung und der Trostlosigkeit betrieben, mag ebenfalls hier und da zutreffen. Er ist allerdings auch sehr stark von einer oberen Mittelschichtsperspektive geprägt. Ein Oppositionswahlkampf kann wohl kaum darauf verzichten, Probleme anzusprechen und auch anzuprangern. Der Skandalisierungston des üblichen Oppositionsregisters wurde aber offenbar nicht von allen als zeitgemäß empfunden. Vielleicht fühlte sich das angesprochene grüne Wählerpotential in der eigenen Lebenswelt nicht erreicht, Teile wollten jedenfalls von den betreffenden Problemen weniger ausführlich hören. Eine alternative, für Oppositionsparteien erfolgversprechende Melodie muss da allerdings noch gefunden werden.

Auch die Fernsehauftritte des Spitzenpersonals haben nicht alles Potential nach oben ausgeschöpft. Gegen den Sympathieträger Gysi etwa sahen beide Spitzenkandidaten bei verschiedenen Gelegenheiten nicht optimal aus. Vorwürfe, belehrend und besserwisserisch gewirkt zu haben, könnten auch an einem schon überwunden geglaubten Habitus gelegen haben – und dem Vorwurf der Bevormundungspartei auf einer habituell-kommunikativen Ebene Vorschub geleistet haben. Da hätte mehr Arbeit in die Vorbereitung fließen können.

Schwächen der direkten Kommunikation, der Kampagne, der Inszenierung

Möglicherweise hatten die Grünen zu wenige zwingende Inszenierungsideen, um Medien zur Thematisierung ihrer Anliegen zu bringen. Das kann man über Bildaktionen tun, neue inhaltliche Vorschläge, das neue Marketing alter Forderungen, gezielte Provokationen, Studien, über Humor oder über bewusst inszenierte Konflikte - das letztere ist immer riskant und schlecht kontrollierbar. Eine Reihe von Versuchen gab es, meistens erfolglos. Oft, weil die Absicht durchschaut wurde; oft, weil das Wohlwollen für das entsprechende Anliegen in den Redaktionen einfach fehlte. Dass viele Medien Aktionen oder Anlässe nicht aufgriffen, hinderte sie nicht daran, wenige Zeit später die Klage über fehlenden Wahlkampf vorzutragen. So etwas kann man nur durch besonders gelungene Ideen durchbrechen. Davon hatte der grüne Wahlkampf zu wenige zu bieten. Auch die Kampagne im engeren Sinne muss wohl im Rückblick als suboptimal bewertet werden. Die Positivplakate waren zu diffus in der Botschaft, die Negativplakate nicht überzeugend, der Negativ-Kinospot ziemlich problematisch. In den Medien wurde sie bei einigen Anlässen kritisch und spöttisch betrachtet. Das gilt aber für ausnahmslos alle Wahlkampagnen. Es ist eher ein Indiz für die allgemeine Stimmung der Parteienkritik und war wohl nicht wahlentscheidend in der einen oder anderen Richtung. Die direkte Wirkung der Kampagne sollte an anderer Stelle genauer bewertet werden.

Schlechtes Timing öffentlich ausgetragener Konflikte

Zu einem sehr späten Zeitpunkt, zum Wahlprogrammparteitag im April, entschieden sich einige grüne Akteure, die Steuerpläne öffentlich zu kritisieren. Dieser Zeitpunkt war ungeschickt gewählt. Eine Partei hat nicht viele Gelegenheiten, breite Berichterstattung in fast allen Medien zu bekommen. Wahlparteitage gehören dazu. Im April wurde der Ton gesetzt und den Medien Anlass und Gelegenheit gegeben, die grüne Botschaft auf das Thema Steuern zu verengen. Statt auf Angriff zu schalten wurden die Grünen dann zum Hautpangriffs- und Untersuchungsziel der Medien.

Dieser Punkt hat in den parteiinternen Auseinandersetzungen nach der Wahl eine große Rolle gespielt. Er soll hier nicht überbewertet werden. Denn die Kampagne von Seiten einiger Wirtschaftsverbände gegen die Vermögensabgabe hatte schon früher angefangen und wäre auch ohne die interne Kontroverse weitergegangen. Und es ist nicht unwahrscheinlich, dass die grüne Steuerpolitik beim oben geschilderten Meinungsklima in den Medien ohnehin aufgespielt worden wäre. Dennoch bleibt, dass der Parteitag und die interne Kontroverse faktisch der Startschuss für das Thema „Belastung der Mittelschicht“ war.

Vorkommen um jeden Preis?

Der Kampf um mediale Aufmerksamkeit erfordert gelegentlich riskante Kosten-Nutzen Kalkulationen. Eine der größten Gefahren für kleine Oppositionsparteien ist es, medial wenig oder gar nicht vorzukommen. Die Anlässe, medial präsent zu sein, kann man sich aber nicht immer selbst aussuchen. Gelegentlich ist unklar, ob man besser zugreift oder besser verzichtet. Beim Thema Energie haben die Grünen um Präsenz gekämpft und sie nicht errungen, bei der Pädophilie hätten sie gerne verzichtet, beim Thema NSA kamen die Grünen vor, erzielten jedoch nicht den gewünschten Effekt damit.

Bei den Themen Steuern und Veggie-Day war die Kalkulation zwischen Chancen und Risiken der Berichterstattung nicht so eindeutig zu beantworten.

Konfrontiert mit der Möglichkeit zur Stellungnahme stellte sich die Frage, ob die sich bietende Chance auf mediale Aufmerksamkeit genutzt werden sollte. Durch Mitwirkung an den geschriebenen Geschichten können Chancen genutzt werden, eigene Anliegen zu transportieren und eigene Deutungsangebote stärker zur Geltung zu bringen. Das Risiko bei einem nicht selbstgewählten Thema oder Themenaspekt liegt dann darin, dass man eventuell negative Berichterstattung verlängert und verstärkt.

Im Falle der Steuern musste die Schlacht geschlagen werden. Die Grünen mussten den Versuch unternehmen, die Vorzüge der finanzierten Projekte zu bewerben und die Fairness der angebotenen Instrumente zu verteidigen. Der Angriff des Gegners hätte durch grüne Nichtteilnahme an der Diskussion nicht aufgehört. Dass es dabei dann ins Detail gehen würde, war kaum zu vermeiden.

Im Falle des Veggie-Day sah die Führung das Potential, über dieses Thema die Probleme der Massentierhaltung, das eigentliche grüne Anliegen, in die Debatte zu bringen. Daher wich man der Diskussion nicht aus. Der Versuch, sie zu drehen, misslang. Massentierhaltung wurde kein mediales Wahlkampfthema. Im Rückblick wäre ein Ausweichen vor der Veggie-Day Diskussion vielleicht sinnvoller gewesen. Die Grünen hätten damit auf ihre Seite der Geschichte zeitweise bewusst verzichtet, möglicherweise wäre die negative Fokussierung durch die Gegenseite dann weniger erfolgreich gewesen.

Ergreift eine Partei die Chance zur medialen Präsenz wird ihr das nachher eindeutig als thematische Auswahl zugerechnet, auch wenn die Selektion in anderen Händen lag. Kommunikationsverweigerung ist nur selten eine wirkliche Option.

Zu viele Gegner auf einmal

Das Wahlprogramm war detailliert wie selten, umfassend, durchgerechnet, weitreichend und konkret, realistisch und dennoch ambitioniert. Ein Kalkül ist dabei aufgegangen: Niemand warf den Grünen vor „das Blaue vom Himmel zu versprechen“. Diesem Vorwurf mangelnder Seriosität und Finanzierbarkeit sollte kein Anlass gegeben werden in der Hoffnung, grüne Milieus mit diesem Anspruch überzeugen zu können. Breit gewünschte Projekte in den Bereichen der Familien-, Sozial-, Bildungs-, Innovations- oder Entwicklungspolitik sollten nicht nur gefordert sondern auch als finanzierbar und realisierbar dargestellt werden. Zu diesem Zweck wurde ein mehrere Jahre dauernder Prozess angestoßen, der innerhalb der Bundestagsfraktion, in einer Kommission von Bundestags- und Landtagsfraktionen, sowie auf einem Parteitag in Kiel dafür sorgte, dass unfinanzierbare Projekte nach hinten gestellt wurden und für prioritäre Anliegen eine Finanzierung gefunden wurde. Angesichts der Debattenlage in den Jahren 2009 bis 2012 muss man diesen Versuch der Seriosität und der Anpassung politischer Gestaltungswünsche an finanz- und haushaltspolitische Spielräume verteidigen. Er wurde auch medial lange Zeit eher positiv kommentiert. Dass dieser als Wettbewerbsvorteil angelegte Versuch der „Durchrechnung“ und „Gegenfinanzierung“ sich zum Nachteil wenden würde, war ganz einfach nicht vorauszusehen. Und niemand hat es vorausgesehen.

Die Kehrseite der Seriosität war in diesem Wahlkampf die Angreifbarkeit in den Details und die offene Präsentation einer Rechnung über Steuererhöhungen für Gutverdiener und Vermögende. Und es stellte sich heraus: Der Kostenvoranschlag schien vielen entscheidenden Leitmedien zu hoch. „Ehrlichkeit“ wurde den Grünen immerhin konstatiert. Und in einer Reihe von Kommentaren gleich dazu: „Dummheit“. Wie um das zu illustrieren - und die Überlegenheit der Merkel-Technik des Vagen und Diffusen zu belegen - nahm die flächendeckend gegen Mehreinnahmen eingestellte Meinungsmacherlandschaft einen Finanzierungsvorschlag nach dem anderen unter die Lupe und brachte die Wählerschaft durch teilweise extreme Überzeichnungen gegen ein Programm auf, das 90 Prozent der Menschen gar nichts gekostet aber vieles gebracht hätte. Dazu kam der Widerstand gegen die grüne Reformagenda im Energie- und Klimabereich sowie bei der Bürgerversicherung. In der Summe hatten die Grünen nicht nur fast alle Wirtschaftsverbände, Großunternehmen, Energiekonzerne, private Krankenversicherungen u.v.a. gegen sich sondern auch eine aufgestachelte obere Mittelschicht, die sich durch die „Raubzug“-Berichterstattung von den Grünen bedroht fühlte statt sich von der Botschaft eines besseren Gemeinwesens angesprochen zu fühlen.

Das Wahlprogramm bot also diesmal zu viele Angriffsflächen und es legte sich mit zu vielen Gegnern auf einmal an. Die Grünen haben die kommunikative Durchsetzbarkeit ihrer Botschaft gegen die Verteidiger des Status Quo und das ihnen entsprechende Meinungsklima in den tonangebenden Etagen der Medien überschätzt. Die Verlierer der angestrebten Transformationsagenda konnten ihre Deutung medial durchsetzen, die potentiellen Gewinner des Programms wurden nicht erreicht. Sie erfuhren teilweise gar nichts von den grünen Projekten. Trotz der stark transformativen Botschaft des Programms im ökologischen Bereich und der vielen Projekte für mehr Gerechtigkeit ist es in der Folge dann auch nicht gelungen, zusätzliche Wähler mit derartigen weltanschaulichen Schwerpunkten zu gewinnen.

4. Kommunikative Machtverhältnisse und gesellschaftliche Stimmungslage

Medienvertreter ziehen sich offiziell gerne auf die Legende zurück, sie spiegelten nur das Meinungsklima in der Gesellschaft. Natürlich sind sie sich aber des formenden Einflusses ihrer Themenwahl, ihrer Wertung, Kommentarlinie höchst bewusst und üben diesen Einfluss auch selbstbewusst aus. Wo die öffentliche Meinung oft noch auf der Kippe steht, wird sie durch die beförderten Stimmungen und Schlagzeilen in der einen oder anderen Richtung entschieden. Je oberflächlicher ein Wahlkampf und je weniger politikinteressiert die Öffentlichkeit, desto größer ist dieser Einfluss. Natürlich greifen Medien auch vorhandene Stimmungen auf. Doch die Stimmungslage ist immer doppeldeutig und instabil.

Der grüne Wahlkampf beruhte auf einer bestimmten Einschätzung der gesellschaftlichen Stimmung in der Gesamtbevölkerung und im grünen Potential. Sie stützte sich auf eine Reihe von Indizien und Erhebungen. Alles wies auf große Resonanz für die Hauptforderungen des Programms hin. In den letzten vier Jahren dominierten politisch und medial die Themen Energiewende, Finanzkrise, Eurokrise, die Schulden der öffentlichen Hand, die Spaltung zwischen Arm und Reich. Programm und Wahlkampfstrategie sind unter dem Eindruck entstanden, dass es in diesem Wahlkampf auch um diese Themen gehen könnte, dass nach der Finanz- und Eurokrise eine regulierende, soziale und ökologische Neujustierung des europäischen Kapitalismus Resonanz finden könnte. Angesichts des - gar nicht so lange zurückliegenden, doch fast vergessenen - Höhenfluges der Piraten, einer Partei mit explizit unangepasstem Gestus und starker Attraktivität in grünen Milieus, und der tiefen, zeitweise existenzbedrohenden Krise der Linkspartei schien es sinnvoll, die Grünen nicht als harmlose, angepasste Partei des neubürgerlichen Establishments sondern als ambitionierte, mutige Partei eines weitgehenden Veränderungsanspruches aufzustellen, eine Partei mit Visionen und seriösen Rezepten, diese mutigen Visionen auch konkret umzusetzen. Das Wahlergebnis legt allerdings nahe, dass die Transformationsbotschaft doch nicht die „gesellschaftliche Mehrheit“ getroffen hat, jedenfalls nicht die, die sich zum Wahlzeitpunkt dann entwickelt hatte.

Das ist sicher auch das Resultat einer Präferenz in den Leitmedien gegen einen Politikwechsel zu einer sozial-ökologischen Transformationsagenda und einer dementsprechend eher Merkel-freundlichen Berichterstattung, die vor allem aus Lob für ihre sehr gekonnte Inszenierung bestand und die Union als eigentlich einzige Partei von scharfer Kritik ausnahm. Es trifft aber wohl auch eine gesellschaftliche Stimmung, die insbesondere für grüne Reformpolitik ganz einfach nicht sehr günstig war. Ökologische Themen spielten fast gar keine Rolle in diesem Wahlkampf, trotz grüner Thematisierungsversuche. Datenschutz und Bürgerrechte, Bankenregulierung und Zügelung des Kapitalismus, abgehängte Unterschichten und ungleiche Bildungschancen, die Spaltung zwischen Arm und Reich, all das war für die Mehrheit nicht entscheidend. Und nichts davon wurde in den Leitmedien entschieden nach vorne gestellt. Medial erzeugt oder prä-medial vorhanden, es dominierte der Eindruck dass es in Deutschland doch „gut läuft“ und man besser nichts verändern solle, um nicht ein „Chaos wie im Rest Europas“ zu produzieren.

Das ist für keine Opposition ein gutes Umfeld. Das Modell der erfolgreichen Exportnation Deutschland jetzt nicht zu gefährden, das Motiv war dann auch der Hintergrund für die Kommentarlinie der meisten Medien. Die international bewunderten und erfolgreichen deutschen Unternehmen jetzt mit zusätzlichen Steuern oder schärferen ökologischen Grenzwerten zu belästigen wurde als unklug gewertet. Die Prämissen des Oppositionswahlkampes, rot wie grün, waren andere: Strukturelle Probleme und Risiken des „Weiter-So“, eine gesamteuropäische Perspektive statt der wirtschaftsnationalen, die langfristige ökologische Problematik oder die Solidarisierung mit den großen Teilen der Bevölkerung, die vom Erfolg der deutschen Wirtschaft noch gar nicht profitiert haben. Medial gab es dafür keine Unterstützung. Diese gegen Veränderung eingestellte Grundhaltung führte dazu, dass die Oppositionsprogrammatik besonders argwöhnisch unter die Lupe genommen und die Linie der Bundeskanzlerin eher unter dem Aspekt der Geschicklichkeit betrachtet wurde.

Transformation war in Zeiten deutscher Weltmarktherrschaft und Hegemonie in Europa keine Botschaft, die die „Mitte“ hören wollte.
 

5. Konsequenzen und Rolle der Grünen in der Zukunft.

Irgendetwas müssen die Grünen aus diesem Wahlkampf lernen. Eine komplette Neuerfindung der Partei oder der künftige Verzicht auf jegliche Angreifbarkeit, kann es wohl kaum sein.

Die kommunikativen Machtverhältnisse in Medien und Verbändelandschaft sollten vorab aber sorgfältiger analysiert werden. Sie sind von enormer, wahlentscheidender Bedeutung. Es könnte durchaus auch hilfreich sein, eine wissenschaftlich systematischere, empirische Analyse des medialen Geschehens im Bundestagswahlkampf 2013 zu unternehmen. Eine Ankopplung an den derzeitigen Stand der medien- und politikwissenschaftlichen Debatte zur Frage der Mediendemokratie wäre wohl auch aus Akteursperspektive für die grüne Partei vor den nächsten Wahlkämpfen nützlich.

Ohne publizistische und zivilgesellschaftliche Unterstützung, ohne starke, flankierende, sozial und ökologisch orientierte Stimmen in Meinungsmacherkreisen kann man gegen Wirtschaftsverbände, Private Krankenversicherungen, Ärzteverbände, Energiekonzerne, Autoindustrie, Chemieindustrie, Bauern, Beamte, hochvermögende Privatleute und Unternehmer in Deutschland keine Wahlen gewinnen. Gegen fast alle Schlüsselmedien und die einflussreichsten Verbände geht einfach nichts. Sollte sich das Meinungsklima in Zukunft nicht verschieben, bleiben profilierte Wahlkämpfe mit starkem Veränderungsanspruch riskant. Die anhaltende Medienkrise macht wenig Hoffnung, zumal vor allem linksliberal eingestellte Medien besonders große Schwierigkeiten haben oder bereits verschwunden sind (Frankfurter Rundschau, Berliner Zeitung, Financial Times Deutschland, etc.). Eine realistischere Einschätzung von Botschaftschancen in einem schwierigen medialen und korporativen Umfeld ist für die Grünen wichtig, um sich in Zukunft nicht wieder zu übernehmen und dann komplett auf eine Stammwählernische reduziert zu werden.

Wachstum durch Anpassung an ein vorherrschendes Meinungsmacher-Klima und eine existierende Deutungshegemonie entspricht allerdings nicht dem politischen Profil dieser Partei, den politischen Leidenschaften der meisten ihrer Mitglieder und den Erwartungen der Mehrzahl ihrer Wähler. Und es ist ebenfalls hochriskant. Die Partei verliert dann Unterscheidbarkeit und öffnet sich einer anderen Angriffslinie, die wir auch bereits kennen und die in diesem Wahlkampf kaum Nahrung finden konnte: „Partei der Besserverdienenden“, „Latte Macchiato Partei“, angepasste „Öko-Spießer“, „langweilig geworden“. Die Höhenflüge der letzten Jahre haben allesamt ohne ein glattgeschliffenes und weichgespültes Programm stattgefunden. Über die ganze Legislatur war die jetzige Programmlage bereits da, der öffentliche Auftritt wurde von den gleichen Personen dominiert, der transformative Anspruch der Partei war durchgehend hoch. Die guten Wahlergebnisse in den Ländern waren auch Frucht einer profilierten Bundespolitik der Partei, die in Eurokrise, Energie- und Atompolitik, Steuerpolitik, Sozial- und Lohnpolitik klar und überzeugend auftrat. Der Stimmungsumschwung der letzten Wochen kam zur Unzeit, in einer hochvolatilen Zeit wurden die Grünen von Stimmungsschwankungen so übertrieben hart bestraft wie sie vorher übertrieben belohnt wurden.

Eine Konsequenz aus der Erfahrung dieses Wahlkampfes könnte es sein, eine höhere Flexibilität von Programm und Strategie für Stimmungsschwankungen zu ermöglichen. Den Ertrag von Seriösität, sachlich-fachlicher Fundiertheit und konzeptioneller Detailgenauigkeit für Stimmungswahlkämpfe in der Mediendemokratie wird die Partei wohl nie wieder überschätzen. Die erfolgreiche Negativ-Kampagne der Gegenkräfte sollte allerdings nicht zur Entsorgung eines grundlegenden Kapitals der Grünen führen, der Kreativität und der Antreiberfunktion, auch gegen Widerstände. Und die Übernahme und Akzeptanz dieser Negativ-Schablonen, teilweise als Instrument im parteiinternen Machtkampf, ist so kopf- wie verantwortungslos.