Interview: Für eine neue Kultur der Beteiligung

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Anne Ulrich (links) und Prof. Patrizia Nanz auf dem Podium unserer Veranstaltung "Repräsentation trifft Beteiligung"

Die Wissenschaftlerin Prof. Patrizia Nanz beschäftigt sich mit den Themen Bürgerbeteiligung und Partizipation am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI). Im Interview erklärt sie, woher der Wunsch nach mehr Beteiligung kommt, wie er sich auf die Politik auswirkt und was sie von der Skepsis gegenüber basisdemokratischeren Strukturen hält.

 

Heinrich-Böll-Stiftung: Zwar ist es dem schwarz-roten Koalitionsvertrag nicht anzusehen - aber auf Länder- und kommunaler Ebene ist viel in Bewegung in Sachen neue Demokratiepolitik und Beteiligungskultur. Was bringt Kommunen, Politik und Verwaltungen hier in Bewegung? Was ist die Botschaft und der politische Gewinn, wo Politik sich für Partizipation öffnet?

Prof. Patrizia Nanz: Die Handlungsfähigkeit von Politik und Verwaltung ist enorm gesunken. Und auch in Zukunft wird es für sie eher schwerer werden, bestimmte Entscheidungen durchzusetzen. Parlamente, Gemeinderäte und Planungsverwaltungen erleben heute große Probleme, wenn sie Legitimität und Akzeptanz für Infrastrukturvorhaben suchen, die maßgeblich in die Lebenswelt der Bürgerinnen und Bürger eingreifen. Denken Sie an den Bau des Durchgangsbahnhofs in Stuttgart oder des Großflughafens Berlin-Brandenburg, der die Steuerzahler rund 5 Milliarden Euro kosten wird.  Ein anderes Beispiel ist der Konflikt um das Kongresszentrum in Heidelberg. Nach gut zehn Jahren intensiver Planung wurde der Bau im Jahr 2011 in letzter Sekunde durch ein Referendum verhindert. Auch der Netzausbau in der Energiewende macht das Problem der mangelnden Handlungsfähigkeit mehr als deutlich. Planung und Bau von Stromleitungen und -masten erzeugen enorme Widerstände in der betroffenen Bevölkerung. Regionen des Widerstands sind zum Beispiel an der Uckermarkleitung in Brandenburg, an der Trasse zwischen Wahle (Niedersachsen) und Mecklar (Hessen) oder zwischen dem baden-württembergischen Bünzwagen und Goldshöfe. Die Reihe der Konflikte um Infrastrukturvorhaben und kontroverse politische Entscheidungen ließe sich noch lang fortsetzen. Konflikte dieser Art – davon ist auszugehen werden in Zukunft an Anzahl und Härte weiter zunehmen.  

Oft kommt auch dazu, dass die Qualität der Planung großer Infrastrukturvorhaben wie etwa der Elbphilharmonie oder desm Flughafen Berlin Brandenburg stark zu wünschen übrig lässt. Verfehlungen dieser Art werden dann nicht nur Gegenstand öffentlicher Kritik, sondern auch Ausgangspunkt für öffentliche Proteste und weitere Mobilisierung. Solche eklatanten Fehler verstärken ein ohnehin vorhandenes Misstrauen gegenüber der Politik und werden von Bürgerinnen und Bürgern heute vielfach nicht mehr einfach hingenommen.  

Die Ursachen für das veränderte Verhalten von Bürgerinnen und Bürger liegt in einem seit Jahrzehnten voranschreitenden umfassenden gesellschaftlichen Wandel. Er umfasst im wesentlichen drei Entwicklungen: 1) Menschen wollen sich stärker direkt beteiligen und haben die Erwartung, dieses auch tun zu können; 2) sie sind gebildeter und bewerten Politik und ihre Entscheidungen kritischer; und 3), die Gesellschaft differenziert sich immer weiter aus. Die Lebensorientierungen, Verhaltensweisen und Wertvorstellungen der Bürgerinnen und Bürger werden vielfältiger und die Unterschiede im sozialen Status größer. Die Folge: Die Einigung darüber, was im konkreten Fall als Gemeinwohl gelten soll, ist heute oft deutlich schwieriger zu bestimmen.

Ich gehe nun davon aus, dass Politik und Verwaltung auf die fundamentalen Veränderungen ihres Handlungssets reagieren, um handlungsfähig zu bleiben. In der Praxis zeigt sich genau das. In einigen Bundesländern - Baden-Württemberg, Rheinland Pfalz, Bremen - sowie Städten und Gemeinden – etwa Heidelberg, Darmstadt, Waren, Leipzig u.a. - finden Verfahren der dialogorientierten Beteiligung mehr Verbreitung. Da setzen sich bestimmte Erkenntnisse durch: Dialogorientierte Bürgerbeteiligungsverfahren besitzen das Potential, Konflikte zu lösen, demokratisch legitimierte Ergebnisse auf hohem Niveau zu erzeugen und das demokratische Miteinander zwischen Politik, Verwaltung und Bevölkerung zu fördern. Gut gemachte Verfahren können das Verständnis für die Komplexität von Politik steigern, die Qualität der Entscheidungen erhöhen und die demokratischen Kompetenzen der Bürgerinnen und Bürger fördern. Sie ergänzen das Legitimationsreservoir der Parlamente und Gemeinderäte sinnvoll und machen diese (wieder) handlungsfähig, wenn es gilt, schwierige und kontroverse Entscheidungen zu fällen. Oft ist es allerdings so, dass die Einsicht erst aus der Krise entsteht. Entscheidungsträger reagieren  oft erst, wennProtest und Referenden ihnen die Grenzen ihrer politischen Macht aufzeigen.

Wie sollte sich das Selbstverständnis von Amtsinhaber/innen und Verwaltung entwickeln? Was sind die Herausforderungen für das Verhältnis von Verwaltung, Rat und lokalem Parlament?

Tja, worauf müssen sich die Entscheidungsträger und -trägerinnen aus Politik und Verwaltung zukünftig einstellen? Ich glaube, es wird auf eine stärkere Ausdifferenzierung und Teilung der demokratischen Herrschaftsausübung hinauslaufen. Ergänzend zu den herkömmlichen Legitimationsquellen der repräsentativen Demokratie also den Wahlen, treten sowohl direktdemokratische als auch partizipative,  dialogorientierte Bürgerbeteiligungsmöglichkeiten hinzu. Es wird ein komplexes System der „zusammengesetzten Repräsentation“ entstehen, das Delegation und unmittelbare Bürgerbeteiligung sinnvoll miteinander kombiniert und seine Anerkennung aus einer Vielzahl von Legitimationsquellen bezieht. Parlamente und Verwaltungen werden ihre demokratisch legitimierte Macht auch zwischen den Wahlen stärker mit den Bürgerinnen und Bürgern teilen müssen. Die Art des Regierens wird sich an die neuen Gegebenheiten anpassen müssen: Weniger top-down-hierarchisch, mehr bottom-up. Staatliche Akteure sind aufgefordert, selber stärker zu Initiatoren von Beteiligung zu werden und institutionelle Arrangements zu entwickeln, die offene Austauschprozesse ermöglichen.

Eine große Herausforderung für den Wandel der Beteiligungskultur in den Ländern, Städten und Gemeinden ist die verbreitete Skepsis auf Seiten von Politik und Verwaltung. Die dialogischen Verfahren gelten aus Sicht der Skeptiker als aufwendig, teuer und dominiert von den üblichen Beteiligungseliten, den „Berufsbürgern“. Gelegentlich wird auch kolportiert, Beteiligungsprozesse mit einfache Bürgern und Bürgerinnen müßten doch „schlechte“ Ergebnisse hervorbringen. Die Position ist weiterhin verbreitet, einfach beim Status Quo zu bleiben: Die repräsentative Demokratie in Parlamenten und Gemeinderäten erfülle doch ihren Zweck und erzeuge demokratisch legitimierte Entscheidungen, die durch die Verwaltung eben um- und durchgesetzt werden müßten.  

Hinter diesen Positionen verbirgt sich in vielen Teilen der Verwaltung und Politik schlicht Unkenntnis über die Möglichkeiten und Potenziale der dialogorientierten Bürgerbeteiligung. Und natürlich gibt es Entscheidungsträger, die befürchten, an Gestaltungsmacht und Einfluss zu verlieren. Sie verkennen leider, dass gerade das Festhalten am Status Quo zu einem viel drastischeren Verlust an Anerkennung, Einfluss, Legitimation und Gestaltungsmacht führt.

Skepsis gegenüber Wandel halte ich erstmal für normal. Ich verstehe auch, dass man ein gewisses Misstrauen gegenüber Bürgerbeteiligungsverfahren hegen kann. Speziell mit Blick auf (derzeit oft) schlecht gemachte, wenig inklusive und zuweilen manipulative angelegte Beteiligungsverfahren ohne wirkliche Gestaltungsmacht für die Bürgerinnen und Bürger halte ich diese Skepsis auch für begründet. Viel problematischer finde ich, wenn entgegen vielfältiger positiver Erfahrungen am Status quo festgehalten wird, z.B. aus bloßer Furcht vor Einflussverlust und aus Unkenntnis gegenüber den demokratiebefördernden Möglichkeiten der Beteiligung. Ich glaube, dass  hier noch eine Menge Überzeugungsarbeit geleistet werden muss, um ein Umdenken bei den Vertreterinnen aus Politik und Verwaltung  zu erreichen.

Sie arbeiten zum Schwerpunkt Energiewende und Beteiligungskultur. Wie ist der Zusammenhang? Inwieweit hängt das Gelingen der Energiewende von guter Partizipation ab?

Die Energiewende ist in vieler Hinsicht ein großes Gemeinschafts- und Mitwirkungsprojekt. Beteiligung findet dabei auf zweierlei Ebenen statt: Einerseits auf der Ebene der Mitgestaltung und Eigeninitiative der Bürgerinnen und Bürger, anderseits auf der Ebene des Konfliktes und der Mobilisierung. Ich würde hier vom „Doppelgesicht der Bürgerbeteiligung“ sprechen. Einerseits tritt Bürgerbeteiligung auf als aktives Dagegen-sein, im Konflikt und der Ablehnung und Missachtung von Politik, Verwaltung und politischen Großvorhaben. Schillernde Begriffe wie die sogenannten NIMBYs oder Wutbürger beschreiben dies. Denken Sie dabei an die Konflikte um die CCS-Technologie oder Fracking, an Konflikte im Trassenausbau, um „Klimakiller Datteln“ in NRW und andere. Anderseits gibt es den konstruktiven Aspekt der Energiewende, nämlich dort, wo Eigeninitiative, Selbstorganisation und Ermächtigung vieler Menschen fördert werden. Viele sprechen von sogenannten „Agenten des Wandels“, die zusammen mit anderen Menschen Initiativen starten, um „liegengebliebene“ Aufgaben eigeninitiativ zu übernehmen, die wichtige Beiträge zur nachhaltigen Gestaltung ihrer Lebenswelt oder gar Beiträge zur Lösung gesamtgesellschaftlicher Probleme leisten. Dabei denke ich an so unterschiedliche Initiativen wie Agenda 21-Prozesse, Energiegenossenschaften, Bürgerwindparks oder die Re-Kommunalisierung der Verteilernetze, oder urban gardening in den Städten. Wir brauchen nun Beteiligungsformen, die sowohl den konstruktiv gestaltenden Politikprozess verstärken und koordinieren als auch jene stärker destruktiven Impulse aufnimmt und in konstruktive Bahnen lenkt. Der Erfolg der Energiewende hängt auch davon ab, ob und wie uns dies gelingt. Genau hier sehe ich die Potenziale der dialogorientierten Bürgerbeteiligung.

Findet Beteiligung nur dort statt, wo sie nicht wehtut? Es gibt skeptische Stimmen, die warnen, Beteiligungsverfahren seien lediglich eine Herrschaftsstrategie, um Regierungsinteressen eleganter durchzusetzen und Widerstände zu entkräften.

Ich sage es Ihnen ganz klar. Natürlich besteht die Gefahr, dass Beteiligungsverfahren entweder durch eine nebulöse Mandatierung durch Politik und Verwaltung zur Akzeptanzbeschaffung längst getroffener Entscheidungen missbraucht werden. Oder aber, dass sich Beteiligungsdienstleister im Sinne eines bestimmten „kommunikativen“ Ziels vor den Karren spannen lassen und ihren Job nicht professionell und unabhängig machen - Stichwort: Imagepolitik. Genauso ist es möglich, dass bestimmte Teilnehmerinnengruppen im Beteiligungsprozess versuchen Dominanz und Einfluss zu erlangen. Auch das ist möglich. Klar ist aber auch: Für alle diese Probleme gibt es Lösungen und Strategien, die Missbrauch und Manipulation entgegenwirken und diese verhindern helfen. Gute Verfahren beispielsweise haben ein klares und eindeutig kommuniziertes Mandat. Dabei steht  vor Beginn des Verfahrens für alle Teilnehmenden fest, welche Gestaltungsmöglichkeiten bestehen und wie mit den Ergebnissen am Ende umgegangen wird. In guten Verfahren gibt es neutrale und unabhängige Moderatoren, die der Vermachtung der Kommunikation durch Einzelpersonen oder Gruppen entgegenwirken und diese verhindern.