Russland: Putin und die Rettung des Abendlands

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Putin als Erlöser: Eines der Kitschportraits des Präsidenten von Künstler Alexei Sergiyenko

Wichtigstes Unterscheidungsmerkmal zwischen der Sowjetunion und dem Putinschen Russland war bis vor Kurzem die weitgehende Freiheit der Menschen, sich ihr Leben einzurichten, wie sie wollen. Die Freiheit zu denken, was man will, zu sagen, was man denkt, zu reisen wohin man will, zurückzukehren wann man will, zu leben, mit wem man will, zu lieben, wen man will, zu arbeiten wo man will. Alles im Rahmen der gegebenen sozialen und ökonomischen Möglichkeiten selbstverständlich. Diese Freiheit war Teil des oft beschriebenen (aber ungeschriebenen) „Gesellschaftsvertrags“ der 2000er Jahre. Ihm zufolge bestimmt Putin die Politik und kontrolliert die wichtigsten wirtschaftlichen Ressourcen. Dafür sorgt er aber für wachsenden Wohlstand für möglichst viele, mischt sich nicht in das Privatleben der Menschen ein und kümmert sich nicht darum, was sie meinen und glauben.

Den letzten Teil dieses „Gesellschaftsvertrags“ hat Putin einst sogar öffentlich benannt. In seiner ersten Rede zur „Lage der Nation“ vor beiden Parlamentskammern im Juli 2000 erklärte er, er sei „gegen die Wiedereinführung einer offiziellen Ideologie in Russland, in welcher Form auch immer.“ Es gab zwar seither immer mal wieder Momente der Versuchung, irgendetwas vorzuschreiben oder zu verbieten - vor allem wenn es um Fragen der jüngeren Geschichte ging. Aber im Großen und Ganzen hat sich Putin an dieses Versprechen gehalten - für eine gewisse Zeit zumindest.

Wahrscheinlich hat er tatsächlich geglaubt, dass es - vor allem für ihn - besser so ist. Denn nur so ließen sich die beiden wesentlichen Teile seiner Machtbasis zusammen halten: Da sind auf der einen Seite die Vertreter/innen der sogenannten „Gosudarstwenniki“ (von Gosudarstwo – Staat), also diejenigen, für welche die Interessen des Staates immer zuerst kommen und aus deren Sicht sich die Individuen zu fügen haben. Ihnen neigt Putin selbst weltanschaulich und biographisch ganz offensichtlich selbst zu. Sie stehen für das „Auferstehen des russischen States von den Knien“, für eine selbstbewusstere Politik dem Westen gegenüber, für das kompromisslose Vorgehen im zweiten Tschetschenienkrieg und auch für die schrittweise immer stärkere Einschränkung (staats-)bürgerlicher Beteiligungsrechte.

Auf der anderen Seite stützt sich Putin auf eine marktliberale Elite, deren Angehörige oft bereits in den 1990er Jahren reich und einflussreich geworden sind. Ihre in der Tendenz marktliberale Wirtschaftspolitik sollte Russlands Wohlstand mehren, es wieder groß machen und - nicht ganz unwichtig - über die wirtschaftlichen Erfolge Putin Legitimation für seine Herrschaft und damit seine Macht sichern. Außerdem diente sie immer wieder als Gegengewicht zu den „Gosudarstwenniki“. Das hat, bis etwa zum Ende des Jahrzehnts, auch ganz gut geklappt. Eine Mehrheit der Menschen in Russland war mit dem Ergebnis jedenfalls insgesamt zufrieden.

Ideologische Neuausrichtung

Dann kam die Wirtschaftskrise. Die Zuversicht in eine rosige Zukunft im Land ließ kräftig nach. Der Modernisierungsdiskurs unter Interimspräsident Medwedjew brachte noch einmal ein wenig Hoffnung und Luft. Doch als Medwedjew im September 2011 verkündete, Putin käme wieder, war diese Luft schnell raus. Es folgte ein zu diesem Zeitpunkt von niemandem für möglich gehaltener Protestwinter und in den Kreml zog wohl wirklich die Angst ein, es könne bald vorbei sein mit dem Herrschen.

Der Wechsel vom ideologisch neutralen - oder besser, nur ausgewählt und instrumentell ideologischen - Staat zu einem, der ideologische Gefolgschaft oder zumindest Zurückhaltung bei Dissens fordert, zeigte sich anfangs in einem Begriffswechsel. Statt wie bisher als Präsident eines ganzen, eines „einigen“ Russlands aufzutreten, beanspruchte Putin ab dem Frühjahr 2012 für sich, nur noch die Politik einer „überwältigenden Mehrheit“ zu vertreten. Die Proteste waren zu dieser Zeit auf ihrem Höhepunkt.

Die Umrisse dieser neuen Politik zeichneten sich schnell ab. Man kann sie, ganz praktisch, an den repressiven Maßnahmen gegen die aufbegehrende Opposition ablesen. Die Vertreter der politische Klasse führen sich, übertragen auf westliche Gesellschaften, seither auf wie rechtskonservative, religiöse Eiferer, nahe an der Grenze zum Obskurantismus. Hervorstechendste Beispiele sind die Anti-Homosexuellengesetze, das sogenannte Dima-Jakowlew-Gesetz zum Verbot der Adoption russischer Kinder durch US-Bürger, das Gesetz zum „Schutz religiöser Gefühle“ oder die immer hysterischer werdende öffentliche Diskussion um angebliche Fälschungen der Geschichte, insbesondere der des Zweiten Weltkriegs. Um nur einige Beispiele zu nennen. Zusammen genommen bildet diese Politik eine Art Antithese zu der von ihren Vertretern als „westlich“  geschmähten (demokratischen) Moderne.

Zu Anfang sah diese Entwicklung wie ein neuerlicher, eher taktischer Schwenk aus, gedacht vor allem zur Herrschaftssicherung. Kaum jemand glaubte, das alles könne wirklich ernst gemeint sein. Ist doch der gesamte Lebensstil der herrschenden politischen Klasse in Russland und insbesondere der wirtschaftlichen Eliten vollständig verwestlicht - inklusive Familie und Vermögen im Westen.

Doch mit der Zeit verdichtete sich dieses krude Gemisch aus Bedrohungsgefühl, Ressentiments gegen Fremdem und Menschlichem, neureligiösem Eifer und geopolitischer Weltsicht zu einer Art Ideologie. Keiner sehr konsistenten, aber einer durchaus brauchbaren. Einer Ideologie, die sich im Inneren famos gegen die Opposition und im Äußeren gegen den Westen einsetzen ließ.

Ausformuliert hat Vladimir Putin dieses Ideologiesubstrat erstmals im September vorigen Jahres bei einer halbstündigen Rede vor dem sogenannten Waldaj-Club. Die Rede kurz zusammen gefasst: Der Westen - besonders „Europa“, womit immer die EU gemeint ist -  ist von seinem christlich-abendländischen Weg abgekommen und zu einem Hort des Niedergangs, der Sünde und (aus Putins Sicht wahrscheinlich am Schlimmsten ) der Schwäche verkommen. Es grüßt aus dem Grab der in Russland sehr populäre Oswald Spengler. Paradebeispiel dafür ist für Putins der angebliche Aufstieg von Schwulen überall, der geradezu zu einer Diskriminierung von Anhängern traditioneller Sexualformen geführt habe.

Kommt Russland unter die Räder?

Daraus ergibt sich für Russland eine neue, im Grunde aber alte Mission: Die Rettung des (christlichen) Abendlandes - auch wenn es diese Rettung natürlich nicht verdient. Diese Mission bringt interessante neue Verbündete im Westen mit sich. Unlängst wurde die Front-Nationale-Chefin Marine le Pen in Moskau wie eine Regierungschefin im Wartestand empfangen. Es gab Treffen mit Vizepremierminister Dmitrij Rogosin und dem Dumavorsitzenden Sergej Naryschkin. Man fand viele inhaltliche Gemeinsamkeiten. Jelena Misulina, Dumaabgeordnete und Hauptagitator für die Antihomosexuellengesetze, war Ende November vorigen Jahres in Leipzig begeistert aufgenommene Gastrednerin auf einer unter anderem von Thilo Sarrazin organisierten Konferenz der deutschen Polit-Obskurantenszene. Und auch mit religiösen Fundamentalisten aus den USA vom Schlag des mitunter „paläo-konservativ“ genannten Pat Buchanan gibt es regen und freundlichen Kontakt.

Im Grunde passiert damit nicht viel Neues. Es war eine Hauptbeschäftigung der Sowjetunion, den Anti-Westen bzw. den bessere Westen zu verkörpern. Noch treffender scheint aber ein Vergleich mit dem späten Zarenreich. Dort haben liberale Männer, wie seit etwa 1890 der Finanzminister Sergej Witte, und sehr konservative Männer, wie im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts Ministerpräsident Pjotr Stolypin (auf den sich Putin immer wieder mit deutlicher Verehrung bezieht), versucht, das Land mittels der Macht der zaristischen Autokratie in eine Art Modernisierungsdiktatur umzugestalten. Dieses Vorgehen war eine Reaktion auf die sozialen und politischen Verwerfungen, denen Russland beim Übergang von einem Agrar zu einem Industrieland ausgesetzt war.

Die autokratisch gesteuerte und kontrollierte Modernisierung war seinerzeit auch durchaus erfolgreich. Aber die Basis des Regimes blieb eine vormoderne agrarische Elite mit einem damals anderorts schon sehr aus der Mode gekommenen Weltbild - um es vorsichtig auszudrücken. Dieser Elite war zwar am Machterhalt des Zaren gelegen, aber die wirtschaftliche Zeit ging über sie hinweg und damit auch über ihren Herrscher. Etwas Ähnliches droht nun Putin. Der neoideologische Kurs ebenso wie der Inhalt der neuen Ideologie schreckt genau diejenigen ab, die eine Modernisierung Russlands heute vorantreiben könnten: Die jungen Menschen, die (gut aus-)gebildeten, die mobilen, die unternehmenden. Es ist damit ein Kurs, der Putin unter Umständen ein paar zusätzliche Jahre die Macht sichert. Das Land insgesamt könnte dabei aber erneut unter die Räder kommen. Vor hundert Jahren jedenfalls ging es nicht gut aus.

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Dieser Artikel ist die leicht abgewandelte Fassung eines Blogbeitrags, den Jens Siegert am 29. Januar auf seinem Russland-Blog veröffentlicht hat.