Bosnien-Herzegowina: Demonstrationen eskalieren

Regierungsgebäude in Bosnien-Herzegowina mit eingeworfenen Fenstern
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Die politischen Demonstrationen schlugen stellenweise in Gewalt um: Die Polizei setzte Tränengas ein, es wurden Fenster von Regierungsgebäuden eingeworfen und sogar Standorte in Brand gesteckt

„Gauner! Gauner!“ skandieren dieser Tage die Demonstrantinnen und Demonstranten auf den Straßen von Sarajevo, Tuzla und anderen Städten in Bosnien Herzegowina (BiH). Schon seit geraumer Zeit warnen Experten davor, dass die katastrophale wirtschaftliche, soziale und politische Situation in dem Balkanstaat soziale Unruhen hervorrufen könnte. In der ersten Februarwoche wurde diese Warnung Realität. Fast auf den Tag genau 30 Jahre nachdem die Olympischen Winterspiele im Jahr 1984 in Sarajevo stattfanden, gehen die Menschen auf die Straße – nicht um des olympischen Geistes zu gedenken, sondern um auf die immer größer werdende Armut und Korruption in ihrem Land aufmerksam zu machen. Im Interview spricht Mirela Grünther-Decevic, Büroleiterin der Heinrich-Böll-Stiftung in Sarajevo, über die Hintergründe und Dimensionen der sozialen Unruhen in Bosnien-Herzegowina.

 

Wie kam es zu den Unruhen in Bosnien-Herzegowina?

Am 5. Februar gingen tausende Bürger und Bürgerinnen in Tuzla auf die Straße. Darunter waren hauptsächlich entrechtete Arbeiterinnen und Arbeiter der einst erfolgreichen Firmen aus der Tuzla-Region, die von der katastrophalen Nachkriegsprivatisierung vernichtet wurden. Nachdem die Polizei am vergangenen Wochenende mit Tränengas gegen die friedlichen Demonstrantinnen und Demonstranten vorgegangen war, eskalierte die Situation.

In Solidarität mit den Menschen in Tuzla wurden Demonstrationen in Sarajevo, Zenica, Brcko, Mostar, Banja Luka, Bihac und anderen Städten Bosniens organisiert. Schnell geriet die seit 20 Jahren akkumulierte Wut auf die unfähige, korrupte und ignorante politische Elite außer Kontrolle und schlug in Gewalt um. In mehreren Städten und Gemeinden setzten Demonstrantinnen und Demonstranten Regierungsgebäude in Brand. In Mostar standen neben dem Rathaus auch die Parteisitze der Kroatischen Demokratischen Gemeinschaft (HDZ BiH) und der Partei der Demokratischen Aktion (SDA) in Flammen.

Wer sind die Demonstrantinnen und Demonstranten und was sind ihre Forderungen?

Bei den Demonstrierenden handelt es sich um unzufriedene Bürgerinnen und Bürger, die mit den Protesten ihren Unmut über das politische System zum Ausdruck bringen wollen. Neben den von Betriebsschließungen betroffenen Arbeiterinnen und Arbeitern, mit denen die Proteste begannen, sind auch Rentner, Familien und viele junge Menschen auf der Straße. Eine junge Nachkriegsgeneration, die keine Perspektive im eigenen Land und nichts zu verlieren hat – die Jugendarbeitslosigkeit in BiH ist mit ca. 60 Prozent eine der höchsten in Europa.

Die Protestierenden fordern unter anderem die Rücktritte der Kantonalen und der Föderalen Regierungen und die Einsetzung parteiloser Expertenregierungen, mehr soziale Rechte, eine Revision der Nachkriegsprivatisierung, Gesetze im Bereich der Korruptionsbekämpfung, Senkung der Politikergehälter, die teilweise 20-30 Mal höher sind als die Mindestrente, sowie gezielte Wirtschaftsförderung und mehr Beschäftigungsmöglichkeiten. Friedliche Demonstrationen werden auch weiterhin in vielen Städten Bosniens jeden Tag organisiert.

Nachdem die Proteste zunächst unkoordiniert waren, haben die Bürgerinnen und Bürger in Sarajevo, Tuzla und Zenica und auch in anderen Städten jetzt begonnen, Bürgerplenen einzurichten, um sich untereinander zu organisieren und ihre Forderungen gemeinsam zu artikulieren.

Wie bewerten Sie den Umgang der Politikerinnen und Politiker mit den Unruhen?

Als am 7. Februar die Städte Tuzla, Zenica, Mostar und Sarajevo brannten, demonstrierte die politische Führungselite einmal mehr ihre Ignoranz. Stundenlang hat sich kein einziger der Politikerinnen und Politiker an die Öffentlichkeit gewandt, bis zuletzt verzichtete die Regierung BiHs auf eine offizielle Stellungnahme.

Diese Proteste sind nicht ethnisch motiviert, dennoch haben sich Politikerinnen und Politiker in den vergangen Tagen große Mühe gegeben, das Gegenteil zu beweisen. In einer Atmosphäre des Vorwahlkampfes - in Bosnien stehen im Oktober Parlamentswahlen an – versuchen sie von den wahren Problemen, die Auslöser für die Proteste waren, abzulenken und durch populistische Schuldzuweisungen billig Punkte im Wahlkampf zu sammeln.

Dass schließlich dennoch Politiker aufgrund der Proteste von ihren Regierungsämtern zurücktreten mussten, war eine in der jüngeren Geschichte Bosniens  neue Erfahrung. Nachdem vergangenen Freitag der Premier des Tuzla Kantons zurückgetreten war, folgten Abgänge der Kantonalen Regierungen in Sarajevo, Zenica und Bihac sowie Rücktritte von Regierungsvertreterinnen und -vertretern in  weiteren Kantonen. Allerdings war keiner der Zurückgetretenen bereit, persönliche Verantwortung für die Missstände zu übernehmen; daher wurden die Rücktritte eher als Ausdruck von Angst oder als ein weiteres politisches Manöver empfunden.

Wie positionieren sich die Nachbarstaaten in dieser Krise?

Seit  Ende des Krieges haben Serbien und Kroatien sich immer  wieder  in die innenpolitischen Angelegenheiten Bosniens eingemischt. Als ob die Unruhen in BiH allein nicht genug wären, nutzten Regierungsmitglieder der Nachbarländer das bosnische Chaos erneut für die eigene politische Profilierung: Der Vizepremier Serbiens, Aleksandar Vucic, traf am Sonntag in Belgrad mit dem Präsident der bosnischen Teilrepublik Republika Srpska (RS) Milorad Dodik und dem Vorsitzenden der Serbischen Demokratischen Partei (SDS), Mladen Bosic zusammen, um über die aktuelle Lage in der Föderation BiH und eventuelle Auswirkungen auf die RS zu sprechen.  Dodik nutzte diese Gelegenheit zur öffentlichen Aussage, dass BiH dem Zerfall entgegensteuere und dass man eines Tages akzeptieren werde, das nur die RS funktioniere. Am selben Tag stattete der kroatische Premier Zoran Milanovic der Stadt Mostar überraschend einen Besuch ab. Laut eigener Aussage war Milanovic nach Mostar gekommen, um einen Beitrag zur Beruhigung der Situation zu leisten.

Mit derartigen Treffen und Besuchen schüren Serbien und Kroatien aber eher die Konflikte und wirken kontraproduktiv auf die Situation im Land ein.

Zum Abschluss: Wie bewerten Sie die Unruhen der vergangenen Tage?

Die Menschen in BiH sind vereint in ihrer Armut, in ihrer Not und jahrelanger Perspektivlosigkeit. Für sie ist der Schuldige eindeutig: die korrupte, verantwortungslose politische Elite, die seit Jahren auf Kosten der leidtragenden Bürger und Bürgerinnen lebt. Die Politikerinnen und Politiker in BiH haben zum ersten Mal sehr deutlich die Stimme des Volkes zu spüren bekommen. Deren jahrelanges Vorbeiregieren an den Bedürfnissen der Bevölkerung hat nun seinen Tribut gefordert und erstmals Konsequenzen in Form von Rückritten einzelner Führungspersönlichkeiten nach sich gezogen.

Zu hoffen bleibt, dass die jetzige Situation endlich dazu führt, dass die internationale Gemeinschaft, samt der EU, ihre bisherige Rolle überdenkt und ein stärkeres Engagement und eine ernsthafte Strategie für BiH vorlegt.

 

Das Interview führte Laura Völker