Ein indischer Blick auf den Indus-Wasservertrag 1960

Indus River
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Der Klimawandel und seine möglichen Folgen für die Wasserverfügbarkeit macht eine Zusammenarbeit Indiens und Pakistans erfordelich. Der bestehnde Indus-Wasservertrag reicht hierbei nicht aus

Der Indus-Wasservertrag wird international als ein Beispiel erfolgreicher Konfliktlösung zwischen zwei Ländern angesehen, die andernfalls in ihrem wechselseitigen Antagonismus verharrt hätten. Diese positive Einschätzung des Vertrages wird im Großen und Ganzen sowohl in Indien wie auch in Pakistan geteilt, doch in beiden Ländern gibt es ein gewisses Maß an Unzufriedenheit, welche die Wasserverteilung laut Vertrag betrifft. Außerdem war die praktische Handhabung des Vertrages durch eine ganze Reihe von Differenzen charakterisiert. Sollen wir ihn nun als Erfolg oder als Fehlschlag bewerten?

Der Vertrag hat den Streit um die Verteilung des Wassers beigelegt, und er hat es geschafft, vier Kriege zu überleben. In diesem Sinn muss er als Erfolg betrachtet werden. Das Flusssystem in zwei Segmente zu zerlegen war vielleicht nicht die beste Lösung; besser wäre es für beide Länder gewesen, gemeinsam für das gesamte System eine integrative und ganzheitliche Lösung zu finden. Bedenkt man aber die Umstände der Teilung und das schwierige Verhältnis zwischen den zwei neu gebildeten Staaten, wäre der Glaube naiv gewesen, eine solche gemeinsame, integrative und kooperative Problemlösung hätte funktionieren können. Wenn die beste Lösung außer Reichweite liegt, muss man nach der zweitbesten suchen – dafür steht der Vertrag. Dieser Vertrag ist grundsätzlich eine Übereinkunft auf der Grundlage der Teilung, nicht ein grandioses Instrument zwischenstaatlicher Kooperation. 1947 wurde das Land geteilt, und 1960 folgten die Gewässer.

Technische Differenzen bei einzelnen Projekten

Die Verteilung des Wassers wurde geregelt, aber es gab immer Differenzen hinsichtlich bestimmter Punkte bei der Planung und Ausführung indischer Projekte an den westlichen Flüssen. Der Vertrag räumt Indien eine begrenzte Nutzung des Wassers dieser Flüsse ein, aber diese Nutzung unterliegt ziemlich stringenten technischen Regelungen und Vertragsklauseln, um Pakistans Interessen zu schützen. Demnach ist der Vertrag gegenüber indischen Vorhaben – insbesondere Großprojekten – bei den westlichen Flüssen permissiv und restriktiv zugleich. Die beiden Länder streben deshalb in entgegengesetzte Richtungen. Dies führt innerhalb der Indus-Kommission zu einem beständigen Tauziehen. Als Anwohner des Unterlaufs im Indus-System neigt Pakistan dazu, argwöhnisch jeden indischen Versuch zum Aufbau anderer Strukturen bei den westlichen Flüssen zu beobachten, der Indien in die Lage versetzen könnte, entweder den Wasserfluss zu reduzieren oder gestautes Wasser freizusetzen und Überflutungen zu verursachen. Pakistans Einwände haben deshalb zum einen mit dem Wasser und zum anderen mit der eigenen Sicherheit zu tun. Indien vertritt die Position, dass die Sicherheitsbedenken von falschen Voraussetzungen ausgehen, weil Indien Pakistan nicht überfluten kann, ohne sich zuerst selbst zu überschwemmen, dass außerdem die eigene Kapazität, den Wasserzufluss für Pakistan zu reduzieren, reichlich begrenzt ist und dass schließlich die Erfahrungen des vergangenen halben Jahrhunderts zu derartigen Befürchtungen keinen Anlass geben.

Eine wichtige politische Dimension liegt bei diesen Differenzen darin begründet, dass die Projekte in Jammu und Kaschmir angesiedelt beziehungsweise für dort vorgesehen sind. Pakistan ist natürlich kaum begeistert von dem Gedanken, indische Projekte auf einem Territorium zu unterstützen, das in seiner eigenen Sicht nach wie vor umstritten ist.

Was tun?

Die Außerkraftsetzung des Vertrages, wie sie von einigen Seiten gefordert wird, verdient keine ernsthafte Diskussion. Sollte man ihn also neu verhandeln, wie es in beiden Ländern häufig gefordert wird? Man kann sich schwer ein Ergebnis vorstellen, das – vom Standpunkt beider Länder –besser als das bereits vorliegende wäre. Leider ist Wasserverteilung ein Nullsummenspiel: Man kann seinen eigenen Anteil nicht vergrößern, ohne den der anderen Seite zu verringern. Deshalb wäre es vielleicht das Beste, die Dinge zu lassen, wie sie sind, und darauf zu hoffen, dass, bei verbesserten politischen Beziehungen, in Zukunft bei der Handhabung des Vertrages ein einsichtigerer und konstruktiverer Geist am Werk ist. Bis vor wenigen Jahren, auch als bestimmte indische Vorhaben bei den westlichen Flüssen und deren Konformität mit den Bestimmungen des Vertrages umstritten waren, hat in Pakistan niemand Wasser als eines der Schlüsselprobleme zwischen dem eigenen Land und Indien bezeichnet. Seit Anfang 2010 hat Pakistan jedoch die Wasserfrage als eine der wichtigsten Fragen zwischen den beiden Ländern aufgebaut, in der Tat als eine „Kernfrage“, die so wichtig wie Kaschmir oder sogar noch wichtiger sei. Was hat das Land dazu bewogen? Man kann nur mutmaßen. Es mag ein machtvoller Mobilisierungsfaktor sein, die allgemeine Aufmerksamkeit auf die Wasserfrage zu lenken und die Öffentlichkeit damit insgesamt hinter die Regierung und/oder die Armee zu bringen. Vielleicht hofft die Regierung Pakistans darauf, die Aufmerksamkeit von den schwerwiegenden Disputen um die Verteilung des Wassers zwischen den Provinzen im eigenen Land abzulenken. Das Wasser als neues Schlüsselproblem aufzustellen, kann auch eine Gegenbewegung sein zu dem Gewicht, das Indien auf das Problem Terrorismus legt.

Weit verbreitet scheint die Ansicht zu sein, dass bei einer gegenwärtigen oder bevorstehenden Wasserknappheit in Pakistan Indien eine wichtige Rolle spielt. Das könnte für das indisch-pakistanische Verhältnis ernsthafte Folgen haben, selbst auf der privaten Ebene.

Zu einigen pakistanischen Befürchtungen

Lassen wir beliebte pakistanische Fehldeutungen mal beiseite und kümmern uns um diejenigen Befürchtungen, die bei informellen Treffen besonnener und wohlinformierter Angehöriger der pakistanischen Zivilgesellschaft und des akademischen Bereichs geäußert werden, auch von Personen, die gute Beziehungen zu Indien wünschen.

1. Verbreitete Einschätzungen oder Fehleinschätzungen der Wasserverteilung durch Indien scheinen unfreiwillige Bestätigung dadurch zu erfahren, dass pakistanische Wissenschaftler von einem potentiellen Rückgang der Strömung der westlichen Flüsse berichten. Man geht tendenziell davon aus, dass es der Anrainer am Oberlauf ist, der für diese Abschwächung verantwortlich ist. Die einzig vernünftige Antwort darauf kann nur sein, eine gemeinsame Untersuchung durch Experten aus beiden Ländern darüber durchzuführen, ob die Strömung bei den westlichen Flüssen tatsächlich schwächer geworden ist, und wenn ja, welche Faktoren dafür verantwortlich sind.

2.  Andere verbreitete Überzeugungen in Pakistan lauten so: dass der Indus-Wasservertrag niemals eine große Anzahl größerer indischer Projekte an den westlichen Flüssen vorgesehen hatte; dass das, was als minimales Zugeständnis gedacht war, von indischer Seite über Gebühr strapaziert wurde und dass deswegen jedes indische Vorhaben an den westlichen Flüssen eine Vertragsverletzung darstellt. Diese Anschuldigungen beruhen auf einer falschen Lektüre des Vertrages, der ganz klar größere indische Projekte bei den westlichen Flüssen zulässt, wie die umfangreichen Anhänge des Vertrages bezeugen. Solange Indien sich an die stringenten restriktiven Bedingungen des Vertrages hält, kann von einer Überstrapazierung oder gar Verletzung des Vertrages keine Rede sein.

3. Ein dritter Punkt der Besorgnis ist die kumulative Wirkung der großen Zahl von Projekten an den westlichen Flüssen. Indien könnte darauf antworten, dass, wenn jedes einzelne der Projekte vertragsgemäß ist, es so etwas wie eine „kumulative Wirkung“ einer großen Anzahl von Projekten nicht geben kann. Die pakistanischen Befürchtungen in dieser Frage können aber nicht einfach so beiseitegewischt werden. Viele Menschen in Indien waren über die kumulative Wirkung einer großen Zahl von Wasserkraftprojekten am Ganges besorgt, und es sind deswegen Untersuchungen in Auftrag gegeben worden. Was für den Ganges gilt, gilt auch für das Indus-System. Dieses Problem muss sorgfältig behandelt werden. Auch hier wäre eine gemeinsame Untersuchung von Experten aus beiden Ländern wünschenswert.

4. In den letzten Jahren hat es Appelle für ein ganzheitliches, integratives Management des gesamten Systems gegeben, für das gemeinsame Management von Wassereinzugsgebieten etc. Das sind Gedanken, die man keineswegs verwerfen sollte, aber ein vollkommen anderer, „ganzheitlicher“ Vertrag muss auf bessere Zeiten warten. Heutige Fragen wie die Einschätzung der Umweltfolgen, verminderter oder umweltgerechter Strömungen usw. gelten für das Indus-System genau so wie für andere Systeme, und die Forderungen sollten nicht beiseitegewischt werden, nur weil der Indus-Wasservertrag sie nicht vorhersah. Vermutlich werden für alle Wasserkraftprojekte, die bei den westlichen Flüssen geplant sind, Umweltfolgeeinschätzungen vorgenommen. Umweltfolgen machen vor Grenzen nicht halt; ein Projekt auf der indischen Seite kann Auswirkungen jenseits der Grenze haben, und ein Projekt auf pakistanischer Seite – zum Beispiel das von Pakistan geplante Projekt Neelum Jhelum – kann Auswirkungen auf der indischen Seite der Grenze haben.

Fazit: Der Indus-Wasservertrag im Zeitalter des Klimawandels

Der weltweite Klimawandel und seine möglichen Folgen für die Wasserverfügbarkeit im Flusssystem des Indus sind lebenswichtige Fragen, und hier müssen die beiden Länder sofort damit anfangen, zusammenzuarbeiten. Es gab bereits ein gewisses Maß der Zusammenarbeit bei den internationalen Verhandlungen zum Klimawandel, aber sie muss über die Einzelfrage der Reduktion von Emissionen weit hinausgehen. Und das kann nicht im Umkreis und im Zusammenhang mit dem Indus-Wasservertrag geschehen, sondern muss separat behandelt werden.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Für die Differenzen, die bei der Umsetzung des Vertrages auftraten, lassen sich gemeinsame Lösungen finden, was aber wegen der instabilen politischen Beziehungen zwischen beiden Ländern mit Schwierigkeiten verbunden ist. Zwischen der Verbesserung dieser Beziehungen und der einvernehmlichen Umsetzung des Vertrages besteht ein Zusammenhang, und eines begünstigt das andere. Die neu auftretenden Probleme, die 1960 nicht vorhersehbar waren –insbesondere der Klimawandel und seine Auswirkungen auf die Wasserressourcen – verlangen nach einer Zusammenarbeit beider Länder, die über den Vertrag hinausgeht.