Ungarn nach der Parlamentswahl 2014: Eine Diagnose

Bei einer Beteiligung von knapp 62 Prozent der Stimmberechtigten gelang es der nationalkonservativen Regierung Viktor Orbáns mit 44 Prozent der Stimmen und einer knappen Zweidrittelmehrheit der Mandate im Parlament, ihre Amtszeit für weitere vier Jahren zu verlängern. Das Oppositionsbündnis der Sozialisten und Liberalen brachte es auf nur 25 Prozent, während die rechtsradikale Partei „Jobbik“ beinahe 21 Prozent erzielte. Als vierte Partei zog die grüne Partei „Politik kann anders sein“ (LMP) mit 5 Prozent der Stimmen in das „Haus des Landes“ am Donauufer ein.

Hinter diesen trockenen Zahlen steckt ein mehrjähriges, in einer Atmosphäre des politischen Hasses ausgetragenes Kräftemessen. Anno 2010 interpretierten Orbáns Jungdemokraten (Fidesz, KDNP) ihren damals haushohen Sieg als „Revolution in den Wahlkabinen“ und Anfang eines „Systems der nationalen Zusammenarbeit“. In der Praxis bedeutete dies, dass sie vier Jahre lang mit ihrer mehr als bequemen parlamentarischen Mehrheit unter vollständiger Ausschaltung der Opposition regieren konnten. Sie eroberten fast die ganze Medienlandschaft, beschränkten die Rechte des Verfassungsgerichts und unterwarfen den kulturellen Bereich ihrem Willen. Dieser Prozess lief eindeutig auf die Aushöhlung der demokratischen Institutionen und die Schaffung eines autoritären Herrschaftsmodells hinaus. Die geschlagene Sozialistische Partei (MSZP) zerfiel 2010 in rivalisierende Gruppen, der zivile Protest befand sich noch in den Anfängen. Der alleinige Störfaktor, mit dem die neue Macht rechnen musste, war die internationale Öffentlichkeit – der ehemalige Liebling des Westens, Ungarn, machte negative Schlagzeilen.

Groteskerweise verstand Orbáns Mannschaft, sich die ausländische Kritik an ihrer Politik selbst zunutze zu machen. Man sprach von einer internationalen Verschwörung gegen das Land und die westlichen Medien wurden zu Todfeinden „unserer Heimat“ abgestempelt. Oppositionelle, Philosophen und Künstler, die außerhalb des Landes auf die willkürliche Machtausübung  und rechtsradikale Gefahr aufmerksam machten, galten plötzlich als Volksfeinde und Landesverräter und wurden in manchen Fällen öffentlich angepöbelt, auf Internetseiten der regierungsnahen Presse waren sie obszönen Angriffen ausgeliefert. Besonders im Konflikt mit der EU und dem IWF wurde die nationale Karte ausgespielt. Man sprach von einem „wirtschaftlichen Freiheitskrieg“ und mobilisierte die historischen und sozialen Frustrationsgefühle für den Zusammenhalt des eigenen Lagers. Es schien, als wäre in diesen Jahren ein ideologischer Eiserner Vorhang zwischen Ungarn und dem Westen wiedererrichtet worden.

Dieser militante Nationalismus hat einen Anteil daran, dass die Rechtskonservativen – trotz der ziemlich bescheidenen Leistung ihrer Regierungszeit – erneut den Sieg davontrugen. Allerdings verloren sie zumindest sechshunderttausend Anhänger – enttäuschte Wähler vor allem aus der westungarischen Provinz, verarmte kleine Unternehmer, Arbeitslose, Rentner und junge Wähler, welche vor vier Jahren noch daran glaubten, dass sie eine energische Regierung nach der Korruption und Inkompetenz der früheren Kabinette vor dem Untergang retten wird. Allerdings stimmten viele von ihnen nicht für die Linke, sondern setzten ihre Hoffnungen auf die aufstrebenden Rechtsradikalen, die nun mit ihrem Erfolg landesweit erneut zur drittstärksten Kraft wurden und in einigen Wahlkreisen nicht nur die Linke, sondern auch Fidesz übertrafen. Der Aufstieg der Partei Jobbik ist gewiss die bedrückendste Tatsache der siebten freien demokratischen Wahlen seit der Wende.

Die Partei des Hobbyhistorikers Gábor Vona ist offen antisemitisch, rassistisch und europafeindlich. In ihrem Programm verspricht sie einerseits wirtschaftlich unbegründete soziale Besserungen und fordert gleichzeitig die „chemische Kastration von sexuellen Gewalttätern“, die Wiedereinführung der Todesstrafe sowie die Wiederherstellung der Vorkriegsgendarmerie „zur Bekämpfung der Zigeunerkriminalität“. Dass man mit einem derartigen Projekt fast eine Million Bürger anziehen kann, wobei solche „Ordnungsmache“ nicht allein von Jobbik-Wählern befürwortet wird, ist eine wirklich besorgniserregende mentale Diagnose für die ganze Gesellschaft.

Eine andere, wenig ermunternde Tatsache ist, dass die demokratischen Parteien offensichtlich außerstande waren, die zweifellos wachsende Unzufriedenheit mit der Politik Orbáns in einen eigenen Stimmengewinn umzusetzen. Dies betrifft nicht nur die nach Rechtsaußen abgedriftete Wählerschaft, sondern auch die fast 40 Prozent der Ferngebliebenen, die Passiven, welche offensichtlich keine Erwartungen mehr an irgendeine politische Kraft verknüpfen. Die mangelnde Absorptionsfähigkeit des linken Lagers lag an mehreren Faktoren. Die Zersplitterung und heftigen Schuldzuweisungen der Verlierer von 2010 dauerten allzu lange. Sie konnten erst kurz vor der Kampagne, und auch dann nur mit Ach und Krach, ein Wahlbündnis zusammenzimmern. Ihre internen Streitigkeiten führten Anfang 2013 zur Spaltung der an der Wahlkoalition unbeteiligten Ökopartei LMP, die zum zweiten Mal die Fünfprozenthürde übersprang. Es besteht die Gefahr, dass das erneute Fiasko der demokratischen Opposition wieder zu aussichtlosen und teilweise geschmacklosen Streitereien, zu einem Machtkampf der Machtlosen führen wird, anstatt zu einem gemeinsamen Nachdenken und der Ausarbeitung einer Alternative für die Wahlen in 2018.

Von den nächsten Parlamentswahlen sind wir zunächst scheinbar um Lichtjahre entfernt. Aktuell steht aber schon im Mai die Abstimmung um die Sitze des europäischen Parlaments bevor. Ein Durchbruch der demokratischen Opposition ist unwahrscheinlich. Das ist bedauernswert, weil eine stärkere Präsenz der demokratischen Opposition in Brüssel nicht nur den frischgebackenen Abgeordneten Vorteile gebracht, sondern auch die Stimme des europafreundlichen Ungarn gestärkt hätte. Im Oktober wiederum werden die Bürger in den Gemeinden an die Wahlurnen gebeten – eine neue Chance. Wichtiger als das zahlenmäßige Vorankommen wäre jetzt jedoch die Schaffung einer nüchternen, ruhigen Stimmung, ein gemeinsamer sozial- und demokratiepolitischer Vorstoß, welcher Wähler und Nichtwähler überzeugt und jenseits der Schützengräben zum Abbau der Hasskultur und zur Rückkehr normaler Zustände beiträgt, damit Ungarn seinen ursprünglichen Platz unter den jungen Demokratien zurückerhalten kann.