Sieg auf ganzer Linie? Die EU und ihre Skeptiker nach der Wahl

Podiumdiskussion: Sieg auf ganzer Linie? Die EU und ihre Skeptiker nach der Wahl
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V.l.n.r.: Ondřej Liška (Vorsitzender der Grünen Partei Tschechiens), Kai-Olaf Lang (Stiftung Wissenschaft und Politik), Ulrike Guérot (Open Society Foundation Europe), Volker Weichsel (Zeitschrift Osteuropa)

Europa hat gewählt. Wie erwartet konnten europaskeptische und populistische Parteien in zahlreichen Staaten beträchtliche Stimmenanteile erringen, etwa in den Niederlanden, Großbritannien oder Italien. Das erschreckendste Beispiel ist wahrscheinlich Frankreich, das seit jeher gemeinsam mit Deutschland der Motor der europäischen Integration war und in dem mit dem Front National nun eine EU-feindliche und rechtsextreme Partei stärkste Kraft wurde.

Wie ist der Wahlerfolg der europakritischen Parteien zu bewerten? Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede bestehen zwischen diesen Parteien? Wie gefährlich für den parlamentarischen Prozess könnten diese Kräfte im künftigen Europäischen Parlament werden?

Diesen Fragen gingen die Heinrich-Böll-Stiftung und die Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde (DGO) bei einer gemeinsam durchgeführten Podiumsdiskussion in Form einer Wahlnachlese am 28. Mai nach. Kai-Olaf Lang von der Stiftung Wissenschaft und Politik wies dabei auf die Tatsache hin, dass populistische Parteien dieses Mal vorwiegend in West- und weniger in Osteuropa erfolgreich waren, wie das bei vorangegangenen Wahlen meistens der Fall war. In Osteuropa zeige sich vielmehr das Aufkommen neuer, unkonventioneller Anti-Establishment-Parteien wie etwa der Partei Ano des tschechischen Finanzministers Andrej Babiš. Es bleibt Lang zufolge abzuwarten, wie sich diese neuen Kräfte in Zukunft entwickeln und was ihre Zielsetzungen sein werden. Insgesamt habe sich in Ost-, aber auch in West- und Südeuropa gezeigt, dass "brachialer Radikalismus" in Europa keine Chance mehr hat. Erfolgreicher sei das Modell, das im modernen, scheinbar gemäßigten Gewand daherkommt und versucht, in der bürgerlichen Mitte zu punkten, wie das beispielsweise Marine Le Pen in Frankreich gelungen ist.

Dieses Phänomen brachte Nils Minkmar in der FAZ jüngst mit dem Begriff "Camembert-Faschismus" auf den Punkt. Doch wie gefährlich diese modernisierten rechtsextremen Parteien wie der Front National in Frankreich oder die Partei von Gert Wilders in den Niederlanden tatsächlich sind, darauf wollten sich die Podiumsteilnehmer/innen noch nicht festlegen. Ulrike Guérot von der Open Society Initiative for Europe lenkte stattdessen den Blick auf die Wählerschaft und gab zu bedenken, dass die meisten Leute in Frankreich nicht den Front National wählten, weil sie rechtsradikal sind. Der Hauptgrund sei ihre Unzufriedenheit und ihr mangelnder Glaube daran, dass sie im heutigen Frankreich noch etwas erreichen können. In der Hoffnung, dass sich daran mit dem Front National vielleicht etwas ändert, seien diese Wählergruppen auch bereit, deren Rechtsextremismus und Ausländerfeindlichkeit zu akzeptieren. Vor diesem Hintergrund warnt Guérot davor, die Wählerinnen und Wähler populistischer Parteien zu stigmatisieren. Viele Populisten stellten durchaus die richtigen Fragen: Deregulierung, der Abbau sozialer Sicherungssysteme seien tatsächliche Probleme in Europa, die die EU wenn nicht primär vorantrieb, so doch zumindest beschleunigte. Allerdings seien die Antworten auf diese Probleme, die populistische Parteien anböten - allen voran den Rückzug ins Gehäuse des Nationalstaats, die falschen.

Dies fand die Unterstützung des noch amtierenden Vorsitzenden der tschechischen Grünen, Ondřej Liška. Er hält es für falsch, dass sich viele etablierte Parteien einer ernsthaften politischen Auseinandersetzung mit den Populisten verweigerten und sie stattdessen pauschal diskreditierten. Dies werde einerseits den zum Teil berechtigten Sorgen der Wählerinnen und Wähler nicht gerecht, die populistische Parteien geschickt aufgreifen. Zum anderen beraube man sich dadurch der Chance, die vereinfachten und unzureichenden Lösungsansätze der Populisten argumentativ zu entlarven. Jedoch warnt Liška auch davor, die Bedeutung der Wahlerfolge von Parteien wie UKIP in Großbritannien oder eben dem Front National überzubewerten, da es sehr wahrscheinlich aufgrund der zu unterschiedlichen Zielsetzungen dieser Parteien keine Zusammenarbeit auf europäischer Ebene geben werde. Eine große Koalition der Europagegner im Europäischen Parlament wird es wohl nicht geben.

Einig waren sich alle Diskutantinnen und Diskutanten in ihrer Sorge über die erneut niedrige Wahlbeteiligung von europaweit nur 43,1 Prozent. Zwar konnte der stete Abwärtstrend der Wahlbeteiligung seit der ersten Europawahl 1979 zum ersten Mal gestoppt werden – 2009 gingen sage und schreibe 0,1 Prozent weniger Leute zur Wahl als 2014. Doch insbesondere angesichts der Aufwertung des Europäischen Parlamentes durch den Lissabon-Vertrag, der dramatischen Situation in der Ukraine und nach mehreren Jahren Wirtschafts- und Finanzkrise in Europa, die die Bedeutung der europäischen Ebene eigentlich nachdrücklich deutlich gemacht haben sollte, kann dies nun wirklich nicht als Erfolg gewertet werden. Vielmehr liegt hier die große Gefahr für die Europäische Union, die vielleicht noch größer ist als die Bedrohung durch Populisten von rechts und links: die schweigende Mehrheit. Diese Mehrheit findet Europa im Prinzip gut, schätzt die offenen Grenzen und ist froh, bei Reisen in den Großteil der EU-Staaten kein Geld mehr wechseln zu müssen. Doch nimmt sie dies als mehr oder weniger selbstverständlich hin. An einen wirklichen Zusammenbruch der Europäischen Union und damit auch den Wegfall dieser Vorteile glaubt im Grunde niemand, weswegen man sich auch nicht für sie einsetzen muss. Dabei kann alles ganz schnell gehen: 2017 könnte zum wahren Schicksalsjahr der EU werden, wenn nämlich Großbritannien ein Referendum über seine EU-Zugehörigkeit abhält und in Frankreich ein neuer Präsident gewählt wird – beziehungsweise eine neue Präsidentin, die Marine Le Pen heißen könnte.

Bleibt zu hoffen, dass der EU nicht das gleiche Schicksal droht wie der Sowjetunion. Deren Untergang hing, wie Ivan Krastev vom Zentrum für liberale Strategie in Sofia einmal formulierte, nicht unwesentlich damit zusammen, dass sich bis zum Schluss niemand vorstellen konnte, dass er tatsächlich eintritt.

 

Audio: Podiumsdiskussion "Sieg auf ganzer Linie? Die EU und ihre Skeptikerinnen und Skeptiker nach der Wahl" vom 28. Mai 2014

 

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