Zwangsräumungen: Widerstand bei den Bewohnern

An diesem Ort war einst die Siedlung Campinho
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Gelände der ehemaligen Siedlung Campinho

Die Heinrich-Böll-Stiftung sprach mit Antonieta Rodriguês, ehemalige Bewohnerin von Campinho, einer Favela im Stadtteil Madureira im Norden Rio de Janeiros. Die Favela musste dem Bau der Schnellstraße Transcarioca weichen und wurde 2011 geräumt. Als eine derjenigen, die sich gegen die Zwangsräumungen und ungerechte Entschädigungen engagiert haben, hat sie zwar ihr Haus verloren, wohnt jedoch noch in derselben Gegend. Sie hatte sich geweigert, die Wohnung des staatlichen Sozialwohnungsprogramms "Mein Haus, Mein Leben" in Vila Cosmos in 60 Kilometern Entfernung vom Stadtzentrum anzunehmen. Das Gespräch mit Antonieta führten wir an dem Ort, an dem früher die Favela Campinho stand.

Erzählen Sie uns bitte, was mit Ihrer Favela passiert ist.

Wir haben erfahren, was los ist, als hier jemand auftauchte – wissen Sie, diese Jungen, die Zettel verteilen. Auf diesen Zetteln stand, dass in einer Favela hier irgendwo eine Versammlung stattfinden würde, dass da auch die CEDAE (staatliche Wasserwerke) kommen würde, um über den Abriss von Häusern zu sprechen. Da war dann schon die Rede davon, dass wir auf jeden Fall ausziehen müssten. Wir waren schon vorher beunruhigt, weil die Stadt angekündigt hatte, dass es hier eine Baustelle geben würde und dass sie uns registrieren würden, damit wir entschädigt werden könnten: "Ja, das wird hier passieren, aber es wird niemandem danach schlechter gehen." Das war 2009, wir sind zu dieser Versammlung gegangen, und da haben sie unsere Namen, Daten, Ausweisnummern, alles aufgeschrieben, und schon am nächsten Tag kamen Leute mit Namensschildern am Hemd, die uns erklärten: "Wir sind hier, um euch für ein Wohnungsprogramm zu registrieren."

Gab es bei Ihnen eine Bewohnervereinigung?

Ja, die gab es. Aber die Stadt hat sie nie akzeptiert.

Die Bewohnervereinigung ging zu den Versammlungen, wurde aber nicht angehört?

Angehört wurde sie schon, aber dann kamen auf einmal Vertreter der Stadtverwaltung und haben alle registriert. Als wir sie in unsere Häuser ließen, fotografierten sie alles. Es war ein Fehler, sie herein zu lassen. Danach haben sie direkt unsere Häuser markiert, wir verstanden nicht, wofür. Sie schrieben Symbole auf die Häuser: SMH (für Secretaria Municipal de Habitação, städtische Wohnungsbehörde) und Zahlen 1,2,3... Als wir fragten, was mit uns passieren würde, sagten sie, wir müssten in die Vila Cosmos ziehen, in die Neubausiedlung von "Minha Casa, Minha Vida" ("Mein Haus, mein Leben" ist ein staatliches Sozialwohnungsbauprogramm).

 

Antonieta Rodriguês, hier mit ihrer Tochter, wurde zum Symbol des Widerstands, als Rio von Zwangsräumungen getroffen wurde

 

Wie viele Familien lebten in der Favela?

Ungefähr 60 Familien, etwa 300 Menschen insgesamt. Alle haben ihre Häuser verloren. Es ist irgendwie absurd, irgendwie echt unglaublich. Eine von den Bewohnerinnen hatte Alzheimer, ich weiß, dass sich die Krankheit wegen der ganzen Sache verschlimmert hat.

Wie hat sich der Widerstand der Bevölkerung ab 2009 entwickelt?

Als wir anfingen, zum Zentrum für Grundstücke (und Wohnen) der Defensoria Pública (eine Art Staatsanwaltschaft für schutzwürdige Gruppen) zu gehen, lernten wir dort Leute kennen, die schon zwangsgeräumt worden waren.

Sie waren aus anderen Favelas?

Ja, und sie gaben uns ganz klare Ratschläge: "Also, die Entscheidungen trefft am Ende ihr, aber ihr müsst zum Zentrum für Grundstücke und Wohnen gehen, damit euch jemand während des ganzen Ablaufs berät." Dort haben wir viele andere Menschen in der gleichen Situation getroffen. Wir wurden dann von einem Staatsanwalt beraten, der uns nach unseren Wünschen fragte und uns unsere Rechte erklärte. Er erklärte uns auch, dass die Stadt ebenfalls Rechte hat. Das öffentliche Interesse steht über dem privaten, aber nur, wenn man uns dabei anständig behandelt. Sie dürfen uns sogar das Haus wegnehmen, aber sie dürfen uns nicht auf die Straße setzen. Wir haben uns dann nach und nach besser informiert und uns mit anderen Gruppen getroffen.

Und wie liefen die Entschädigungen ab?

Der damalige Bezirksleiter kam mit einem Zettel zu uns, auf dem stand, dass wir alle nach Cosmos ziehen müssten. Wir sollten das unterschreiben, aber das war bloß so ein Zettel, da war noch nicht einmal irgendein Stempel drauf. So kam der bei uns an, um uns wirklich einzuschüchtern, immer mit etwas neuem.

War das ein Vertrag?

Nein, nur ein Papier auf dem stand, dass wir nach Cosmos müssen, dass dort schon Häuser für uns bereit stehen würden und dass die Stadt nichts zahlen würde. So ganz ohne Briefkopf oder so, verstehen Sie? Da haben wir uns geweigert. Aber einige waren aus Angst schon gegangen.

Also waren schon Bewohner dort hingezogen?

Ja. Gleich am Anfang der ganzen Geschichte sind dreißig Familien gegangen. Ich glaube 2010 oder 2011. Bevor die Häuser abgerissen wurden, gingen die ersten Bewohner. Die Mitarbeiter von der Stadt kamen immer plötzlich, waren dann sechs Monate nicht zu sehen und dann wieder da. Und keiner erklärte irgend etwas.

Niemand hatte genaue Informationen?

Im Dezember 2010 hatten sie angekündigt, mit dem Abriss anzufangen. "Aber wenn ihr die Häuser abreißt – wo sollen wir denn dann hin?", fragten wir damals. "Nach Cosmos", hieß es dann immer. Dann fing die Stadt an, ihre Leute in der Favela einzuschleusen. Die fanden heraus, wer stark und wer schwach war, und dann brachten sie die Menschen gegeneinander auf. Vorher waren die Leute im gemeinsamen Widerstand vereint, aber dann hörten sie plötzlich auf, miteinander zu reden. Die Gemeinschaft war gespalten, und so konnten sie einen Teil der Menschen weglocken. Da passierten dann solche Sachen wie zum Beispiel, dass zwei Menschen, die sich hier ein Haus teilen, aber nicht verwandt sind, dort in Cosmos zwei verschiedene Wohnungen angeboten bekamen. Das war dann natürlich verlockend. In manchen Fällen wurden in Cosmos drei, vier Wohnungen für ein Haus hier angeboten. Die Leute gingen dann, weil sie dachten, dadurch einen Vorteil zu haben. Ganz zu schweigen von der Geschichte des Ehepaares Dona Hilda und Senhor Tião. Die hatten schon seit vierzig Jahren hier gewohnt. Eines Abends wurden sie informiert, dass ihr Haus am nächsten Morgen abgerissen würde. Wir konnten alle nicht schlafen.

Das geschah abends?

Um acht Uhr abends. Keiner konnte schlafen. Alles sagten: "Senhor Tião, wir werden nicht zulassen, dass die ihr Haus abreißen." Wissen Sie, was die dann gemacht haben? Den Strom und das Wasser abgestellt. Senhor Tião hat es mit dem Herzen, er musste ins Krankenhaus gebracht werden. Als sie wiederkamen, saßen sie dann im Dunkeln und hatten kein Wasser. Aber dann wurden die Menschen von der katholischen Favela-Hilfegruppe gerufen, und auch viele andere kamen. Wer uns sehr geholfen hat, sind die Leute von der staatlichen Universität UFRJ und der Orlando (Junior) und sein Team. Und auch noch andere Gruppen. Dona Hilde und Senhor Tião lebten zwar hier in der Favela, aber sie haben gebildete Verwandte, Anwälte und so etwas. Eine ihrer Nichten kam hierher und sagte: "Nein mein Onkel und meine Tante werden nicht von hier weggehen." Und sie hat dann angefangen mit einem dieser Typen zu verhandeln. Der allerdings war der Meinung, das Senhor Tião schon entschädigt worden wäre. Er war mit seinem Trupp dort, um das Haus abzureißen. Die Nichte sagte: "Nein, Ihr könnt das nicht machen, er liebt das hier. Und nein, wir haben keine Entschädigung bekommen." Der Typ fragte: "Wie jetzt – er hat keine Entschädigung bekommen?" Und er rief dann eine ganze Reihe anderer Leute von der Stadt an: "Aber wie könnt Ihr denn einen Trupp hierher schicken, um Senor Tiãos Haus abzureißen, ohne dass ihr irgendetwas zahlt? Wie kann das sein?" Ich glaube, viele haben ihr Geld direkt beim Abriss bekommen. Sie kamen immer nachts, um unsere Häuser zum Abriss zu markieren. Damals schlief ich schon gar nicht mehr hier, sondern bei meiner Schwester. Denn außer mir waren alle in meinem Haus schon nach Cosmos gezogen, ich war dort allein. Und das schien mir ziemlich gefährlich.

Hatten Sie Angst?

Es kamen damals viele Crack-Junkies hierher. Man musste schnell vorbeihuschen. Alles war zugemüllt von Schutt und alten Rohren der abgerissenen Häuser, Ratten liefen herum. Es war ziemlich gefährlich und düster. Der Schutt wurde absichtlich nicht weggeräumt. Wir sollten mürbe gemacht werden. Als dann unsere Häuser dran waren, haben wir uns mit anderen zusammen getan, die das schon erlebt hatten. Wir haben uns gewehrt: "Nein, wir werden die Straße sperren." Wir haben friedlich demonstriert, um angehört zu werden. Wir wollten die Entschädigungen verhandeln, und wir wollten nicht nach Cosmos. Wir hatten Spruchbänder wie etwa: "Transcarioca transportiert Chaos nach Campino." Das hat dann etwas bewirkt. Als der Bürgermeister mit seiner ganzen Mannschaft herkam, um der Welt die Baustelle zu zeigen, wollten wir wieder demonstrieren. Sein Bezirksleiter, Andre Santos, kündigte aber an, dass der Bürgermeister mit uns reden und uns entschädigen würde.  Damit wurde unserem Protest der Wind aus den Segeln genommen. Genau dann aber wäre der richtige Moment gewesen, um zu demonstrieren – als alle hier waren.

Welche Rolle spielen die Frauen bei diesem Widerstand?

Die Frauen spielen eine sehr wichtige Rolle. Sie sind bei den Versammlungen in der Überzahl, und sie geben nicht leicht auf. Ich glaube Frauen sind auch geschickter im Umgang mit diesen Situationen.

Anmerkung: Die Forderung der Bewohner der Favela Campinho war, innerhalb derselben Gegend umgesiedelt zu werden bzw. eine angemessene Entschädigungen zu bekommen, die für ein neues Haus ausreichen würde. Als der Prozess von Entschädigungen, Räumungen und Abriss der Häuser bereits abgeschlossen war, empfahlen die Berichterstatter der Plattform Dhesca, trotzdem die Fälle zu prüfen und gegebenenfalls Entschädigungen für materielle und seelische Schäden an die Bewohner zu zahlen. Antonieta und die anderen der Gruppe, die sich weigerten nach Cosmos zu ziehen, haben Entschädigungen erhalten. Heute lebt sie nicht weit entfernt von ihrem früheren Haus.

Videotipp: Der Clip "Training activists to use video to fight forced evictions" der NGO Witness gibt Aktivist/innen in Rio Tipps, wie sie mit eigenen Filmbeiträgen den Protest gegen Zwangsräumungen unterstützen können. Antonieta Rodriguês ist darin ebenfalls zu sehen.