Nadeshda Tolokonnikowa, Marija Aljochina und Juri Andruchowytsch sind Hannah-Arendt-Preisträger 2014

Der Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken, der von der Stadt Bremen und der Heinrich Böll Stiftung vergeben wird, ist 2014 mit 10.000 Euro dotiert. Er wird an Personen verliehen, die in ihrem Wirken mutig das „Wagnis Öffentlichkeit“ angenommen haben. Der Preis wird am 5. Dezember 2014 im Bremer Rathaus überreicht.

Begründung der Jury

Die Jury des Hannah-Arendt-Preises für politisches Denken hat sich entschieden, den Preis in diesem Jahr jeweils zur Hälfte an den ukrainischen Lyriker, Essayisten, Romanautor, Übersetzer und Theatermacher Juri Andruchowytsch und an die russischen Aktionskünstlerinnen Nadeshda Tolokonnikowa und Marija Aljochina (ehemals Teil  von „Pussy Riot“) zu vergeben. Die Preisträgerinnen und der Preisträger leben und arbeiten im postimperialen Raum der aufgelösten Sowjetunion und wenden sich gegen den Versuch, in der Ukraine und in Russland alte Herrschaftsverhältnisse wiederherzustellen und die politischen Freiheiten abzuschaffen. Dabei sind freilich die Bedingungen in der unabhängigen Ukraine andere als in Russland, das unter Putin dabei ist, in die Fußstapfen der vorangegangenen zaristischen und sowjetischen Gewaltregime zu treten.

Juri Andruchowytsch ist seit Jahren eine wichtige literarische Stimme der demokratischen Bewegung der Ukraine, die 2004 in die „orangene Revolution“ überging. 2014, nach der gewaltsamen Zerschlagung der gesellschaftlichen Proteste gegen die Weigerung des damaligen Präsidenten Janukowytsch, das über Jahre ausgehandelte Assoziationsabkommen mit der EU zu unterzeichnen, mündete die Bewegung abermals in eine monatelange Besetzung des Maidan. Andruchowytsch ist ein Schriftsteller in der Tradition der Einmischung in die öffentlichen Angelegenheiten. In seinen Büchern erzählt er von den vielfältigen Kulturen Mitteleuropas. In diesem Jahr erschien die von ihm herausgegebene Textsammlung „Euromaidan. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht“. Mit der Verleihung des Preises an Andruchowytsch drückt die Jury zugleich ihre Achtung für die Mitstreiterinnen und Mitstreiter einer unabhängigen und demokratischen Ukraine aus. Der Preis soll auch eine Ermutigung sein, denn der Streit um die Erringung der Freiheit ist nicht vorbei.

Die Aktionskünstlerinnen von Pussy Riot trugen auf dem Höhepunkt der Demonstrationen gegen die Wiederwahl Putins als weiteren Schritt einer autoritären Wende den Widerstand ins geistige Zentrum des neuen großrussischen Machtgebildes. Bei ihrem Auftritt in der Moskauer Erlöserkathedrale riefen sie in ihrem „Punkgebet“ Mutter Maria als feministischen Beistand an, um das Bündnis zwischen der orthodoxen Kirche und dem Kreml zu bekämpfen. Die staatliche Reaktion erfolgte sofort: Verurteilung zu Straflager und Zwangsarbeit.

In dem Prozess, der gegen die Aktionsgruppe geführt wurde, verteidigten sie sich mutig. Aus der Lagerhaft heraus setzten Nadeshda Tolokonnikowa und Marija Aljochina ihren Widerstand fort. Nach ihrer Entlassung stellten sie sich als Aufgabe, über das System der russischen Straflager aufzuklären und Solidarität für die Gefangenen zu organisieren. Mit den mutigen Aktionskünstlerinnen möchte die Jury auch all jene würdigen, die trotz Verfolgung an ihrem Widerstand gegen die reaktionäre Wende in Russland festhalten.

Der Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken will ein Denken ermutigen, das in politisches Handeln mündet. Die Verknüpfung von politischem Denken und politischem Handeln ist die öffentliche Rede. Als öffentliche Rede verstehen wir die Aktionskunst von Pussy Riot nicht weniger als die Essays, Bücher und Romane von Juri Andruchowytsch. Wir denken, es ist eine gute Idee, den ukrainischen Schriftsteller und die russischen Aktionskünstlerinnen gemeinsam auszuzeichnen. Im Verständnis der Jury knüpfen sie an Hannah Arendts Werk und Leben an. 

 

Über die Preisträger

Nadeshda Andrejewna Tolokonnikowa, (7. November 1989) stammt aus Sibirien, studierte in Moskau Philosophie und lernte dort ihren späteren Mann Pjotr Wersilow kennen. Gemeinsam waren sie Mitbegründer der Künstlergruppe „Woina“ (Krieg), die mit Straßenkunst politische Provokation betrieb und durch Protestaktionen gegen die Staatsmacht bekannt wurde.

Marija Wladimirowna Aljochina (6. Juni 1988) studierte in Moskau Journalistik, engagierte sich für Umweltprojekte und psychisch kranke Kinder.

Juri Andruchowytsch (13. März 1960) ist Schriftsteller, Dichter, Essayist, Aktionskünstler und Übersetzer. Er ist eine der wichtigsten kulturellen und intellektuellen Stimmen der Ukraine. Andruchowytschs Werke sind international übersetzt und verlegt.

 

Jury:

  • Prof. Antonia Grunenberg (Berlin/Oldenburg)
  • Prof. Otto Kallscheuer (Sassari/Osnabrück)
  • Marie Luise Knott (Berlin)
  • Dr. Willfried Maier (Hamburg)
  • Prof. Karol Sauerland (Warschau)
  • Joscha Schmierer (Berlin)
  • Prof. Christina Thürmer-Rohr (Berlin)

 

Kontakt:
Bildungswerk Umwelt und Kultur in der Heinrich Böll Stiftung,

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