Verteidigung der Moderne: Eine Replik auf Peter Sloterdijk

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Nicht die üblichen Verdächtigen sieht Sloterdijk als Movens der westlichen Zivilisation, sondern die "genealogische Frage": die Spannung zwischen Erbe und Generationenbruch

Peter Sloterdijk hat ein neues Buch geschrieben, in dem Menschen nur als Passagiere einer Megamaschine vorkommen, die sich ihrer Steuerung längst entzogen hat. Anstatt die Moderne zu verteufeln, sollten wir wieder an verloren geglaubte Fähigkeiten anknüpfen.

Peter Sloterdijk, Philosoph und zeitdiagnostischer Großmeister aus Karlsruhe, gibt mit seinem neuen Buch "Die schrecklichen Kinder der Neuzeit" dem fortschrittskritischen Zeitgeist eine Stimme. Nun ist die Botschaft, dass die Moderne aus den Fugen geraten ist und einem schlimmen Ende entgegenstürzt, alles andere als originell. Was Sloterdijk von anderen Zivilisationskritikern abhebt, ist sein Erklärungsmuster für den permanenten Tumult, der die Neuzeit als ein Zeitalter beschleunigten Wandels kennzeichnet. Nicht die üblichen Verdächtigen – das Kapital, die wissenschaftlich-technische Revolution, den Kampf um soziale und politische Emanzipation – sieht er als Movens der westlichen Zivilisation, sondern die "genealogische Frage": die Spannung zwischen Erbe und Generationenbruch. Erbe steht für die Weitergabe tradierter Werte, Sitten, Lebensformen; Generationenbruch für Verweigerung, Autonomie, Revolte, Neuanfang.

Während der allergrößte Teil der menschlichen Entwicklungsgeschichte unter dem Vorzeichen der Bewahrung der überkommenen Ordnung stand, zeichnet sich die Moderne per definitionem durch Flucht aus der Tradition aus: das Neue ist das Bessere, das Alte wird zum Rückständigen. Die Partei des Fortschritts triumphiert über die Partei der Bewahrung. Es sind die "schrecklichen Kinder" ihrer Epoche, die als Verweigerer des Erbes und Agenten des Umsturzes hervortreten. Bis zum Beginn der Neuzeit treten solche Individuen eher vereinzelt auf, danach in Massen, bis sie (folgt man Sloterdijk) in den zeitgenössischen westlichen Gesellschaften zum vorherrschenden Sozialisationstypus werden: Menschen ohne Schatten, die sich nicht als Fortsetzer familiärer Generationenketten und kultureller Traditionen empfinden, sondern als "ungebunden" im tieferen Sinn des Wortes.

Eine Abfolge von Katastrophen?

Sloterdijk sieht im aktuellen Gesellschaftspersonal Nietzsches Vision vom "letzten Menschen" verwirklicht: lauter "Endverbraucher" von Gütern und sozialen Beziehungen, die den gesellschaftlichen Reichtum ausmachen. Ihre Zukunftsverweigerung kulminiert in der Fortpflanzungsverweigerung, dem Sinken der Geburtenrate unter die Rate der gesellschaftlichen Reproduktion ("Schrumpfvergreisung"). Als Orakel dienen ausgerechnet zwei Damen des 18. Jahrhunderts: Madame de Pompadour, die Maitresse Ludwigs des XV., die mit ihrem berühmt-berüchtigten Ausruf "après nous, le déluge" (nach uns die Sintflut) die Götterdämmerung des aristokratischen Zeitalters antizipierte, und Laetitia Ramolino, Napoleons Mutter, die den abenteuerlichen Aufstieg ihres Sohnes mit der Bemerkung "pourvu que cela dure" quittierte: Wenn das nur auf Dauer gut geht.

Die Damen sprechen Sloterdijk aus dem Herzen. Zwar rafft er sich in seiner Schlussbetrachtung zu einem Rest an Zukunftsoffenheit auf, jedoch der Grundton seiner Geschichtsbetrachtungen ist zutiefst skeptisch. Der Begriffsakrobat Sloterdijk ist ein Kulturkonservativer. Fortschritt gibt es nur in Anführungszeichen – als Voranschreiten Richtung Abgrund. Der Rückblick auf die Epoche, die von der französischen Revolution eingeläutet wurde, erscheint als einzige Abfolge von Katastrophen. Das war sie auch. Aber hinter den Schrecken der totalitären Regime, der Blutspur des Terrors und der Verheerungen der Kriege, die Europa seither verwüsteten, verschwindet ein anderes Bild: das eines atemberaubenden sozialen Aufstiegs und einer fortschreitenden politischen Emanzipation, die mit der Moderne einhergehen.

Eigendynamik der Emanzipation

Nicht nur die globale Wirtschaftsleistung ist seither geradezu explodiert: Seit 1800 wuchs die Weltbevölkerung von rund einer Milliarde auf sieben Milliarden, gleichzeitig hat sich die durchschnittliche Lebenserwartung glatt verdoppelt, der Lebensstandard der arbeitenden Klassen der Industrieländer stieg in nie geahnte Höhen, das durchschnittliche Bildungsniveau ist hoch wie nie, ebenso das Rentenniveau. Vergleichbares lässt sich auch hinsichtlich des Stands rechtlicher Gleichstellung und kultureller Vielfalt sagen. Dieser zivilisatorische Fortschritt ist nicht auf Europa und die USA beschränkt. Die Zahl der bitterarmen Menschen auf der Welt ist absolut und relativ gesunken, ebenso die Kindersterblichkeit und der Analphabetismus, während die Mittelschicht in den aufstrebenden Ländern Asiens, Lateinamerikas und Afrikas rasch wächst. Heißt das, alles sei in bester Ordnung? Natürlich nicht. Eine erschreckend große Zahl von Menschen lebt immer noch in erbärmlichen Verhältnissen: Hunger, Gewalt, Kampf ums Überleben. Es macht aber einen entscheidenden Unterschied, ob man die Geschichte der Moderne als Verhängnis oder als von Krisen und Rückschlägen begleiteten Fortschritt beschreibt.

Auch bei Sloterdijk blitzt immer wieder auf, dass die Moderne ein emanzipatorisches Projekt ist: ein Prozess fortschreitender politischer und sozialer Teilhabe immer neuer und größerer gesellschaftlicher Gruppen. Entgegen der gängigen Meinung, wir hätten es mit immer neuen Formen von Ausschließung zu tun, arbeitet er heraus, dass mit der französischen Revolution eine Dynamik zunehmender Inklusion begonnen hat: dem Aufstieg des Dritten Stands (der Bourgeoisie) folgte die Befreiung der Sklaven, die Emanzipation der Arbeiterschaft, der Frauen, der Kolonien. Die Proklamation der Menschenrechte und die normativen Ideen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wuchsen ihren Autoren über den Kopf, sie entwickelten eine Eigendynamik, die vor nichts und niemandem halt macht. Sloterdijk nennt die Moderne deshalb das "Zeitalter der Reklamationen", dessen Ende nicht absehbar ist. Tatsächlich wachsen nicht nur die materiellen Bedürfnisse mit den Möglichkeiten ihrer Befriedigung; auch das Einfordern von Rechten, Chancen, Optionen auf selbstbestimmte Lebensführung scheint keine Grenzen zu kennen.

Einhegung der Gewalt

Sloterdijks Schlüsselbegriffe für die Moderne sind "Freisetzung" und "Entgrenzung" in vielfacher Dimension: kulturell, ökonomisch, politisch. In der Tendenz sieht er das als Verhängnis. Die Auflösung tradierter Ordnungen, die von Generation zu Generation weitergereicht wurden, führe zu einer Zunahme sozialer Entropie. In Anlehnung an den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik konstruiert er einen "zivilisationsdynamischen Hauptsatz", den er als Grundmuster hinter dem Wandel der Zeiten erkennen will: es werden ständig mehr soziale Energien freigesetzt, als "unter Formen überlieferungsfähiger Zivilisierung gebunden werden können" – mehr Ambitionen, Wünsche, Teilhabeforderungen, existenzielle Optionen, Empörungspotenzial, einklagbare Rechte, erotisches Begehren, aber auch mehr Kredite, Emissionen und sonstige Altlasten aller Art, die den kommenden Generationen aufgebürdet werden. Kurz: die Problemakkumulation übersteigt fortwährend die Fähigkeiten der Problemlösung, die entbundenen sozialen Energien die "Leistungsfähigkeit kultivierender Bindekräfte."

Zu den fatalen Folgen dieser Selbstentfesselung gehört die Freisetzung exzessiver Gewalt, die Sloterdijk der Moderne zuordnet. In diesem Licht erscheint die französische Revolution als Mutter allen Unheils, das über Europa hereinbrechen sollte. Sloterdijk sieht in ihr eine neue "Allianz zwischen dem Menschlichen und dem Infernalischen". Freiheit und Terror sind ihm nur zwei Seiten einer Medaille: "Menschen agieren nie besessener, als wenn sie vom Bewusstsein ihrer Freiheit erfüllt sind". Waren aber die sittenstrengen, traditionsverwurzelten, religiös durchtränkten Gesellschaften alter (und neuer!) Zeit weniger bösartig, weniger grausam, weniger blutig? Kannten sie keine Schauprozesse, Folter, Pogrome, keine Verwüstung ganzer Landstriche, keine Massaker an Frauen und Kindern? Hatten sie größere Ehrfurcht vor dem Leben? Eher verhält es sich umgekehrt: Menschenrechte und Völkerrecht sind eine moderne Idee. Es spricht einiges für die entgegengesetzte Lesart: die Moderne als eine Ära der schrittweisen Einhegung willkürlicher Gewalt, im gesellschaftlichen Alltag wie im Verkehr zwischen Staaten.

Politik als Steuerungsinstanz

Was auf die Vernichtungsorgien des ersten und zweiten Weltkriegs folgte, waren Anläufe, ihre Wiederholung durch die Etablierung rechtlicher Normen und supranationaler Institutionen zu verhindern – bis hin zur Anerkennung der "Responsibility to Protect" (Schutzverantwortung) als Gebot des Völkerrechts. Dass diese Vorkehrungen alles andere als eine sturmfeste Garantie für ein "nie wieder" bedeuten, steht auf einem anderen Blatt. Der Prozess der Zivilisierung bleibt immer von Rückfällen in Barbarei bedroht.

Die Bewegungsrichtung der Moderne ist für Sloterdijk ein "chronisches Nach-vorne-Stürzen, das sich als Tat, Projekt und planvolles Handeln camoufliert." Das gilt nicht zuletzt für die kapitalistische Ökonomie, den "Weltinnenraum des Kapitals", der auf den ganzen Erdball ausgreift. Es ist das Grundgefühl der großen "Drift", das Sloterdijk artikuliert: wir sind Passagiere einer Megamaschine, die sich längst unserer Steuerung entzogen hat. Tatsächlich lautet eine zentrale Herausforderung moderner Gesellschaften, wie sie ihre Steuerungskapazität gegenüber dem rasenden Selbstlauf der ökonomisch-technischen Dynamik stärken und den Innovationsprozess in nachhaltige Bahnen lenken können. Ein Schlüssel dafür ist die Verlängerung des Horizonts der politischen und wirtschaftlichen Akteure vom kurzfristigen Gewinn (Wahlerfolge, Rendite) auf die mittlere und lange Frist. Hier kommt die Politik als Steuerungsinstanz ins Spiel: Regulierung heißt, der Autodynamik der Märkte Steuerruder einzubauen und Zügel anzulegen.

Was für Sloterdijk im Zentrum der Probleme steht: Freiheit und Gleichheit als Leitwert der Moderne, ist der Schlüssel zu ihrer Lösung. Worauf es ankommt, ist die Rückbesinnung auf die Fähigkeit der Moderne, selbst erzeugte Krisen mit den Mitteln der Demokratie und der Wissenschaft bewältigen zu können. Das mag für Sloterdijk unter die Rubrik "politische Tagträume" fallen. Eine bessere Antwort steht auch nach seinem letzten Werk noch aus.

Dieser Text erschien zuerst in "Die Welt", am 13.8.2014.

Die Langfassung der Buchbesprechung: Verteidigung der Moderne - eine Replik auf Peter Sloterdijk (pdf)