„Sind die Politiker modern eingestellt, wird auch die Politik modern“

Faramarz Tamana

Dr. Faramarz Tamana ist Leiter der Abteilung für Strategische Studien im afghanischen Außenministerium. Außerdem steht er dem Afghanistan Institute of Higher Education vor und unterrichtet das Fach Internationale Beziehungen.

Wie würden Sie sich selbst beschreiben?

Als jemand, der immer auf dem Laufenden bleiben möchte, was aktuelle Debatten und neue Ideen angeht. Ich liebe Afghanistan und möchte dazu beitragen, dass sich unser Land entwickelt.

Wie kamen Sie zur Politik?

Aus zwei Gründen: Zum einen wollte ich immer dazu beitragen, dass unser Land besser regiert wird. Zum anderen arbeitete mein Bruder in unserer Botschaft in Teheran. Manchmal habe ich ihn dort besucht und war jedes Mal davon beeindruckt, wie professionell und diszipliniert unsere Diplomaten waren.

Wie würden Sie definieren, was „moderne Politik“ ausmacht?

Das sind eine Reihe von Dingen. Zuerst einmal geht es darum, dass man eine moderne Weltsicht hat. Anders gesagt, sind die Politiker modern eingestellt, wird auch die Politik modern. Dann ist Politik auch auf moderne Mittel angewiesen – so wie jeder andere Bereich. Zudem müssen Dinge, die mit Politik nichts zu tun haben, von ihr getrennt werden. Und schließlich kann man moderne Politik dadurch definieren, dass sie über traditionelle Politik hinauswächst, und es den Menschen ermöglicht, in einer Welt, die sich verändert, zurechtzukommen.

Welche Rolle sollten junge Politiker in Afghanistan spielen?

Afghanistan braucht, um sich entwickeln zu können, unbedingt eine neue politische Generation. Das Land wird sich nicht merklich entwickeln, es sei denn, junge Menschen nehmen das Steuer in die Hand. Wir brauchen eine Generation, die modern denkt – auf eine Art, die den Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gerecht wird.

Ist Afghanistans Gesellschaft und Kultur bereit für eine neue Generation junger Politiker?

Leider werden jungen Politikern zu wenige Chancen gegeben, und nur selten sind sie an wichtigen Entscheidungen beteiligt. Unsere Spitzenpolitiker haben einen Großteil ihres Lebens unter chaotischen Verhältnissen und im Krieg verbracht, und an die Macht gekommen sind sie erst nach dem 11. September, mit dem Beginn einer neuen Zeit. Das bedeutet, ihre Ziele haben sie erst spät im Leben erreicht. Entsprechend spielen die jungen Leute heute höchstens die zweite Geige. In den vergangenen zehn Jahren gab es aber sehr gute Bildungsangebote für junge Menschen. Im Außenministerium arbeiteten zum Beispiel viele Leute, die nur einen Sekundarschulabschluss hatten. Viele von ihnen bekamen die Chance, ins Ausland zu gehen, und dort einen Magister zu machen. Im Jahr 2013 haben die ersten Schüler, die nach dem Sturz der Taliban eingeschult wurden, ihren Abschluss gemacht, und im Jahr 2017 werden sie ihren Bachelor haben. In den Folgejahren werden mehr und mehr wichtige Positionen mit jungen Menschen besetzt werden.

Denken Sie, afghanische Politiker handeln im Einklang mit demokratischen Wertvorstellungen?

Bei uns gibt es große Widersprüche – was für ein Drittweltland auch meist die Regel ist. Der größte Widerspruch besteht zwischen dem, woran wir glauben, und unserer Persönlichkeitsstruktur. Soll heißen: Das, was wir tun, unterscheidet sich oft grundlegend von dem, was wir nach außen hin vertreten. Es gibt sogar Leute, die Demokratietheorie unterrichten und dennoch, ihrer Persönlichkeit nach, totalitär sind. An die Demokratie zu glauben ist etwas ganz anderes, als über sie zu sprechen. Die Zahl jener, deren Taten im Einklang mit ihren Worten stehen, ist sehr niedrig. Die meisten Menschen halten Demokratie für etwas, das nach Afghanistan importiert wurde. Demokratie ist eher eine oberflächliche Modeerscheinung als ein Prinzip dementsprechend man regiert. Demokratie kann man den Leuten nicht einfach einimpfen, mit Demokratie muss man groß werden. Die meisten Menschen erlernen Demokratie und demokratisches Verhalten von ihren Eltern. Die afghanische Generation, die nach 2001 kam, unterscheidet sich sehr von ihren Vorgängern, da sie in einem vergleichsweise demokratischen Umfeld aufwuchs – und selbst entsprechend demokratisch eingestellt ist. Jene hingegen, die bereits 15, 20 oder 30 waren als Afghanistan eine Demokratie wurde, sind oft nur nominelle Demokraten. Damit die Demokratie in Afghanistan wahrlich institutionalisiert wird, brauchen wir deshalb für zehn weitere Jahre stabile Verhältnisse.

Was sind die Perspektiven für moderne Politik und junge Politiker in Afghanistan?

Ab dem Jahr 2017 werden junge Leute in der Politik eine wahrscheinlich zunehmend bedeutende Rolle spielen, denn dann werden etwa 60 Prozent aller Wähler jung sein. Insgesamt wird der Anteil gebildeter Menschen in Spitzenpositionen deutlich zunehmen. Eine Sorge treibt mich allerdings um: Zu viele junge Leute studieren heute Geistes- und Sozialwissenschaften. In einem Land, dass seine Infrastruktur wieder aufbauen und weiter entwickeln muss, ist das bedenklich, und ein derartiges Ungleichgewicht könnte sehr gut der weiteren Entwicklung unseres Landes im Wege stehen.

Gibt es an den afghanischen Universitäten Angebote, eine moderne Politik zu entwickeln?

Kaum. Moderne Politik muss vor allem professionell sein. Wie viele afghanische Politiker haben Politikwissenschaften studiert? Wie ernst ist es ihnen damit, professionell zu arbeiten? Und wie viele unserer Gesetzgeber haben Jura studiert? Ich will damit nicht sagen, dass sie allesamt Rechtsgelehrte sein sollten, denn wir benötigen Experten sämtlicher Fachrichtungen. Einige afghanische Unis bieten einen Magisterstudiengang in Internationalen Beziehungen an, aber die Dozenten dort sind meist kaum qualifiziert und oft fachfremd. Wie soll man Internationale Beziehungen studieren, wenn der Dozent nur einen Abschluss in Soziologie hat? Ich glaube auch, der Versuch, das Bildungswesen in einen Geschäftsbetrieb zu verwandeln, ist verfehlt und schadet der Beziehung zwischen Bildung und Politik.

Wie ist es in den Bereichen Politik und Politikmanagement um die Chancengleichheit bestellt?

Schon die Chancen an sich sind sehr gering. In großen Städten wie Kabul, Mazar-i Sharif und Herat mag es etwas besser aussehen, aber überall sonst gibt es so gut wie nichts. Afghanistan ist in sozialer und politischer Hinsicht nach wie vor sehr rückständig.

Wie glauben sie, wird die Entwicklung in den nächsten zehn Jahren verlaufen?

Fast drei Jahrzehnte lang war Afghanistan ein sehr rückständiges Land. Teils war das die Schuld von Afghanen, teils lag es an unseren Nachbarn und anderen Staaten. In den vergangenen dreizehn Jahren ist es aber gelungen viele soziale, wirtschaftliche und politische Beziehungen zum Rest der Welt wiederaufzubauen. Das hat zu einem gewissen Maß an Entwicklung geführt. Die Region braucht uns, und die jüngere Generation hat das Potential, uns voranzubringen. Entsprechend glaube ich nicht, dass es in Afghanistan zu einem Rückfall in vergangene Zeiten kommen wird.