Empört euch nicht

Ich bin so wütend, ich habe sogar ein Schild dabei
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Jeder Empörte braucht einen Marktplatz - und der ist heute vor allem im Netz

Mit dem Schriftstellerclub gegen die Buchpreisbindung, mit Campact gegen TTIP, mit den Überwachungskritkern gegen die NSA: Eine möglichst aufgeregte Meinung gehört mittlerweile zu jedem guten Staatsbürger. Dabei führt sie bei Fragen der Macht nur ins Leere. Eine Kolumne von Jochen Schimmang.

Der Philosoph Hegel, den ich nicht besonders mag – vielleicht, weil ich in früheren Zeiten ihm und seinen Nachfolgern eine Weile zu bereitwillig gefolgt bin –, der Philosoph Hegel also hat doch mindestens zweimal den Nagel auf den Kopf getroffen. Einmal schrieb er, die Weltgeschichte sei nicht der Boden des Glücks, vielmehr seien die Perioden des Glücks leere Blätter in ihr. Davon kann sich nun wahrlich jeder überzeugen, der sich auch nur flüchtig in eben dieser Weltgeschichte umschaut. Derzeit werden die Blätter der Weltgeschichte wieder eng beschrieben, im Irak, in Syrien, in der Ukraine und anderswo.

Zweitens hat sich der Propagandist des absoluten Geistes, wie viele seiner philosophischen Vorgänger, immer wieder gegen das „bloße Meinen“ gewandt. Aus diesem Anlass wünschte ich mir zuweilen, er kehrte zurück und erneuerte seine Mahnung. Denn heute ist der Satz: „Aber Sie müssen doch dazu eine Meinung haben“, der früher eher Bestandteil privater Konversationen war, beinahe zu einem staatsbürgerlich drohenden Imperativ geworden. Inzwischen herrscht bei uns nicht mehr nur die „Meinungsfreude“, wie Michael Rutschky das vor knapp zwanzig Jahren in einem Essay treffend genannt hat, sondern die Meinungspflicht, und zwar vorrangig verbunden mit der Pflicht zur Empörung.

Und mit der Pflicht zur Unterschrift. Als Mitglied des Schriftstellerclubs PEN („Poets, Essayists, Novelists“) etwa bekommt man regelmäßig irgendwelche Aufrufe oder Appelle zur elektronischen Unterschrift zugemailt. Klar, wenn es ums Urheberrecht geht oder die Buchpreisbindung, die ureigensten Interessen also, da zögert man nicht lange. Da Schriftsteller aber eitel sind, können sie es schwer ertragen, wenn unter irgendeinem Appell der Name eines nicht sonderlich geschätzten prominenten Kollegen auftaucht, der eigene aber nicht; und deshalb unterschreiben sie gern auch Aufrufe, deren Zusammenhang sie nicht so ganz überblicken.

Der Empörte glaubt sich moralisch im Recht

Und welcher Teufel hat uns Schriftsteller eigentlich damals geritten, zur Wahl des Pfarrers Gauck zum Bundespräsidenten aufzurufen und die Wahl des Christian Wulff quasi vorauseilend zu einer Katastrophe zu erklären? Als handele es sich hier geradezu um eine Frage von äußerster moralischer Bedeutung? Und was hatten wir bei dieser ganzen Sache eigentlich zu melden? Der Bundespräsident wird nun mal nicht vom Volke gewählt, sondern von der Bundesversammlung, „und das ist gut so“. Im Übrigen hat sich diese Frage dann ja achtzehn Monate später auch von selbst erledigt.

Der PEN-Club ist aber noch harmlos und außerdem doch recht berufsspezifisch.  Er lässt einen auch für längere Zeiträume in Ruhe. Wer aber erst einmal in die Fänge von Campact geraten ist, dem „Kampagnennetzwerk“, weil er einmal etwas unterschrieben hat, der kann sich vor erzwungener aktiver Teilhabe, vor der Dauerkampagne nicht mehr retten. Campact betont selbst, dass es nicht auf bestimmte Themen festgelegt ist. Hauptsache Kampagne! Der Campact-Netzwerker ist sozusagen im permanenten Widerstands- und Empörungsmodus und sollte möglichst zu allen Themen Stellung nehmen, die Campact für relevant hält. Campact nennt das „Demokratie in Aktion“. Demokratie scheint für dieses Netzwerk in dem Zwang zu bestehen, ständig Farbe zu bekennen. Deshalb liest sich zum Beispiel eine Mail des Netzwerks so: „Ignorieren Sie diese Mail, wenn Sie TTIP wollen.“ Nein, ich will TTIP nicht, aber ich möchte trotzdem diese Mail und zukünftig alle anderen von Campact ignorieren, ich möchte diesen ständig erhobenen moralischen Zeigefinger nicht mehr sehen.

Die Empörung, die Indignation ist nach Meyers Großem Konversations-Lexikon von 1905 „Entrüstung, gerechter Unwille über eine unwürdige, vom sittlichen Gefühl verurteilte Handlung“. Der Empörte ist also moralisch im Recht, jedenfalls glaubt er das. Das ist ein Gestus, der in manchen Fällen verständlich ist, aber selten weiterhilft. Oft genug ist Empörung auch gar nicht angebracht, weil es nämlich nicht um moralische Fragen geht, wie zum Beispiel bei Verhandlungen über Freihandelskommen. Und auch die Politik kreist ja nicht primär um solche Fragen, sondern um Fragen der Macht. Moralische Entrüstung geht da einfach ins Leere. Sie hilft nicht gegen einen Putin, einen Assad und nicht einmal gegen einen Erdogan. Und was den „Islamischen Staat“ betrifft, so ist hier doch eher Entsetzen angebracht. Entrüstung könnte es höchstens gegenüber der Hilflosigkeit einer Politik geben, die diese Terrororganisation wissentlich oder unwissentlich hochgerüstet hat.

Der Schritt vom Meinen zum Wissen

Empörung hilft einfach nicht weiter. Nehmen wir die Enthüllungen, die Edward Snowden uns über die NSA (und ihre Schwestern von den Five Eyes) beschert hat. Dafür müssen wir Dank sagen, doch nicht, weil sie uns moralisch erzürnen, sondern weil sie konkrete Informationen liefern, also vom bloßen Meinen zum Wissen weiterschreiten. Denn eine Ahnung muss doch jeder, der nicht völlig unbedarft ist, schon zuvor gehabt haben, dass die Augen der Dienste auch auf ihm ruhen. Geheimdienste sind ihrem Naturell nach manische Sammler. Sie saugen alles auf, was sie bekommen können, und sie tun das nicht immer, ja sogar eher selten mit legalen Methoden. Das ist nicht nur bei den angelsächsischen Diensten so. Darüber sich zu empören, wäre blauäugig, weil es das Wesen von Geheimdiensten verkennt. Zugleich wissen wir aber auch, dass die fleißigen Sammler oft mit dem Katalogisieren nicht nachkommen, sprich: dass sie unter dem Messie-Syndrom leiden und mit den gesammelten Informationen oft nichts Rechtes anfangen können. Das ist keineswegs tröstlich, sondern kann zu furchtbaren Ergebnissen, nämlich Versagen führen, wie wir spätestens seit 9/11 wissen, widerspricht aber auch den Allmachtphantasien, die nicht nur die Dienste von sich selbst haben, sondern auch ihre Opfer.

Empörung bringt da nicht viel, wohl aber Aufklärung. Eben das ist der Schritt vom bloßen Meinen zum Wissen. Den macht man nicht, indem man der Bundeskanzlerin bzw. der stellvertretenden Regierungssprecherin fernsehgerecht eine Liste mit Unterschriften überreicht und die eigene Meinung darüber kundtut, wie abscheulich man das alles findet, sondern indem man seinerseits Informationen beschafft und an die Öffentlichkeit bringt. Der Insider Snowden hatte da natürlich ganz andere Möglichkeiten als etwa der NSA-Untersuchungsausschuss, dem man für seine Arbeit Aktenberge mit mehrheitlich geschwärzten Stellen zur Verfügung stellt. Auch darüber sich zu empören, wäre blauäugig. Von Geheimdienstlern kann man nicht erwarten, dass sie der Transparenz und der Wahrheit verpflichtet sind, das widerspricht ihrer Stellenbeschreibung. Dagegen wehrt man sich am besten, indem man sich selbst auch nicht der Transparenz verpflichtet fühlt, also seine Daten so gut wie möglich schützt und überhaupt geizig mit ihnen umgeht. Im Zeitalter der Empörung ist das nicht leicht, weil der Empörte ja seinen Auftritt braucht, seinen Marktplatz. In der Ära der Printmedien war das der Leserbrief, der immerhin noch von der entsprechenden Redaktion ausgewählt wurde. Heute tobt sich die Meinungsfreude vor allem im Netz aus. Auch diese Kolumne, das weiß ich wohl, entkommt ihr nicht.

Wie war das mit den leeren Blättern? „Die Weltgeschichte ist nicht der Boden des Glücks. Die Perioden des Glücks sind leere Blätter in ihr.“ Schrieb Georg Wilhelm Friedrich Hegel, gebürtiger Schwabe, später Berliner.

   

Am 3. November seziert der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Auf der Höhe - Diagnosen zur Zeit" die Mechanismen der Empörungsdemokratie. Die Veranstaltung "Empörung: Wie der Skandal im digitalen Zeitalter funktioniert" wird auch per Livestream übertragen.