Mein Vater war nie ein Gespenst

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Druckhaus Galrev, Café Kiryl, 7.2.1992, Berlin

"Lügen und Wahrheiten", Teil 6: Ich brauchte etwas länger als andere, um aus dem Mustopf der kollektivneurotischen Befangenheiten und emotionalen Erpreßbarkeiten herauszukommen, wobei die Ablösung des Etiketts „Dichterszene“, das diesem sprichwörtlichen Medium der klebrigen Verträumtheiten in seiner spezifischen Vereinsform anhaftete, für mich mit den geringsten Abschiedsschmerzen verbunden war.

Vielleicht noch etwas Persönliches zum Thema „Stasi“: Mein leiblicher Vater war hauptberuflich ein Offizier derselben, von 1953 bis 1969, um genau zu sein. Sein Alkoholismus kostete ihn zuletzt das Vertrauen seiner Behörde (seltsam bezeichnend, wenn man bedenkt, daß die Behörde mit der systematischen Zerstörung von Vertrauen beschäftigt war), die ihn deshalb vorzeitig entließ. Als ich alt genug war (etwa Sechzehn), um Fragen zu stellen, war ich gleichzeitig zu zornig auf ihn, um auch nur annähernd etwas zustande zu bringen, das einem Gespräch unter Erwachsenen ähnelte. Nicht nur seine systemtreuen Anpassungsbeschwörungen und Überzeugungen reizten mich zu heftigem Widerspruch, auch seine unbestreitbare Vaterzuständigkeit wollte mir nicht mehr einleuchten.

Er starb, lange bevor ich reif genug war, um in die Familienverhältnisse sehen zu können, ohne sofort von der Angst, daran ersticken zu müssen, zum umgehenden Rückzug gezwungen zu werden. Und 1992, dem Jahr, in dem das Thema „Stasi“ zum Volksaufklärungsthema Nummer eins zu werden schien, lebte ich eine Weile mit dem in seiner Scheußlichkeit sicher kaum vermittelbaren Gefühl, es sei zum Zweck der „deutlichstmöglichen“ moralischen Distanzierung von aller Stasivergiftung von mir verlangt, meinen zu dieser Zeit bereits ein Dutzend Jahre unter der Erde liegenden Vater wieder auszugraben, um aller Welt deutlich zu machen, daß es zwischen uns keinerlei Ähnlichkeit gegeben habe. Insofern war ich trotz polnischer Ahnen wohl irgendwie doch „ein echter Deutscher“ gemäß jenem berühmt-berüchtigten Wort von der Gründlichkeit, mit der die Deutschen alles tun müssen. Aber derart von allen guten Geistern verlassen fühlte ich mich dann doch nicht. Die öffentlichen Wortführer der moralischen Entrüstung konnten mich mal, sozusagen, was wußten die denn schon von der Unvereinbarkeit von Geist und Macht?

(Einer der wenigen mir wohltuend einleuchtenden Beiträge zu der Debatte über IM-Affären unter Literaten kam damals von Volker Braun. Er wies ganz sachlich darauf hin, daß die einzige und zudem nur formale Gemeinsamkeit zwischen einem Schriftsteller und einer Geheimdienstexistenz die Verborgenheit ist, in welcher die - natürlich eindeutig grundverschiedenen Zielen zukommende - Ermittlungsarbeit vor sich gehen muß. Dies wurde festgestellt in Anbetracht einer damals um sich greifen wollenden Begriffsverwirrung, die, von der scheinbar doppelten Identität namens „Dichter-Denunziant“ in der Person Sascha Andersons überfordert, die Dinge komplizierter zu machen drohte, als sie tatsächlich waren.)

 Jedenfalls sträubten sich gewisse, moralisch hochempfindliche Fasern meiner Existenz verzweifelt gegen das vermeintliche Gebot der Stunde, nicht nur den Verrat, sondern auch den Verräter weithin vernehmlich genug zu ächten. Von außen betrachtet ist das vielleicht zu meinem Schaden gewesen, und das aufsteigende Dilemma, sich im nachhinein plötzlich mit dem Fallensteller in derselben Falle sehen zu müssen, hat mich noch Jahre nach der Aufklärung des eigentlichen Falls, der nicht meiner war, mental überfordert. Mit Rainer Schedlinski übrigens konnte ich nach seiner IM-Enttarnung sowie einem oder zwei erfolglosen Versuchen, ihn zur Rede zu stellen, kein Wort mehr sprechen. Und mit Sascha Anderson bekam ich erst nach seiner Enttarnung wirklich ein wenig zu tun, bedingt durch die zwar kontaminierte aber dennoch anfangs animierende Dynamik einiger Galrev-Projekte der 90er Jahre.

Ja, die unterbewußte Wahl der Familienersatzbande kann Gründe haben, die der Verstand nicht kennt. Wenn man von der Erfahrung nur ausreichend geprägt ist, daß die Familie, aus der man stammt, einen wie einen Fremden behandelte, dann sucht man sich seine Freunde nach den Gesichtspunkten der eigenen Verwaistheitsgefühle aus. Man folgt dabei einem kompensatorischen Drang, auf dessen Eroberungen irgendwann einmal jene Ernüchterung folgt, die mit einem vielsagenden Wort „Menschenkenntnis“ genannt wird, und man fragt sich immer zu spät, warum man sich gerade dann am meisten getäuscht hat, als man sich todsicher wähnte, die richtige Wahl getroffen zu haben. Ich brauchte etwas länger als andere, um aus dem Mustopf der kollektivneurotischen Befangenheiten und emotionalen Erpreßbarkeiten herauszukommen, wobei die Ablösung des Etiketts „Dichterszene“, das diesem sprichwörtlichen Medium der klebrigen Verträumtheiten in seiner spezifischen Vereinsform anhaftete, für mich mit den geringsten Abschiedsschmerzen verbunden war. (Scherzfrage: Woran erkannte man das Wesen der menschlichen Beziehungen innerhalb der unter semihermetischem Druck stehenden Gruppenzustände im Prenzlauer Berg? Antwort: Innen klebte und außen zog es.)

Belüge deinen Nächsten wie dich selbst

Das umständliche Auseinanderfalten meiner altmodischen Überlegungen stößt immer mal wieder an die Ränder der laufenden Gegenwart. Die laufende Gegenwart, oder wie auch immer man die an Vergangenheit und Zukunft gleichermaßen vampirisch saugende Jetztzeit nennen will, unterscheidet sich massiv von jener Vergangenheit gewordenen Gegenwart, die dieser Text eigentlich rein retrospektiv einfassen wollte. Die laufende Gegenwart mit ihrem triumphalen, alles Vergangene neuformatierenden und alles Zukünftige zu sich heranreißenden Paradigmenwechsel pfuscht diesem Text in sein naives Konzept, etwas, das einmal war, so darzulegen, wie es innerhalb seines einstigen Potentials an Möglichkeiten war und nicht so, wie es gewesen sein muß, nachdem die Möglichkeiten sich als Illusionen erwiesen haben. Aber auch die Prozesse der Desillusionierungen können sich mitunter länger hinziehen, als man vor sich selber zugeben möchte, besonders dann, wenn der Vertrauensverlust, der stets ihr Gegenstand ist, die Eigenschaft einer sich bis in die innerste Seelensubstanz durchfressenden Säure annimmt. Es muß nicht gleich der Verlust des Weltvertrauens sein, der am Ende einer Erschütterung des Vertrauens in deinen Nächsten steht, und es muß nicht einmal dein Nächster im engeren Sinne des Wortes sein - obwohl es im weiteren und eigentlicheren Sinne des Worts doch nie ein anderer als stets dein Nächster ist, der dich, ganz gleich wie nah oder fern er dir persönlich stand, mit dem Verlust deines Glaubens an seine menschliche Integrität aus der dir bis dahin vertrauten Welt werfen kann.

Eine kleine Episode von Ende der 90er Jahre: Die Mitarbeit an einer ungarischen Lyrikanthologie führte mich zu einem Besuch bei dem ebenfalls daran mitwirkenden Sascha Anderson. Im Verlauf meines kurzen Aufenthalts in seiner und der Gegenwart der ungarischen Übersetzerin rief der Herausgeber ihn an und drängte auf Abgabe der Nachdichtungen, die Anderson zu besorgen übernommen hatte. Dieser war noch nicht soweit, erklärte jedoch am Telefon, eigentlich längst mit der Arbeit fertig zu sein. Warum er nicht sagen konnte, daß es noch etwas dauern würde, ging aus meiner Einschätzung der Situation nicht hervor. Es schien der alte seltsame Zwang zu sein, einfach nicht wahrheitsgemäß antworten zu können. Als er den Hörer wieder aufgelegt hatte und sich weiter der Anwesenheit seiner beiden Gäste zuwendete, kommentierte ich meinen Eindruck von dem gerade zwangsläufig Mitgehörten mit dem ironischen Satz: „Belüge deinen Nächsten wie dich selbst!“

Es ging mich eigentlich nichts an, und außerdem schien diese Unwahrheit, deren Zeuge ich gerade geworden war, lediglich eine winzig kleine Notlüge gewesen zu sein. Aber es handelte sich bei meinem Gegenüber eben nicht um einen Freund, dem man mit Verständnis für alles mögliche Allzumenschliche begegnen konnte, sondern um die Person, die der Staatssicherheit mehr über seine Freunde und Kollegen anvertraut hatte, als diese wahrscheinlich selber voneinander wußten. Mir war es nach aller Aufklärung seines Falls ein Rätsel geblieben, wie ein Dichter nicht begreifen konnte, daß man sich unmöglich auf andere Leute Unglück stellen kann, um sich selbst zu erhöhen. Und nicht nur das, denn seine heimlichen Stasidienste bedeuteten ja, daß er nie mehr etwas wirklich anderes werden konnte als genau jener Teil des Unglücks anderer Leute, den er selber verursacht hatte. Ich kapierte einfach nicht, wie es einer geradezu darauf angelegt zu haben schien, zu einer Inkarnation des Unwirklichen zu werden, indem er durch permanente Bespitzelung seiner Freunde dafür gesorgt hatte, daß von vornherin nichts Wahres zwischen ihm und ihnen entstehen konnte.

Es wurde traurig und auf die Dauer nur noch öde, zu sehen, wie schlecht er auch nach seiner Enttarnung begreifen konnte, daß das von ihm in den Zeiten davor erarbeitete Selbstbild als überlegener und umtriebiger Mann des Wortes einer grundlegenden Korrektur bedurft hätte, um von dem Verdacht einer lediglich um ein paar Inszenierungsmöglichkeiten verminderten Fortsetzung von etwas völlig Verdrehten frei zu werden. Daß er im Grunde einfach nur so weiter zu machen gedachte wie bisher, ungefähr so, als wäre er lediglich ein Handwerker, dessen Ruf infolge irgendwelcher Pfuscharbeiten zwar beschädigt aber nicht ruiniert ist, machte ihn mit einzig und allein von ihm selber zu verantwortender Zwangsläufigkeit zu einem restlos entzauberten Relikt aus überwundener Zeit, unglaubwürdig bis zur Lächerlichkeit und dabei so beharrlich die eigene Persönlichkeitsspaltung als letztendliche Rechtfertigung mißdeutend, daß auf die Dauer auch den Gutwilligsten die Sache zu dumm werden mußte. Ich hatte im Unterschied zu manchen seiner Kritiker, welche von Anfang an der Meinung waren, daß er mit seinen Projekten und eigenen Gedichten nie etwas anderes als ein Blender gewesen sei, früher, während der 80er Jahre, eine starke Bewunderung für seine Texte und die initiatorischen Energien seiner kaum zu überblickenden sonstigen Kunst-Aktivitäten gehegt, und erlebte durch die Entdeckung seiner geheimen Spitzeltätigkeit, die ich vorher schon aus zeitökonomischen Gründen bei ihm für gar nicht realisierbar gehalten hätte, mit dem unsanften Erwachen aus einer Illusion die beklemmende Weigerung ihres Verursachers, ebenfalls zu erwachen. Und ich fand damals an jenem Abend meines kurzen Besuchs bei ihm in einer kleinen Wohnung in der Dunckerstraße, und ein weiteres Mal in meinem Leben viel zu spät, keine passenderen Worte als „Belüge deinen Nächsten wie dich selbst.“

Karriere negativ

Hat er Glück, d. h. zumindest Jugend und Talent, braucht er in den Verhältnissen, die wir aus eigener Lebenserfahrung kennen (ich rede jetzt wieder von den DDR-Verhältnisse der siebziger und achtziger Jahre), nicht außerdem noch der Erbe eines Geldvermögens zu sein, um seine Hoffnung auf ein neues Leben nicht täglich in den Existenzerhaltungszwängen einer sogenannten geregelten Arbeit schrumpfen sehen zu müssen. (Wie man weiß, konnte man in der DDR auch von der Hand in den Mund leben und arm sein, ohne sich arm fühlen zu müssen.) Ist er zudem noch so vermessen zu meinen, dem Staat, der ihm ein argwöhnischer, unhintergehbarer Vater zu sein vorgibt, überhaupt nichts schuldig zu sein, bekommt er über kurz oder lang seine Probleme mit der Ordnungsmacht. Aber es handelt sich dabei um Probleme, die dann höchst eindeutige und zudem vollkommene andere sind, als etwa jene Probleme, die ein Schriftsteller gehabt haben mag, der sich mit seiner, ihm von der kommunistischen Doktrin zugewiesenen Rolle als „Ingenieur der Seele“ identifizierte und dabei seine persönliche Verpflichtung zur Wahrheit immer wieder über die jeweiligen kulturpolitischen Richtlinien stolpern und zu Fall gebracht sehen mußte.

Dessen Problemsorte, ich nenne sie mal ihrer Kompliziertheit halber loyalitätskonfliktschwangere Richtschnurverwickeltheit, kennt unser junger Antiheld nur vom Hörensagen, und seine Abneigung gegen die Logik einer Karriere, deren einzelne Schritte jeweils auch Tritte nach Konkurrenten bedeuten, bildet einen nicht geringen Teil seines Stolzes. Sein Selbstverständnis muß sich auch nicht wehren gegen den Verdacht, am Ende vielleicht nur ein Versagertyp zu sein, der lediglich aus Faulheit oder Unfähigkeit die Zustimmung zu den geläufigen Werdegangskonzepten verweigert und zu seiner Rechtfertigung nur verstockt schweigen kann. Er hat (ich meine hier nicht zuletzt auch mich selbst) eine mentale und charakterliche Allergie gegen die Präsenz von Funktionären in seiner unmittelbaren Nähe und „spricht“ ausschließlich nur dann mit solchen, wenn ihn behördliche Vorladungen unter Strafandrohungen dazu nötigen. Wäre die DDR ein Gefängnis im institutionellen Sinne des Worts gewesen und er einer der bereits darin geborenen und aufgewachsenen Häftlinge, hätte er sich soviel Eigensinn natürlich nicht leisten können, ohne gleich mit brutaler Gewalt zu jeder Form der Anpassung an die Gefängnisregeln gezwungen worden zu sein. Doch so ein totales Gefängnis war die DDR im ganzen eben nicht, und der Protagonist meiner exemplarischen Vorstellung hatte genügend Zeit und sogar ausreichenden Raum, um sich ungehindert in seinem Traum zu bewegen, solange er nicht an die Staatsgrenzen lief und die Wächter herausforderte.

Das ostdeutsche sich Abfinden mit dem geopolitischen Status quo jener Zeit hat, wenn ich mich nicht irre, Günter Kunert einmal als die Treue eines Hundes zu seiner Hundehütte bezeichnet. Allerdings brach Kunert selber erst als Mann von fast fünfzig Jahren aus den ihm später den Hundevergleich wert erscheinen lassenden Abrichtungsverhältnissen aus, und er brach zudem zu einer Zeit aus, in der die Aussicht auf einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ schon so lange von den Herrschenden an die Kette gelegt worden war, daß sich damalige Grünschnäbel wie ich höchstens darüber verhalten wunderten, wie es ein so welterfahrener und kunstreicher Vogel über Jahrzehnte in jener Hundehüttenkolonie namens DDR ausgehalten haben konnte.

Ich verspürte selber keine Neigung, meine Seele von Erfahrungen mit karriereförderlichen Kompromissen annagen zu lassen und hielt mein gerade entstehendes Selbstbild, ebenso wie die hypothetischen Person meines Beispiels das ihre, von den typischen Versuchungen zur Integration in das sippenhaftungsähnliche „wir“ des „Menschen im Sozialismus“ so fern es nur ging. Und wie beneidenswert erschienen mir dabei jene Exemplare unter den Freunden und Bekannten, die in ihren eigenen Fernhaltungsbestrebungen auf die Solidarität ihrer eigenen Eltern oder wenigstens eines Teils ihrer Familie bauen konnten. Aber zur Not ging es auch ohne. Es ging dabei auch nicht um Kunst, sondern nur um die Stabilisierung des natürlichen moralischen Immunsystems, auf das man sich etwas einbilden durfte, gleichwohl es heute ein Ding der Unmöglichkeit zu sein scheint, ein klares Bild seiner mühsam erarbeiteten Desintegration noch einmal aus dem einen zwangskollektivdunklen Topf herausfischen zu können, in den nach der „Wiedervereinigung“ alles Ostdeutsche sich zurückgeworfen fand. Doch wozu hat man eigene Erinnerungen, wenn nicht, um sie eigen sprechen zu lassen und vor Entmündigungsversuchen durch zeithistorische Klischees in Schutz zu nehmen?

Je nach dem, wie man es nimmt, ist es bedauerlich oder ein Glück, daß nur relativ wenige Bilddokumente aus den improvisierten Situationen des damaligen Künstlernischendaseins vorhanden sind. Man bekommt da zumeist immer wieder dieselben Fotos zu sehen, auf denen unterschiedlich große oder kleine Gruppen von jungen Menschen offenbar ergebnislos gerade damit beschäftigt sind, sich über den Sinn ihrer Anwesenheit klar zu werden. Ich selber habe mich noch nie auf einem dieser Fotos entdecken können, und wahrscheinlich macht gerade dies mir so viel Laune zur nachträglichen Selbstvorstellung in Form einer individuellen Variante von rückwärtsgewandter Prophetie.

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