4. Kommunalpolitischer Bundeskongress: KommMit! Städte und Gemeinden grün gestalten

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Exkursion "Neue Quartiere" am Rande des 4. Kommunalpolitischen Bundeskongresses

Inzwischen schon fast traditionell trifft sich die grüne Kommunalpolitik-Gemeinde alle zwei Jahre zum Kommunalpolitischen Bundeskongress. Zur vierten Ausgabe in Stuttgart kamen Ende September 150 Menschen aus ganz Deutschland.

Der erste Eindruck war recht prägnant: Wer am Hauptbahnhof aus dem Zug stieg und sich auf der riesigen Baustelle zu orientieren versuchte, bekam sofort die Auseinandersetzungen um Stuttgart 21 in den Sinn. „Das ist eine offene Wunde der Stadt“, brachte es Annette Goerlich (HBS Baden-Württemberg) in ihrer Begrüßung auf den Punkt – zu den Dilemmata von Bürgerbeteiligung später mehr.

Kuhn: Vom Kongress aufs Volksfest

Im Trachten-Look ging Fritz Kuhn ans Rednerpult – ein noch ungewohnter Anblick auf grünen Kongressen. Die Familie des Stuttgarter Oberbürgermeisters war schon „auf Wasen gekleidet“, denn im Anschluss musste er zur Eröffnung des Volksfestes ein Fass anstechen. Das visualisierte sein Verständnis davon, wie man als Grüner zum Oberbürgermeister gewählt werden könne: Man müsse verstehen, was in der Gesellschaft los ist, nah bei den Leuten sein, und nicht gegen sie ankämpfen, so Kuhn.

Nachhaltigkeit: Weit mehr als Ökologie

„Nachhaltigkeit“ war das Thema seiner programmatischen Auftaktrede, den Anfang machte die Ökonomie: Wenig Arbeitslosigkeit und hohe Steuereinnahmen seien nötig, damit man den Strukturwandel finanzieren kann. Und auch ein langer Atem. So ist es nach 20 Jahren gelungen, Stuttgart zu einem Standort für computeranimierte Filmproduktion zu machen – nicht mit Subventionen, sondern mit vielen Ausbildungsstätten, betonte Kuhn. Eine nachhaltige Stadt müsse auch sozial gerecht sein: Wohnungen müssen bezahlbar, energetische Sanierungen sozial verträglich sein. Für den Wohnungsbau forderte er eine bessere Förderung von Bund und Ländern, für die energetische Sanierung privater Gebäude dringend steuerliche Anreize. In anderen Bereichen kann der OB auf seine Stadtgesellschaft bauen. Stuttgart sei berühmt für seine sozialen Netze, die einspringen, wenn der Staat nicht mehr helfen kann, etwa in der Drogenhilfe.

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Kuhn kritisierte, dass in Sonntagsreden die Ökologie zwar hochgehalten, an den Werktagen aber nicht umgesetzt wird. Von Anfang an sind beste Standards zu setzen, „sonst wird es später teuer“. Und noch bevor es einen Planentwurf gibt, ist die Meinung der Bürger/innen einzuholen. Als Beispiel für nachhaltige Stadtentwicklung in Stuttgart führte Kuhn die sog. „Konzeptvergabe“ an: Zukünftig sollen kommunale Grundstücke nicht nach dem Höchstbieterverfahren vergeben werden, sondern auch Konzepte zum Wohnungsmix, zu den kalkulierten Miet- oder Kaufpreisen, zur Freiraumgestaltung, zu Themen wie Energieeffizienz, Verkehrskonzept oder Barrierefreiheit bei der Vergabe herangezogen werden. Immerhin verliere die Stadt dadurch jährlich 20 Millionen Euro, gewinne dafür aber „Stadtrendite“. Last but not least profitiere eine nachhaltige Stadt auch von den Anregungen aus der „kulturellen Reibung“: Geld für Kultur auszugeben, seien Investitionen, die sich für die Städte rentieren.

Özdemir: Weiße Flecken begrünen

Bild entfernt.Nach dem Super-Wahljahr 2014 mit Kommunalwahlen in elf Bundesländern konnte Cem Özdemir, Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen, die Teilnehmenden zu ihren beachtlichen Erfolgen beglückwünschen. So gibt es in Bayern die bundesweit ersten grünen Landräte, in Baden-Württemberg stieg die Zahl der grünen Mandate von 1.400 auf 1.660, in der Hochburg Stuttgart erzielte die Partei bereits zum zweiten Mal ein Viertel der Stimmen. Özdemir freute sich, dass in seinem Stammland alle 44 erstmals angetretenen grünen Listen gleich den Sprung ins Rathaus schafften: „Wo Grüne zur Wahl stehen, werden sie auch gewählt.“ Künftig gelte es, noch mehr weiße Flecken auf der politischen Landkarte zu begrünen.

Wie sich Städte und Gemeinden im politischen Alltag dann grün gestalten lassen, darüber brauche es einen Austausch unter den Kommunalis – „der Erfolg ist eine Verpflichtung“, erinnerte Sabine Drewes (HBS). Entsprechend boten die Veranstalterinnen ein ebenso breit gefächertes wie tiefgründiges Programm.

Energiewende: Der Bund bremst

Zunächst ernüchternd begann das Energiewende-Plenum, Schuld daran ist das Rollback in der Energiepolitik des Bundes. Besonders harsche Kritik an der „Energie-Deform“ übte Christine Denz. Die Mitbegründerin der Bürgerenergiegenossenschaft Neckar-Odenwald ist als „Dauerläuferin der Energiewende“ seit über 30 Jahren ehrenamtlich in diesem Politikfeld tätig und muss seit einem Dreivierteljahr u. a. registrieren, dass es kaum noch Photovoltaik-Zubau gibt und in der Solarindustrie bundesweit 60.000 Arbeitsplätze verloren gingen „durch dieses unsägliche Gerede von der Strompreisbremse“. Und für ihre Energiegenossenschaft funktioniere nach der EEG-Reform das bisherige Geschäftsmodell nicht mehr, schon der bürokratische Aufwand sei viel zu hoch geworden. Sie befürchtet eine weitere Zentralisierung.

Aus Sicht eines großen Stadtwerkes, der Mannheimer MVV Energie AG, sah Oliver Raschka ein Wirtschaftlichkeitsproblem für konventionelle Kraftwerke wie effiziente Kohle- und Gaskraftwerke – die seien aber nötig für die Versorgungssicherheit. Der Abteilungsleiter für Energiepolitik und Energiewirtschaft brach eine Lanze für die Kraft-Wärme-Kopplung und forderte eine Novelle des KWK-Gesetzes ein.

Auch die Umwelt- und Energieagentur Kreis Karlsruhe bekommt die Folgen der EEG-Reform bereits direkt und deutlich zu spüren. Deren Geschäftsführerin Birgit Schwegle nannte als ein Beispiel das sehr hohe Photovoltaikpotenzial ihrer Region. Hausbesitzer wurden direkt angesprochen, die regionalen Volksbanken und Sparkassen hatten entsprechende Finanzierungsinstrumente angeboten und über 60 Mitarbeiter/innen der Geldinstitute bekamen eine Multiplikatoren-Schulung. Das sei nun passé: „Der Bereich Banken ist völlig zusammengebrochen. Da brauche ich mit unseren Themen gar nicht mehr aufschlagen.“ Es sei kaum noch zu kommunizieren, dass etwa eine Photovoltaikanlage auf dem Dach doch noch wirtschaftlich und effizient ist. Dieses Feld müsse man nun neu aufrollen.

Die Kommunen gehen weiter in die Offensive

Gleichwohl haben die Kommunen noch genügend Potenzial, das sie ausschöpfen können. Vergleichsweise wenig Potenziale gebe es in den kommunalen Liegenschaften, der schlafende Riese stecke in den Haushalten. Schwegle: „Alle sprechen immer nur von der Strom-Energiewende, aber nicht von der Wärme“. Entscheiden sei, die BürgerInnen zu erreichen. „Aber: Die Politik muss vorangehen, dann laufen die anderen hinterher.“

Wie Stuttgart vorangeht, dafür hatte Peter Pätzold, Vorsitzender der grünen Gemeinderatsfraktion, etliche Beispiele parat: Städtische Gebäude müssten um 30% energieeffizienter sein als die Energieeinsparverordnung (EnEV) vorgibt, jährlich gibt es einen Energiebericht, die Stadt bezieht 100 % Ökostrom, sogar eigene Stadtwerke wurden gegründet. Außerdem werden mithilfe des Intractings (ähnlich dem Energiesparcontracting, nur dass die Anschubfinanzierung wie auch die Einspargewinne über einen städtischen Fonds erfolgen bzw. zurückfließen) Pilotprojekte gefördert, die sich gerade – noch – nicht rechnen, wie aktuell die Nutzung der Abwärme eines Abwasserkanals. „Dieses Vorangehen ist wichtig, damit man die Bevölkerung mitzieht.“

Einen interessanten Aspekt schließlich brachte Christine Denz ein: Sie vermutete, dass der ländliche Raum, was die Energieversorgung betrifft, in Zukunft einen ähnlichen Stellenwert einnehmen wird, wie früher für die Lebensmittelversorgung.

Was ist die grüne Kultur kommunaler Bürgerbeteiligung?

Hohen Unterhaltungswert hatte das Plenum am frühen Freitagabend, denn die vier Expert/innen brachten nicht nur viel Erfahrung mit, sondern auch eine gehörige Portion Humor. Der scheint auch nötig, spätestens seitdem Grüne landauf, landab mitregieren. „Ich liebe Volksentscheide, aber ich bin auch extrem masochistisch“, bekannte etwa die baden-württembergische Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung, Gisela Erler – da blitzte wieder das große S21-Thema auf. Beteiligungsverfahren können richtige Zeit- und Energiefresser sein, gestand der Bürgermeister von Telgte (NRW), Wolfgang Pieper: „Wenn ich nach drei Stunden aus so einer Bürgerversammlung raus komme, dann ist der Akku komplett leer.“ – „Nee, da will ich gleich die nächste“, gab sich hingegen Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer als besonders streitlustig.

Die Mannheimer Dezernentin für Bürgerservice, Umwelt und technische Betriebe, Felicitas Kubala, räumte ein, dass Bürgerbeteiligung ganz schön nerven kann. Sie sei zeitintensiv und anstrengend – „aber es führt gar kein Weg dran vorbei“.  Für die Bürger/innen sei Beteiligung übrigens auch höchst anstrengend, „eine massive Herausforderung, sich auf einen Informationsstand zu bringen, der dem etwa der Politik und erst recht der Verwaltung gleich ist.“ Letztere muss ihre Informationen frühzeitig und sehr transparent offen legen.

Auf Timing und Fingerspitzengefühl kommt’s an

„In der Regel kommen wir ja immer zum falschen Zeitpunkt,“ diese Erfahrung musste Wolfgang Pieper machen. Gibt es erste Konzeptideen, geht das einigen schon zu weit. Existiert hingegen noch kein Plan, sind viele Fragen nicht zu beantworten. Im Fall einer besonders frühzeitigen Beteiligung erntete die Telgter Stadtsitze ungläubiges Staunen, bis zum Schluss der Bürgerversammlung habe man immer wieder versichern müssen: „Nein, wir haben noch keinen Plan“.

Am Beispiel der Bundesgartenschau in Mannheim machte Felicitas Kubala deutlich, wie wichtig Kontinuität ist. Ein umfangreicher so genannter Weißbuchprozess brauchte zunächst zwar eine hohe Akzeptanz für die Umgestaltung von 500 ha Konversionsfläche, die Verwaltung machte sich an die Umsetzung, aber auf einmal war die Stimmung umgekippt: „Man hatte die Bürger offensichtlich verloren auf dem Weg.“ Obwohl sie grundsätzliche dialogische Verfahren bevorzuge, hatte in diesem Fall ein vom Gemeinderat initiierter Bürgerentscheid „alle noch einmal wach gemacht“ – wach auch für die anschließende intensive Arbeit von Politik, Verwaltung und BürgerInnen in Arbeitsgruppen. „Das war eine Chance für Mannheim“, so Kubalas Fazit.

Aus der Binnensicht einer Verwaltung suchte der Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer nach Pferdefüßen der Partizipation. Geld sei nicht das Problem:  Die „Demokratiekosten“ für die Institutionen seiner Kommune, inklusive der Bürgermeister, belaufen sich auf zehn Euro pro Kopf und Jahr. Für Bürgerbeteiligung sind es geschätzt – weil nicht im Stellenplan ersichtlich – nur drei bis vier Euro. Die Engpässe liegen anderswo. Etwa beim Personal. Gerade in Tübingen mit einem hohen Akademikeranteil schickt Palmer fast immer die Amtsspitze in die Beteiligungsprozesse: „Wenn ich den Sachbearbeiter hinschicke, kommt der geschlachtet wieder raus.“ Es sei nicht leicht, die richtigen hochqualifizierten Leute zu finden, die sowohl jede Fachfrage beantworten können als auch super in Beteiligungsprozessen sind. Hierzu gab Gisela Erler einen ganz pragmatischen Hinweis: „Macht die Kleinformate!“ empfahl sie. Dann könnten nicht nur Akademiker und Wortführer sagen, was Sache ist.

Wird die repräsentative Demokratie noch akzeptiert?

Einen großen limitierenden Faktor sieht Palmer in der Unzufriedenheit derer, die sich im Zuge eines Beteiligungsprozesses nicht durchsetzen können. Aber: „Gehört werden heißt nicht: erhört werden.“ Dass die Unterlegenen eine Entscheidung durch die „Legitimation des Verfahrens“ und Transparenz akzeptierten, gelinge jedoch nur in seltenen Fällen.

Palmers Gedankengang spann Gisela Erler weiter: Wie ist grundsätzlich das Verhältnis von direkter zu repräsentativer Demokratie? In der von ihr mitherausgegebenen Studie „Partizipation im Wandel“ wollten nur noch 43 % der Befragten akzeptieren, dass ein Bürgermeister oder ein Gemeinderat sich gegen ein Votum der Bürger entscheidet. „Man muss schon sehr viel Rückgrat haben, wenn man aus einem begründeten Argument heraus sagt, wir machen das jetzt“, so Erler. Ihre Diagnose, Gemeinderäte hätten in dieser Atmosphäre Angst, sich zu positionieren, wurde vom Publikum geteilt. Für Wolfgang Pieper gibt es bestimmte Themen, die er keiner Bürgerbeteiligung aussetzt, etwa den Bau einer Flüchtlingsunterkunft. Darüber müsse der Rat beschließe, nicht die Bevölkerung. Der Telgter Bürgermeister sah seine Rolle klar: „Die Bürger/innen haben mir für sechs Jahre die Verantwortung gegeben, nach sechs Jahren können sie sie mir auch wieder nehmen.“

Solche grundsätzlichen Fragen finden sich auch in der Erklärung zum 4. Kommunalpolitischen Bundeskongress wieder. Das sechsseitige Papier mit dem Titel „Für eine grüne Kultur kommunaler Bürgerbeteiligung“ war von Expert/innen aus der grünen Kommunalpolitik-Szene erstellt worden und stieß bei den Kongressteilnehmenden auf große Zustimmung. Die Liste der ErstunterzeichnerInnen umfasst Stadträt/innen, Beigeordnete und (Ober-)Bürgermeister ebenso wie Landes- und BundespolitikerInnen sowie Akteure aus dem grünen Bildungs- und Beratungsbereich. Wer das Positionspapier ebenfalls unterzeichnen möchte, kann dies online tun.

Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse: Was können wir uns noch leisten?

Das wohl spannendste Plenum stellte das Postulat der „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse“ auf den Prüfstand. Reiner Klingholz, Geschäftsführender Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, machte in seinem pointierten Vortrag deutlich, dass der Bevölkerungsrückgang nicht allein ein Thema für ostdeutsche Landstriche ist und dass sich diese Schrumpfungsprozesse kaum aufhalten lassen: Schon immer wanderten Menschen vom Land in die Stadt ab, doch inzwischen ist die Kinderzahl auf dem Land nicht mehr höher, sondern genauso niedrig wie in der Stadt. Wenn aufgrund sinkender Einwohnerzahl die Infrastruktur zurückgefahren und z. B. Schulen geschlossen werden müssen, mache dies eine schrumpfende Region noch unattraktiver. Vor allem aber erschweren der steigende Wert von Bildung und die auf Dienstleistungen und Wissen orientierte Wirtschaftsstruktur ein Gegensteuern. Bürgermeister, die ihre Jugend im Dorf halten wollen, brachte Klingholz mit dem nicht wirklich ernst gemeinten Rat auf den Boden der Tatsachen: „Ihr dürft sie nicht zur Schule schicken.“ Denn nach dem Schulabschluss ziehe es die jungen Leute dorthin, wo sie ihre Ausbildung fortsetzen können, wo es eine Fachhochschule oder eine Uni gibt. Neue Arbeitsplätze entstehen zudem vor allem in wissensintensiven Bereichen – und das eben in Kommunen oder Regionen ab etwa 100.000 EinwohnerInnen.

Eine Sonderrolle scheint der Südwesten einzunehmen, wo der kommunalpolitische Sprecher der grünen Landtagsfraktion, Andreas Schwarz, die Jugend nach der Ausbildungsphase wieder in den ländlichen Raum zurückholen will – damit erntet er erstaunte Blicke auf dem Podium wie im Publikum. Er aber zeigte sich optimistisch: „Hightech und Heimat sind in Baden-Württemberg kein Gegensatz.“ Wer mit der Bahn angereist war, musste konstatieren, dass hier auch auf dem Land viel Industrie und Gewerbe zu sehen war.

Chancen für den ländlichen Raum benannte Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung: dezentrale Energieproduktion, Veredelung landwirtschaftlicher Produkte bis hin zu Biotechnologie oder Tourismus.

Mittelzentren stärken, Rückbau bezuschussen

Zurück zu Klingholz, sein Fazit lautet: „Wir müssen akzeptieren, dass die Gleichwertigkeit vermutlich ein Hirngespinst ist.“ Aber wie versorgt man die Menschen, die noch da sind, vor allem die Älteren? Tendenziell wandern auch sie ab, häufig allerdings in die größeren Orte innerhalb der eigenen Region. Daher gelte es, nicht nur andere Versorgungsformen zu finden, sondern auch die Mittelzentren zu stabilisieren, z. B. mithilfe barrierefreier Wohnungen. „Wenn dort die Infrastruktur zusammenbricht, leidet die gesamte Region“, warnt Klingholz. Da viele Eigenheimbesitzer in schrumpfenden Regionen auf ihren Immobilien sitzen bleiben, schlägt er einen Fonds für Rückbau vor, um die Betroffenen zumindest teilweise zu entschädigen – der Rückbau der Plattenbauten in Ostdeutschland sei schließlich auch mit Steuermitteln finanziert worden. Dieser Forderung wollte nicht jeder im Saal folgen – gehöre ein nur mit großen Verlusten zu verkaufendes Häuschen nicht zum „Restrisiko“, das Eigenheimbesitz nun mal mit sich bringe?

Neue Rollen für Staat und Bürgerschaft

Konsens auf dem Podium herrschte darüber, dass man „gegen Entleerung nicht anfördern“ kann, wie es Hilmar von Lojewski formulierte. Der Dezernent für Stadtentwicklung, Bauen, Wohnen und Verkehr des Deutschen Städtetages mahnte unbequeme Einsichten an: Das hohe Level in unserem „überentwickelten Land“ sei nicht zu halten, man müsse über Standards und Ansprüche nachdenken und neue „Selbstbestimmungsräume“ eröffnen. 

„Der Staat muss vom Versorger zum Ermöglicher werden“, bestätigte Kerstin Faber. Die Planerin, die z.zt. als Projektleiterin bei der IBA Thüringen tätig ist, stellte einige „Raumpioniere“ wie z. B. in einem Ausbildungsnetz zusammengeschlossene Arbeitgeber vor (weitere Beispiele finden sich im von ihr mitherausgegebenen Buch „Raumpioniere in ländlichen Regionen“). Solche Projekte passen schlecht in Fördertöpfe und würden von der Politik noch zu wenig wahrgenommen. Sie riet den Verantwortlichen, nicht nur auf Statistiken zu schauen, sondern auch gezielt zu beobachten, was die Bevölkerung selbst auf die Beine stellt: „Was passiert hier eigentlich und wie können wir das unterstützen?“

Diese zivilgesellschaftlichen Initiativen, dieses „Sozialunternehmertum“ müsse der Staat und seine die Politik stärken, fasste es Ralf Fücks abschließend zusammen. „Allerdings nicht nur mit guten Worten, sondern auch mit Geld und mit Infrastruktur und mit Beratung.“

Thementische und Foren

Das Strategie- und Netzwerktreffen bot wie immer auch viel Raum für Information und Diskussion. Nach vier verschiedenen Exkursionen am Freitagvormittag hatten die Teilnehmenden am Nachmittag neun Thementische zur Auswahl: Geht man nun zu „Frag die Bundestagsfraktion“ oder setzt man sich aufs „grüne Sofa für neue MandatsträgerInnen“? Oder an den Stehtisch zu Manfred Beck, den Gelsenkirchener Beigeordneter für Kultur, Bildung, Jugend, Sport und Integration?

Thementisch „Zuwanderung aus Südosteuropa. Probleme und Lösungsansätze“

Kamen 2011 noch 400 Roma aus Bulgarien und Rumänien nach Gelsenkirchen, waren es im Jahr 2014 bis Ende August bereits 4.300, so Beck. Um die Menschen in die Gesellschaft zu integrieren und den sozialen Frieden zu wahren, muss die Stadt in vielen Feldern aktiv werden und hat dafür eigens eine Task Force gegründet. Beck erinnerte daran, dass die Roma in ihren Herkunftsländern am Rand der Gesellschaft standen und keine Erfahrungen mit einem funktionierenden Rechtsstaat hätten. Daher gelte es ihnen zu vermitteln, wie hierzulande eine Stadt funktioniert, etwa über den zweisprachigen Flyer „Wohin mit meinem Abfall?“. Die Kinder ohne Deutschkenntnisse ins Bildungssystem zu integrieren, sei eine „Riesenherausforderung“, der sich die Stadt auf kreative Weise stelle: Es gebe mobile Kitas und Radfahrkurse, außerdem konnten 300 Kinder mit Sportbekleidung ausgestattet werden. Die Stadt überprüft auch die Unterkünfte – und musste schon 14 Objekte für unbewohnbar erklären. Bei diesen Überprüfungen würden auch die Personalien der angetroffenen Personen mit dem Melderegister abgeglichen, denn die Fluktuation sei sehr hoch, was problematisch für alle Handlungsfelder ist, so Beck. Die Kriminalitätsquote sei nicht höher als in vergleichbaren Kommunen. In Einzelfällen gab es Probleme mit Prostitution, beim Thema „Arbeitsprostitution“ arbeite die Kommune mit dem Zoll zusammen.  „Der Schrotthandel blüht“, so Beck vieldeutig. Die Statistik weist binnen eineinhalb Jahren 41 „Klaukids“ auf, die in Obhut genommen wurden – aber bisher keinen Fall von Kindeswohlgefährdung. Beck bedauerte, dass er keine Ressourcen für mehr aufsuchende Sozialarbeit hat und forderte nicht nur für dieses Handlungsfeld: „Es muss vom Bund Geld kommen“.

Forum 1: Bezahlbarer Wohnraum in Ballungsräumen

Den Auftakt in diesem Forum machte die Stuttgarter Gemeinderätin Silvia Fischer. Gerade Menschen in den 20er und 30er Jahren, also in der Familiengründungsphase, zieht es in ihre Stadt. Leider hätten vergangene CDU-Regierungen die städtischen Wohnungsgesellschaften vernachlässigt, zudem beunruhigte sie, dass in den kommenden Jahren in Stuttgart viele soziale Mietpreisbindungen auslaufen. Nicht nur um die Belegrechte zu halten, suchen die Grünen den Dialog, so im „Bündnis für Wohnen“.

Drastischer fiel die Schilderung der Münchner Stadträtin Sabine Nallinger aus: Jedes Jahr wachse München um 30.000 Einwohner/innen. In manchen Stadtteilen sind innerhalb der letzten sechs Jahre die Mieten um 50 bis 80 % angestiegen, die  Eigentumspreise gingen ebenfalls „durch die Decke‘‘. Das sind „dramatische Verhältnisse, die der Politik zu entgleiten drohen‘‘. Die Stadträtin hatte als grüne OB-Kandidatin daher gefordert, mindestens 30 % der Wohnungen wieder in städtische Hand zu bekommen.

Die Stadt München verkauft heute ihre Grundstücke zur Wohnbebauung nicht mehr höchstbietend, sondern bevorzugt an Bauherren und Genossenschaften mit besonders langer Mietpreisbindung zum Verkehrswert. Neuerdings würden Belegungsrechte mit bis zu 60-jähriger Mietpreisbindung erzielt. Nallinger machte Mut: Man solle sich von der Bauindustrie nicht einreden lassen, dass bei scharfen Kriterien die Investoren wegblieben – neun von zehn hätten sich in München auf die städtischen Konditionen eingelassen und trotzdem investiert.

Die Moderatorin Iris Behr (Institut Wohnen und Umwelt sowie Stadträtin in Darmstadt) stellte beide Landeshauptstädte in Relation: Die Stadt Stuttgart ist ein wesentlich kleinerer Player auf dem Wohnungsmarkt, da sie nur sechs Prozent der Flächen kontrolliere, in München liegt diese Quote bei 16 %. Wien hat übrigens stolze 60 % des Wohnraums unter direkter und indirekter Kontrolle. Aus baden-württembergischer Sicht ergänzte MdL Andrea Lindlohr, dass in den Grenzlagen zur Schweiz auch kleinere Städte von stark angespannten Wohnungsmärkten betroffen sind.

Die Sprecherin für Bauen und Wohnen der grünen Landtagsfraktion erinnerte daran, dass einige Punkte auf der grünen Agenda das Wohnen teurer machen. Die ökologischen Ziele müssten auch immer mit der sozialen Situation abgewogen werden. Es gelte zu verhindern, dass in einigen Jahren die sozial Schwachen in unsanierten Wohnungen sitzen und die Energiepreise „durch die Decke gehen‘‘. Außerdem, so ergänzte Silvia Fischer, müsse auch der Umbau des Wohnungsbestandes für altersgerechtes Wohnen vorangetrieben werden.

Die Grünen sollten aber nicht von den ökologischen Zielen Abstand nehmen und etwa die Standards heruntersetzen, sagte Chris Kühn MdB. Sprecher für Bau- und Wohnungspolitik der grünen Bundestagsfraktion. Die Heizkosten hätten sich von der Lohnentwicklung entkoppelt – das Problem der „zweiten Miete‘‘ sei eine hochgradig  soziale Frage. Daher sei es auch fatal, dass die Bundesregierung das Wohngeld an diese Entwicklung praktisch nicht anpasse, etwa mit einer von den Grünen vorgeschlagenen Klimakomponente. Der wohnungspolitische Sprecher der grünen Bundestagsfraktion kritisierte ferner die „Mini-Mietpreisbremse‘‘ der Bundesregierung und die weiterhin verfolgte Höchstpreispolitik der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben. Außerdem fehlen bei der KfW-Finanzierung Gelder für das denkmalgerechte Sanieren und für die energetisch intelligente Vernetzung im Quartier.

Mit dem grünen Slogan ‚‚Faire Miete statt Rendite‘‘ mochten sich Lindlohr und Kühn nicht anfreunden. Denn letztendlich erwarte man auch von kommunalen Gesellschaften oder Genossenschaften eine Rendite, die für Zukunftsinvestitionen wichtig seien. Die Frage ist dann nur: Wie hoch sollen diese Rendite sein?

Forum 2: Stimmen unsere Finanzausgleiche noch? Neue grüne Antworten auf Disparitäten

Dass diese Frage für Grüne relevant sei, darüber gab es im von Wolfgang Pohl (HBS) moderierten Forum keinen Streit. Das machte Kämmerer Manfred Busch mit seinem Bericht aus Bochum deutlich. Durch den wirtschaftlichen Strukturwandel, angefangen beim Niedergang der Altindustrien Kohle und Stahl bis hin zu den Krisen bei Opel und Nokia, fallen in bestimmten Regionen die Unternehmensgewinne und damit die Gewerbesteuereinnahmen derart, dass sie der Gemeindefinanzausgleich nicht auffangen kann. So erwirtschaftet Düsseldorf im Jahr 1.400 Euro Gewerbesteuer pro Einwohner, während es in Bochum oder Herne nur 100 Euro sind. Die Folge sei eine Abwärtsspirale: Die drastische Haushalts-Konsolidierung geht nur mit massiven Leistungseinschränkungen, das macht die Kommunen unattraktiv, die qualifizierten und gut verdienenden Menschen wandern ab. Da reiche zur „Therapie“ eine Reform der Finanzausgleiche nicht aus. Neben Armutsbekämpfung und einer intensiveren regionalen Wirtschaftspolitik schlägt Busch eine Wertschöpfungssteuer als Ersatz für die ausgehöhlte Gewerbesteuer vor.

Aus rheinland-pfälzischer Sicht spann Ulrich Steinbach dieses negative Szenario fort. Wie der Sprecher für Wirtschaft, Haushalt und Finanzen der grünen Landtagsfraktion berichtete, hatte Rot-Grün in Rheinland-Pfalz darauf mit der Neuaufstellung des kommunalen Finanzausgleichs (KFA) zum 1.1.2014 reagiert. Unter anderem werden nun strukturelle Determinanten wie der demografische Wandel einbezogen. Allgemein werde in den KFAs zu wenig berücksichtigt, dass „unterschiedliche Gebietskörperschaftsgruppen auch unterschiedliche Soziallasten zu tragen haben“. Der strukturelle und demografische Wandel fällt in den Gebieten verschieden aus und braucht entsprechend differenzierter Antworten. Steinbach kritisierte, dass die Länder durch die Schuldenbremse in ihrer Handlungsfreiheit sehr stark eingeschränkt wurden. Mit manchen Aufgaben seien sie schlicht finanziell überfordert und würden vom Bund alleingelassen, der sich zum Zweck der eigenen Konsolidierung aus der Mischfinanzierung in vielen Bereichen verabschiedet habe.

Ralph Bürk, Berater für Finanzpolitik der grünen Landtagsfraktion in Baden-Württemberg, forderte daher auch eine Reform des Länderfinanzausgleiches (LFA) mit folgende Bausteinen: Ein erster Schritt wäre die Abschaffung des horizontalen Finanzausgleichs. Stattdessen sollte die Verteilung der Länderanteile an der Umsatzsteuer genutzt werden, um die verschiedenen Bedarfe der Länder zu berücksichtigen. Zusätzlich müssten auch die Determinanten strukturelle Arbeitslosigkeit und Demografie mit in das Konzept aufgenommen werden. Finanzieren ließe sich dieses Modell mit einer Umverteilung von circa 10 % des Länderanteils an der Umsatzsteuer.

Für „echte grüne Konzepte“ sah Bürk übrigens keinen Zeitdruck, da der Länderfinanzausgleich erst mit dem Auslaufen des „Solidarpakt II“ 2019 reformiert würde – diese Einschätzung teilte das Publikum indes nicht. Auch Steinbach sah keine schnelle Lösung, er nannte die politische Diskussion um neue Finanzausgleiche einen „vermachteten Prozess“, der auch bei den Grünen von sehr unterschiedlichen Interessen geprägt sei: „Ich bin im höchsten Maße skeptisch, ob wir Grünen in zehn Jahren etwas entwickelt haben, auf das wir stolz sein können.“ Er ziehe einen „inkrementellen Politikfortschritt großen Konzepten“ vor.

Forum 3: Bildung vernetzen! Kommunale Bildungslandschaften als Verantwortungsgemeinschaften

Traditionelle Routinen zu ändern ist schwer. Dieser Erfahrungswert von Moderatorin Sybille Volkholz (Berliner Schulsenatorin a. D.) gilt insbesondere, wenn man Schule und Jugendhilfe in einer kommunalen Bildungslandschaft zusammenbringen will.

Das bestätigte die Freiburger Bürgermeisterin Gerda Stuchlik, sie ist als Dezernentin u. a. für Jugend, Schule und Bildung verantwortlich. Die Jugendhilfe habe „Angst, vom System Schule aufgesogen zu werden“. Auf der anderen Seite dürfe man als Kommune den Lehrern nicht einfach ein Programm aufbrummen, sondern müsse konkrete Hilfen anbieten. Freiburg verfolgt seine Leitziele – bestmöglicher Bildungserfolg, Heterogenität als Chance, Ausbildungsfähigkeit erhöhen – mittels vieler Gremien: Es gibt einen Steuerkreis, in dem alle Dezernate vertreten sind, einen Beirat aus VertreterInnen von den Ämtern bis zur Arbeitsagentur, eine Stabsstelle, bei Bedarf Arbeitsgruppen und schließlich die Bildungskonferenz, in der z. B. Erzieher oder Vereine aufeinandertreffen. Eine Besonderheit ist, dass die 74 Schulen, der Schulpräsident und der Oberbürgermeister alle drei Jahre ihre Vereinbarung erneuern. Darin steht, was die Schulen beitragen und welche Unterstützung sie von der Stadt bekommen. Das sei sehr wichtig, betonte Stuchlik, „sonst verliert es sich irgendwann im Schulalltag“.

In der Bildungsregion Ostalbkreis ist der Landkreis nur für die beruflichen Schulen zuständig und tritt an die Kommunen mittels Projekten und Empfehlungen heran, skizzierte Ralf Wagenknecht den Spielraum seines Kreises. Wie der Referent des Landrates berichtete, hat sich das multiprofessionelle Team des Bildungsbüro erst nach zwei bis drei Jahren – vor allem über den persönlichen Kontakt – Akzeptanz verschaffen können.

Die gleichen Erfahrungen mussten die „verwaltungsfremden“ Pädagog/innen, Soziolog/innen und Psycholog/innen im Rems-Murr-Kreis machen, erinnerte sich der Fachbereichsleiter Bildungsmanagement, Benjamin Wahl. Dort hatte die Bestandsaufnahme ergeben, dass die BürgerInnen die durchaus vorhandenen und guten Angebote nicht kannten. Darauf wurde mit einem Konzept für die Bildungsberatung reagiert: Dazu gehören sog. Bildungslotsen, die in ihrer haupt- oder ehrenamtlichen Funktion als Erzieher/innen oder als Elternbeiratsvorsitzende schon Kontakt zu den Eltern haben. Außerdem gibt es eine aufsuchende Bildungsberatung in der Stadtbücherei oder den Läden der Tafel, niedrigschwellig und ergebnisoffen. Wahl brachte ein Beispiel aus den über 500 Gesprächen: Eine Frau mit Migrationshintergrund erfuhr erst bei dieser Gelegenheit, dass es nur zwei Häuser weiter ein Sprachcafé gebe.

Input aus der Beratung von Kommunen kam von Frank Pfänder (Beratungsstelle des Landesprogrammes Bildungsregionen) und von Sabine Süß (Stiftungsverbund „Lernen vor Ort“).  Gerade am Anfang würde „Vorzeigbares“ erwartet, daher riet Pfänder, sich Ziele zu setzen, etwa über einen Leitbildprozess. Süß wies darauf hin, dass Stiftungen nicht nur Geld, sondern auch Know-how beisteuern können. Um externe Akteure einzubinden, müsse man sie auf ihrer Ebene ansprechen und Zusammenhänge vermitteln. Wie dem südhessischen Handwerkskammer-Vertreter, der sagte: „Was soll ich mit diesen Familien, Frau Süß? Ich will Fünfzehnjährige, die rechnen, schreiben und lesen können und sich ordentlich benehmen “. Mit dem Konter „Ja, wachsen die am Baum? Wo kommen die her?“ kamen dann beide Seiten doch ins Gespräch.

Forum 4: Prostitution in der Kommune

Mit Berichten aus Essen und Stuttgart begann das von Annette Goerlich (HBS Baden-Württemberg) moderierte Forum. Christine Müller-Hechfellner, Fraktionssprecherin der Grünen in Essen, schilderte einen Verdrängungsprozess: Bis 1999 war der Straßenstrich innerhalb des Sperrbezirks am Bahnhof geduldet. Die CDU-Mehrheit verdrängte ihn in ein Gewerbegebiet, nach Beschwerden wurde der Sperrbezirk in ein Gebiet ohne Infrastruktur verlagert, was die Sicherheit der Prostituierten massiv gefährdete. Als 2007 die Industrie diese Fläche erschließen wollte, musste erneut ein Ausweichgebiet gefunden werden. In Abstimmung mit den Anliegern entstand auf einen ungenutzten Kirmesplatz ein langfristiger Standort mit fest installierten Verrichtungsboxen und Containern für Sozialdienste. Für die Stadt ist das eine „Gratwanderung“, sagte Müller-Hechfellner: Der ordnungspolitisch erschlossenen Raum biete den Prostituierten zwar Sicherheit, mit dem bereitgestellten Kirmesplatz werde aber auch die Prostitution gefördert. Die meisten Frauen seien eben keine selbständigen Sexarbeiter/innen, sondern Armutsmigrant/innen osteuropäischer Herkunft.

Die Idee der Verrichtungsboxen überzeugte Veronika Kienzle nicht ganz, da sie die Lebenssituation der Prostituierten außerhalb des ausgewiesenen Bereiches nicht im Blick habe. Wie die ehrenamtliche Bezirksvorsteherin von Stuttgart-Mitte berichtete, befindet sich das Rotlichtmilieu ihrer Stadt mitten in der Altstadt. In den letzten zehn Jahren habe sich das relativ friedliche „Nebeneinander“ zu einer „gravierenden Schieflage“ gewandelt: weil die EU-Osterweiterung in Form vieler junger, oft minderjähriger Prostituierter aus Rumänien und Bulgarien deutlich sichtbar werde und die Stadt der immer aggressiveren Immobilienwirtschaft des Milieus anfangs zu wenig entgegengesetzt habe. Der Bezirksbeirat reagierte darauf mit einem runden Tisch. An ihm wirkten alle mit, Prostituierte und Bordellbetreiber, Hells Angels und der Pfarrer, Anwohner und Hausbesitzer, Gastronomen und die Verwaltung. Das Hilfsangebot für Prostituierte in den bereits bestehenden Anlaufstellen wurde ausgebaut und die Stadt versucht, so viele Häuser wie möglich zurückzuerwerben. Beim Ordnungsbürgermeister und der Polizei herrsche aber noch oft „große Hilflosigkeit“ gegenüber den juristischen Kniffen des Milieus und den damit einhergehenden jahrelangen Rechtsstreiten. Laut Kienzle versuche die Stadt vermehrt baurechtliche Schritte zu nutzen, um mit Hilfe der Dienstbarkeit oder dem Vorverkaufsrecht in ausgewiesenen Sanierungsvorranggebieten „Land zu gewinnen“.

Thekla Walker, grüne Landesvorsitzende von Baden-Württemberg, kritisierte, dass die Kommunen bei diesem Thema mit vielen Fragen und Graubereichen alleine gelassen werden. Etwa bei den Arbeitsbedingungen der Prostituierten, entsprechende Beratungsangebote beispielsweise müssten als freiwillige Leistung der Kommunen in den Haushaltsberatungen Jahr für Jahr „schwer erkämpft werden". Außerdem fehlen Regelungen: „Es ist schwerer, eine Pommesbude zu eröffnen als ein Bordell." Daher sei auf Bundesebene ein Prostitutionsstättengesetz geplant, um ein eigenes Recht für dieses Gewerbe zu schaffen, das eben nicht sei wie jedes andere Gewerbe.

Forum 5: Intermodalität – Vernetzung öffentlicher Verkehrsangebote

„Intermodal“ ist man unterwegs, wenn man für eine Wegekette verschiedene Verkehrsmittel nutzt. Zur besseren Verknüpfung der einzelnen Verkehrsträger helfen Internetplattformen oder Apps – diese Aspekte standen im Mittelpunkt des Forums. Was ist Zukunftsmusik, was ist schon Realität, zumindest in bestimmten Regionen oder Bevölkerungskreisen? Michael Walther (HBS) hatte eine muntere Diskussion zu moderieren.

Intermodalität beschäftige derzeit eher die Ballungsräume, sagte Till Ackermann vom Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) und nannte als Beispiel die stationsunabhängigen („free floating“) Carsharing-Angebote. Zukünftig würde dies aber auch in den ländlichen Raum dringen, etwa in Form von Pedelec-Abstellanlagen an Schnellbushaltestellen. Er ist beim VDV für Bereiche Telematik, Informations- und Kommunikationstechnik zuständig und ließ die Zahlen sprechen: Die Jugend sei bereits zu 99,99% im Internet, zu zwei Dritteln auch schon online mobil. Derzeit würden 29 % der DB-Tickets über das Internet gekauft, bis 2020 soll der Anteil auf die Hälfte ansteigen. Jeder zweite Smartphone-Besitzer nutzt eine App für öffentliche Verkehrsmittel – Ackermann erwartet, dass das Handy zum persönlichen Reiseassistenten werden wird. Der VDV will nun die vorhandenen Plattformen vernetzen. Das sei zugegebenermaßen ein „wahnsinnig dickes Brett“, aber: „wenn wir das nicht tun, macht das dann Google oder ein kleines Berliner Startup“. Das Publikum teilte die Ansicht, dass ein solches Projekt besser in der Hand kommunaler Verkehrsunternehmen liegt. Aber auch mahnende Stimmen blieben nicht aus: Wo bleiben die älteren Menschen, die mit Smartphones nichts anfangen können? Wie baut man in so eine App Sozialtarife ein?

Heidi Krömker maß die Dicke dieses Brettes aus. Das Mobilitätsverhalten ist vielschichtig und die Erwartungen ans Informationsangebot sind hoch: Der Berufspendler will pünktlich nach Hause kommen und schnelle Infos über Verspätungen, die Touristin hat „kaum Systemwissen“, etc. Die vorhandenen Apps sind zudem nur monomodal, d. h. sie enthalten nur Infos eines Anbieters. Gebraucht werden offene Schnittstellen und Standards. Entsprechendes Handwerkszeug hat die Leiterin des Fachgebietes Medientechnologie an der Technischen Universität Ilmenau im Projekt „IP-KOM-ÖV“ für die Kommunikation zwischen den Verkehrsunternehmen/-verbünden und dem Fahrgast entwickelt. Nach ihrem grundlegenden Verständnis geht es nicht um Mobilität an sich, sondern um die Handlungsabsichten eines Individuums.

In diese Richtung zielt auch das Projekt „Stuttgart Services“ im Rahmen des Schaufensters Elektromobilität Baden-Württemberg. Es vereint E-Mobilität, Bürgerservice und Shopping und wurde vom Leiter der städtischen Abteilung Mobilität, Wolfgang Forderer, vorgestellt. Entwickelt von der Firma Bosch, entsteht eine Plattform für viele Dienste inklusive Bezahlfunktion. Ab Anfang 2015 sollen die ersten „ServiceCards“ an StuttgarterInnen ausgegeben werden. Sie hätten dann nicht nur ein elektronisches Öffi-Ticket, sondern gleichzeitig den Bibliotheksausweis, eine  Schwimmbadkarte oder die Zugangsberechtigung für das Carsharing-Angebot „Car to Go“ in der Hand. Zudem baue die BW-Bank ein lokales Bonussystem auf, um auch noch die ortsansässigen Händler einzubinden. Das Publikum staunte und fragte nach dem Datenschutz: Es gebe kein „Datenpooling“, sondern bilaterale Verträge, sagte Forderer, und: Ohne datenschutzrechtliches OK gebe es auch kein grünes Licht vom Gemeinderat.

Forum 6: Flächenmanagement zwischen Wohnungsnot, Mietpreisboom und Leerständen

Wer nachhaltiges Flächenmanagement betreiben will, muss mehrere Zielkonflikte bewältigen: Die Moderatorin Sabine Schlager, Geschäftsführerin der GAR Baden-Württemberg, machte bereits zu Beginn deutlich, wie schwierig diese Aufgabe ist. Die Kommunen hoffen bei neuen Bau- und Gewerbeflächen auf steigende Einnahmen aus der Einkommens- und Gewerbesteuer. Bauland auf der grünen Wiese ist dabei vielfach schneller, preisgünstiger und unkomplizierter zu erschließen als Baulücken und Brachen im Innenbereich. So berichtete die Staatssekretärin im Ministerium für Verkehr und Infrastruktur in Baden-Württemberg, Gisela Splett, dass sich die Kommunen vehement gegen schärfere Kriterien für die sog. Plausibilitätsprüfung bei der Genehmigung von Baugebieten wehren.  Wie die systematische Beobachtung des Flächenverbrauchs durch das Ministerium zeigt, haben konjunkturelle Schwankungen zurzeit noch größere Effekte als politische Appelle oder Regulierung. Gleichwohl hatte die Staatssekretärin konkrete Ansatzpunkte für steuernde Instrumente auf Landesebene: Sie setzt einerseits auf die Lenkungswirkung von Förderprogrammen, daneben auf die Wirkung von Best-practice-Beispielen und nicht zuletzt auf die Überzeugungskraft der Vorteile der Innenentwicklung: Auslastung der öffentlichen Infrastruktur, Erhalt der Ortskerne, niedrigere Infrastrukturkosten.

Aus München berichtete der Referent für Umwelt und Gesundheit, Joachim Lorenz: Trotz der hohen Wohnungsnachfrage will seine Stadt vermeiden, dass sozial schwache Bevölkerungsgruppen verdrängt werden, daher unterliegen mietpreiserhöhende Sanierungsmaßnahmen mit dem ordnungspolitischen Instrument des Milieuschutzes einer besonderen kommunalen Kontrolle. Insgesamt kommt die bayerische Landeshauptstadt nicht umhin, weiter in die Fläche zu wachsen und "nachzuverdichten". Hier muss man klimatechnisch genau hinsehen und prüfen, wo man Grünzüge und Kaltluftschneisen erhalten sollte. Auch der Dialog mit der Nachbarschaft ist wichtig, hob Lorenz hervor. Am Stadtrand praktiziert München erfolgreiche Aufstockungen, auch mithilfe steuerlicher Vergünstigungen. Doch eine effektive Nachverdichtung ist allein von den Kommunen nicht zu leisten: sie brauchen mehr Stadt-Umland-Kooperationen und von den Bundesländern die planerischen Voraussetzungen.

Ein weiteres Problem ist der sich durch den demografischen Wandel verändernde Bedarf an Wohnraum. Nach der Schilderung von Stefan Flaig von der Agentur für Umweltkommunikation „ÖKONSULT“ ist es den Bürgermeistern oft nicht bewusst, dass es in ihren Ortschaften künftig ein Überangebot an Wohnraum geben wird, der zudem "unternutzt" sei. Mit ihrer Ausweisung von Neubaugebieten zielen Kommunen auf eine immer kleiner werdende Gruppe ab – die der jungen und bauwilligen Familien. Hingegen würden 90 % der befragten Senior/innen in den kleinen Gemeinden gar keinen Garten mehr besitzen wollen, und könnten sich durchaus vorstellen, in altersgerechte Wohnungen umzuziehen. Innenentwicklung sei also machbar – allerdings ist hier noch viel Bewusstseinsbildung vonnöten, war sich Flaig mit Splett einig.

Die Staatssekretärin forderte zudem mehr Mut der kommunalen Gremien ein, hat für diese aber auch schon eine Argumentationshilfe parat: Der "Kostenrechner für Flächenausweisung" gibt erste Anhaltspunkte dafür, ob eine Flächenausweisung auch langfristig wirtschaftlich sei. Beispielhaft nannte Splett Crailsheim. Dort ergab diese Prüfung, dass es wirtschaftlicher ist, Grundstücke in der Stadt zu nutzen, als ein halb belegtes Gewerbegebiet zu unterhalten.

Aus dem Publikum kam schließlich noch ein weiterer Aspekt in die Diskussion: Liegenschaftsmanagement betreiben nur wenige Mitarbeiter/innen einer Verwaltung, und deren Handeln sei von Haushaltszwängen dominiert. Themen wie Wohnraummanagement, Nachbarschafts- und Quartiersbezug, Nähe zum Arbeitsplatz oder gar kommunale Wohnraumkonzepte sind in den Rathäusern hingegen personell kaum abgedeckt.

Zu guter Letzt Hildenbrand: Anstrengung und Anerkennung

Verabschiedet wurden die Teilnehmenden nach einem inspirierenden Kongress von Oliver Hildenbrand. Kommunalpolitik könne zugegebenermaßen auch anstrengend sein, der Landesvorsitzende der baden-württembergischen Grünen wollte seinem Ministerpräsidenten an einem Punkt aber nicht zu 100 % folgen. Laut Kretschmann müsse Politik keinen Spaß machen, sondern Sinn – Hildenbrand hingegen wünschte den grünen Kommunalis auch viel Freude an ihrem großen Einsatz. Last but not least zollte er ihnen Respekt und Anerkennung: „Als Partei, die in der Kommunalpolitik verankert ist, ist für uns euer vielfältiges Engagement extrem wichtig.“ Als kleines Dankeschön konnten sich die Teilnehmenden eine Sonnenblume mit nach Hause nehmen.

Ein Artikel von Rita A. Herrmann, Mitarbeit: Evelyn Kuttikattu, Michael Stöckel