Serbien zwischen allen Stühlen

Straßenszene in Belgrad
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In welche Richtung orientiert sich Serbien? Im Bild eine Straßenszene in Belgrad

Will Serbien zur russischen Einflusszone gehören oder der Europäischen Union beitreten? Eine Analyse der serbischen Innen- und Außenpolitik im Hinblick auf das Verhältnis zu Russland, der Europäischen Union und seiner Nachbarn.

Ende Oktober brachte eine Meinungsumfrage zutage, dass 70 Prozent der Serben enge Beziehungen zu Russland wünschen und 50 Prozent Serbiens Beitritt zur Europäischen Union. Einen Widerspruch sehen hier nur 30 Prozent, die sich entschieden für enge Beziehungen zu Russland statt eines Beitritts zur EU aussprechen. Serbien sitzt auf zwei Stühlen, schlussfolgerte das Meinungsforschungsinstitut. Mit dieser Haltung des Sowohl-Als auch folgt die Bevölkerung den offiziellen Verlautbarungen seiner Regierenden. Die veröffentlichte Meinung, die sich auf die Rolle eines Sprachrohrs der Regierung beschränkt, bietet ja auch keine Alternativen.

Der Kurs von Serbiens Regierungskoalition aus der Serbischen Fortschrittspartei von Parteichef und Ministerpräsident Aleksandar Vučić und der Sozialistischen Partei Serbiens von Parteichef und Außenminister Ivica Dacić schlingert zwischen unermüdlichen Bekenntnissen zur EU und der faktischen Befestigung von Serbiens Abhängigkeit von Russland. Dies ist das Ergebnis heftiger Konflikte hinter den Kulissen. Vučić versucht im Stil des autoritären populistischen Führers das Land vor dem Chaos des Bankrotts zu retten, er sucht dazu Rat und Unterstützung des Westens, d.h. von Weltbank, IWF, EU und insbesondere der deutschen Bundeskanzlerin. Er kündigt die Modernisierung des Landes an und unternimmt auch erste Schritte, die seine Popularität gefährden werden. Ihm stehen mächtige Gegner gegenüber: der Gründer der Fortschrittspartei und heutige Staatspräsident Tomislav Nikolić und ebenso der sozialistische Koalitionspartner, der die einträgliche Rolle eines Statthalters russischer Interessen wahrnimmt und Vučić Politik zu konterkarieren versucht.

Zu den gewichtigen Gegnern im Regierungslager kommt noch eine schwache, wegen der Eitelkeit des abgewählten früheren Präsidenten Boris Tadić zersplitterte Opposition im Parlament. Langfristig wichtiger könnte die Opposition werden, die sich nach ihrem Scheitern bei den letzten Wahlen derzeit außerhalb des Parlaments neu formiert. Die nationalkonservative Demokratische Partei Serbiens hat seit dem Abgang ihres langjährigen Führers Vojislav Koštunica ein Bündnis mit der rechtsradikalen Bewegung Dveri geschlossen, mit dem sie ihre europafeindliche Haltung und ihre Forderung nach größtmöglicher Annäherung an Russland radikaler formuliert und bei Neuwahlen wieder ins Parlament einziehen dürfte. Sie fordert eine öffentliche Debatte über den Beitritt zur EU und ein Referendum. Unangenehmer noch dürfte für Vučić und Nikolić die Rückkehr Vojislav Šešeljs nach Belgrad sei.

Heimkehr des antieuropäischen Großserben

Der Führer der Radikalen Partei Serbiens wurde bis zur Urteilsverkündigung aus der Untersuchungshaft des Haager Strafgerichtshofs nach Serbien entlassen. Die Heimkehr dieses schrillen, extrem vulgären und obszönen antieuropäischen ethnonationalistischen Großserben wird seiner Partei, die derzeit ebenfalls nicht im Parlament vertreten ist, deutlichen Auftrieb geben. Unwidersprochen darf Šešelj in der serbischen Öffentlichkeit seine Freude über den Mord am „Verräter“ Zoran Đinđić ausdrücken, der die Abkehr von Russland und die Hinwendung zu Europa eingeleitet habe. Verräter sind für ihn auch Vučić und Nikolić, die 15 Jahre Šešeljs treueste Kampfgefährten waren und sich 2008 mit der Gründung ihrer europafreundlichen Fortschrittspartei von diesem Radikalnationalisten trennten. Auch wenn Šešelj seinen Einfluss im Serbien des Jahres 2014 überschätzen mag: mit der Veröffentlichung von Details aus der gemeinsamen Kampfzeit wird er sie sicher unter Druck setzen und nationalistische Gesten und die Verstärkung des russischen Einflusses provozieren können.

 

Verdeckt wird der Konflikt durch die Rhetorik der Neutralität, mit der sich Serbien aus dem Konflikt zwischen den USA und der Europäischen Union auf der einen und Russland auf der anderen Seite herauszuhalten vorgibt. In der Tat wünscht sich Serbien in dieser Position zu sehen. Es gibt wahrscheinlich kein Land, das sich so sehr die Rückkehr zum Kalten Krieg wünscht wie Serbien. Denn mit der Politik der Bündnisfreiheit glaubt die serbische Politik an ein erfolgreiches Kapitel der Politik Jugoslawiens anknüpfen zu können, als das Land umworben war und aus seiner Zwischenlage Vorteile ziehen konnte. Heute aber verhandelt Serbien den Beitritt zur Europäischen Union, und die serbische Führung kann nicht erklären, was sich Serbien von diesem Beitritt außer Geld und Investitionen verspricht. Will Serbien zur russischen Einflusssphäre und zum Block der auf ethno-nationaler Basis gelenkten Demokratien gehören oder will es der Europäischen Union beitreten, in der die Mitgliedsländer ihre nationalen Interessen durch Transformation in eine neue Zwischen- und Überstaatlichkeit zu wahren suchen?

Zwei Ereignisse im Oktober 2014 zeigen, wie es um die politische Führung in Belgrad bestellt ist: Die Militärparade zu Ehren des russischen Präsidenten Putin am 17. Oktober und die Absage des ersten Treffens zwischen einem serbischen und albanischen Ministerpräsidenten seit fast 70 Jahren als Folge von Ausschreitungen bei einem Fußballspiel zwischen Serbien und Albanien in Belgrad am 14. Oktober.

Ehrengast Putin

Damit Putin auf seiner Reise zum Asien-Europa-Gipfel in Mailand am 17. Oktober auch einen Abstecher nach Belgrad machen kann, wurde für ihn die Feier der Befreiung Belgrads von den Nazi-Besatzern am 20. Oktober 1944 vorverlegt. Belgrad wurde damals durch die Einheiten der jugoslawischen Partisanenarmee und die 3. Ukrainischen Front der Roten Armee befreit. Im Belgrad des Jahres 2014 durfte Putin, ganz wie er es sich auch für die Ukraine wünscht, die Ukrainische Front repräsentieren. Ehrengäste waren neben vielen bekannten Nationalisten und Heimkehrern von der aktuellen ukrainischen Front - sie hatten als “Tschnetniks“ an den Kämpfen auf der Krim teilgenommen - auch die russische rechtsnationalistische, antisemitische und schwulenfeindliche Motorrad-Gang „Graue Wölfe“, mit denen Putin sich gerne einmal in schwarzem Leder zeigt. Diese Wölfe waren ihm bei der Annexion der Krim und dann im August 2014 in Sewastopol bei der monomentalen Show zur Feier der Heimkehr der Krim nach Russland und ihrem Feindbild einer von Kiewer „Faschisten“ kontrollierten Ukraine vor mehr als 100.000 Teilnehmern sehr zu Dienste.

Geschichtsmächtige Camouflage

Ganz in diesem Sinne warnte Putin in Belgrad vor der Wiedergeburt des Faschismus in der Ukraine und im Westen. Das war ganz nach dem Geschmack des serbischen Staatspräsidenten Nikolić, der klare Unterscheidungen zwischen Freund und Feind, gut und böse liebt. Mit Russland sei Serbien immer auf der richtigen Seite gewesen und habe alle Kriege ehrenvoll gewonnen. Nur scheinbar steht dazu im Widerspruch, dass Nikolic seit seiner Zeit als aggressiven Nationalist und Kämpfer für Großserbien im Krieg gegen die Kroaten wie sein Vorbild Šešelj ein weithin anerkannter Tschnetnik Führer geblieben ist, also in der Tradition der royalistischen Nationalisten und Feinde der Partisanen ein Anti-Anti-Faschist. Aber genau das ist ja auch Putin. Die Erinnerung an den Faschismus dient ihm und einer Jugendorganisation wie den Grauen Wölfen als geschichtsmächtige Camouflage seines aggressiven Nationalismus, der andere Länder unter dem Vorwand des Schutzes russischer Minderheiten unter seine Botmäßigkeit zwingen will. Der Anti-Anti-Faschismus Putins und Nikolić‘ ist die Feier der Brüderlichkeit derer, die gleichen Bluts sind und einer orthodoxen Kirche angehören.

Putin, der in die Militärparade mit sichtbarem Desinteresse über sich ergehen ließ, war aber nicht nur wegen der Huldigungen seines Beitrags zu Frieden und Brüderlichkeit in Belgrad. Denn die panslawisch-orthodoxe Brüderschaft bezeichnet auch eine russische Interessensphäre, die drei Ziele verfolgt: Demonstrative Unterstützung für die russische Politik gegenüber der Europäischen Union und den USA. Behinderung des Beitritts zur Europäischen Union bzw. Sicherung des russischen Einflusses auch nach einem späteren Beitritt und schließlich Sicherung russischer ökonomischer Interessen, um Russlands Kontrolle über ein ökonomisch sehr schwaches Land auszudehnen.

Der Demonstration der Unterstützung der russischen Position diente die Parade und wird von der Weigerung Serbiens unterstrichen, den von der EU verhängten Sanktionen gegen Russland beizutreten. Russlands ökonomische Interessen wiederum zielen auf zweierlei: die Sicherung der dominanten und sehr profitablen Stellung der russischen Gas- und Ölindustrie in Serbien und deren Nutzung für politischen Druck und Einfluss – heute und auch über den Zeitpunkt eines EU-Beitritts hinaus. Putin lud Serbien ein, seine Agrarexporte nach Russland zu steigern und so einen kleinen Teil der durch die russischen Gegensanktionen ausgesperrten EU-Exporte zu ersetzen. Das war als Provokation gedacht, denn eine für den russischen Bedarf bedeutsame Ausweitung der serbischen Agrarexporte ist wegen der geringen serbischen Kapazitäten gar nicht möglich. Denn Russland importiert pro Jahr Agrarprodukte im Wert von 30 Milliarden Euro, Serbien liefert davon mit etwas über 200 Millionen Euro weniger als 1 Prozent.

Aber bei der Kontrolle der serbischen Öl- und Gasindustrie und Energieinfrastruktur, die dereinst noch durch den Bau der South Stream Gaspipeline von Russland durch das tiefe Schwarze Meer1 sehr kostspielig oder vielleicht wesentlich günstiger über einen noch zu erobernden Landkorridor entlang des Schwarzen Meeres nach Transnistrien und dann weiter über Bulgarien und Serbien nach Ungarn befestigt werden soll, geht es um wirklich wichtige strategische Interessen.2 Denn als Energielieferant hat Moskau dem Balkan und großen Teilen Ost- und Mitteleuropas ein begehrtes Gut zu bieten, das wegen des Fehlens eines Weltmarkts und wegen unzureichender regionaler Zusammenarbeit „politische“ Preise gestattet und immer wieder für die politische Erpressung genutzt werden kann. Diese Position will Russland ausbauen und wird darin von maßgeblichen politischen Kreisen in Serbien unterstützt, die für die politische Unterstützung des UN-Sicherheitsratsmitglieds Russland in der Kosovo-Frage jeden Preis zu zahlen bereit sind.

Als sich die Unabhängigkeitserklärung der Republik Kosovo abzeichnete, hat die serbische politische Führung des Nationalkonservativen Vojislav Koštunica, gefolgt vom sozialdemokratischen Präsidenten Boris Tadic unter Umgehung zahlreicher Gesetze und Verletzung der Verfassung im Jahr 2008 einen Anteil von 59 Prozent der serbischen Öl- und Gasmonopolisten Naftna Industrija Srbije an Russland verkauft – und dies zu außergewöhnlich günstigen Konditionen.3 Damit nicht genug, wurden in den bei Serbien verbleibenden Teilen dieser Industrie Moskau genehme Manager eingesetzt. Die kommen überwiegend aus der Sozialistischen Partei Serbiens, der Partei Slobodan Milosevics, die ihren Namen und die Kontrolle über weite Teile des serbischen öffentlichen Sektors und der Unternehmen in staatlichem Besitz behalten hat. Zu diesen Unternehmen gehört auch Srbijagas, das unter der fürstlich entlohnten Leitung des sozialistischen Politikers (und Mitglied des serbischen Parlaments) Dušan Bajatović in den letzten drei Jahren 1,2 Mrd. Euro Schulden angehäuft hat, die den serbischen Staat dem Bankrott einen Schritt näher bringen.

Erdgas als Druckmittel

Srbijagas kauft das Gas teuer bei einem Zwischenhändler ein und gibt es unter Preis an Haushalte und Unternehmen weiter. Einer Bestechung kommen die zahlreichen Fälle gleich, in denen belieferte Unternehmen die Gasrechnung unbeanstandet nicht bezahlen und der Staat als Eigentümer die entstehenden Schulden dann in seine Bücher nimmt. So gehen in Serbien auch zahlreiche private Haushalte mit ihren Strom- und Gasrechnungen um.4 Die staatlichen Energieunternehmen dulden diese Zahlungsverweigerung. Mit Bezug auf die privaten Haushalte helfen sie so, die Energiearmut breiter Bevölkerungskreise5 zu verhindern. Auf der anderen Seite widerspricht diese Art „sozialer Energiepolitik“ jeder Wahrheit und Klarheit der Haushaltsführung, der demokratischen Rechenschaft, der Gültigkeit und Durchsetzbarkeit von Verträgen und der Verantwortung der Haushalte für einen sparsamen Umgang mit Energie. Im Gegensatz dazu führen die nicht-deklarierten Energiesubventionen der serbischen Unternehmen dazu, dass wenige Private durch hohe Gehälter und die Gewinne des Zwischenhändlers profitieren, während der Staat für die entstehenden hohen Verluste aufkommen muss. Zusätzlich schreiben die Energiesubventionen die niedrige Produktivität vieler Unternehmen fest und behindern ihre Modernisierung. Zu den Gewinnern gehören auch die vielen Parteigänger der Sozialisten, die oft ohne Rücksicht auf ihre Qualifikation in Srbijagas Unterschlupf finden. Bajatović sitzt zudem beim russisch-serbischen Zwischenhändler Yugorosgaz im Vorstand und bezieht auch dort ein exorbitant hohes Gehalt. In dieser Eigenschaft hat er kürzlich den Vertrag von Yugorosgaz mit Gazprom um weitere 10 Jahre verlängert.6

Serbien zahlt mehr für Gas als der europäische Durchschnitt

Aber die serbische Gesellschaft zahlt nicht nur für Misswirtschaft, Korruption und Parteipatronage einen hohen Preis, der sich in einem stetig steigenden Staatsdefizit und einem stetig sinkenden Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der öffentlichen Institutionen niederschlägt. Sie zahlt auch einen extrem hohen Preis für das russische Gas, der sie stetig in eine steigende Abhängigkeit von Moskau zwingt. Von der Ukraine fordert Russland seit April 485 Dollar pro 1000 m3, aktuell wurde ein Preis von 385 Dollar vereinbart; Litauen zahlt 370 Dollar. Verglichen mit diesen Ländern, die zu Russland sehr spannungsreiche Beziehungen haben, zahlt das mit Russland brüderlich verbundene Serbien mit 485 Dollar einen Preis weit über dem europäischen Durchschnitt von etwa 380 Dollar. Der wird durch die Einschaltung eines Zwischenhändlers sogar noch erhöht. Serbien hat auch zu keiner Zeit von den derzeit fallenden Weltmarktpreisen für Öl und in ihrer Folge fallenden Gaspreisen profitiert. Serbien ist wegen geringer eigener Produktionskapazitäten und seiner einseitigen Ausrichtung auf Russland in hohem Maß von russischem Gas abhängig. Im Falle eines längeren russischen Gasexportstopps sind 60 bis 80 Prozent seiner Gasversorgung gefährdet. Die hohe Gasrechnung führt zu stetig wachsenden Schulden beim Gaslieferanten Gazprom, die das überschuldete Serbien nun durch Übertragung von Anteilen an Staatsunternehmen begleichen möchte. Diese Entschuldung durch Privatisierung zu Gunsten des russischen Gläubigers stockt zwar im Augenblick, weil die Bewertung der meist maroden Unternehmen Schwierigkeiten macht.7 Aber die Richtung ist einer stetig steigenden ökonomischen Abhängigkeit ist klar erkennbar.

Diese Abhängigkeit von russischem Gas, der überdurchschnittlich hohe Preis und die ganz offen korrupte Bewirtschaftung der serbischen Gasversorgung haben im vergangenen Jahr für kurze Zeit zu einer öffentlichen Debatte über diese ruinöse und mit Bezug auf die Annäherung an die EU kontraproduktive Politik geführt. Die damalige serbische Energieministerin Zorana Mihajlović von der Serbischen Fortschrittspartei stellte die Rechtmäßigkeit der mit Russland abgeschlossenen Verträge und Höhe des zu zahlenden Gaspreises in Frage. Sie schlug Neuverhandlungen vor und kritisierte Dušan Bajatović vom sozialistischen Koalitionspartner, die Schlüsselfigur der serbischen Gasindustrie, wegen der stetig wachsenden Verluste von Srbijagas. Das Ergebnis dieser Debatte ist eindeutig: Auf Intervention von Staatspräsident Nikolić und des Kreml wurde sie zur persona non grata der Energiepolitik. Als nach den vorgezogenen Parlamentswahlen vom März 2014 der Wahlsieger Aleksandar Vučić und der Noch-Ministerpräsident Ivica Dacić als allererstes nach Moskau reisten, müssen sie eine klare Anweisung erhalten haben: Zorana Mihajlovic sollte nicht länger Energieministerin bleiben. Stattdessen wünschte sich Moskau einen Vertreter der Sozialisten an der Spitze dieses für seine Interessen entscheidenden Ministeriums. So ist es denn auch gekommen: Vučić musste den Sozialisten trotz eigener absoluter Mehrheit die Regierungsbeteiligung anbieten, der Sozialist Aleksandar Antić führt heute das Energieministerium. Dušan Bajatović ist weiterhin Mitglied der sozialistischen Fraktion, Direktor von Srbijagas und Vorstand des Zwischenhändlers Yugorosgaz.

Obwohl Serbiens Sozialisten Moskau zu Willen sind, gibt es erhebliche Spannungen mit Gazprom. Serbiens Schulden bei Gazprom belaufen sich auf über 200 Millionen Dollar. Die Entschuldung bei Gazprom durch Übertragung von Firmenanteilen an Russland schreitet nicht voran. Der serbische Staat muss bei einem Haushaltsdefizit von rund 7,5% die Gehälter im öffentlichen Sektor und Renten kürzen und sich jeden Dinar mit 10-jährigen Staatsanleihen auf dem internationalen Markt für mehr als 7% Zinsen leihen. Zusätzlich muss das Land seit ein paar Wochen gegen teure Devisen Strom importieren, weil die eigene Braunkohleindustrie nach den Überschwemmungen vom Mai nur eingeschränkt produzieren kann. Einige Kohlegruben des Kolubara-Gebiets sind immer noch unter Wasser und können wegen einer korrumpierten Auftragsvergabe vorerst nicht ausgepumpt werden. Dass Moskau in dieser Situation den Druck erhöht und kurz vor dem Winter die Gaslieferungen um 28 Prozent verringert, ist ein starkes Signal an die Belgrader Führung. Belgrad hält das alles für ein vorübergehendes Problem, das irgendwie mit der Ukraine zusammenhänge. Worum könnte es wirklich gehen?

Beziehungen zu Albanien

Warum wurde der für den 22. Oktober geplante Besuch des albanischen Ministerpräsidenten Edi Rama in Belgrad abgesagt? Es sollte der erste Besuch eines albanischen Ministerpräsidenten seit fast 70 Jahren werden. Wie groß der zu überbrückende Graben ist, zeigt Ramas Absicht, die albanische Minderheit in Serbien aufzusuchen und am Dimitrije Tucović-Denkmal einen Blumenstrauß niederzulegen. Der Führer der frühen sozialistischen Bewegung Serbiens (1881-1914) hatte als Teilnehmer am Balkankrieg 1912 seine Erfahrungen bei der serbischen Eroberung des Kosovo in der Schrift „Serbien und Albanien. Ein Beitrag zur Kritik der Eroberungspolitik der serbischen Bourgeoisie“ (1914) festgehalten. Darin spricht er vom „versuchten vorsätzlichen Völkermord“ der Serben an den Albanern des Kosovo. Der militärische Erfolg der Serben sei die Saat künftiger Konflikte: „In den Balkan-Kriegen hat Serbien nicht nur sein Territorium verdoppelt, sondern auch die Anzahl seiner äußeren Feinde.“ Albanien ist im Balkan in einer Serbien vergleichbaren Position, denn jenseits seiner heutigen politischen Grenzen leben Albaner im Kosovo, in Serbien, in Makedonien, Montenegro und Griechenland. Eine großalbanische Politik, die auf die Vereinigung der Albaner der Region zielte, würde zur Explosion des Balkans führen. Dasselbe gilt für Serbien, dessen großserbische Politik den Balkan in den 90er Jahren in Krieg und Genozid geführt hat. Die Normalisierung der Beziehungen Serbiens zur Republik Kosovo stockt und ist fragil. Serbien erkennt die Unabhängigkeit des Kosovo nicht an und nutzt die dort lebende serbische Minderheit für die Ausweitung seines politischen und sozialen Einflusses. Ebenso fragil ist die Beziehung zu Bosnien-Herzegowina, wo Serbien sich als Schutzmacht der Serben in der Republika Srpska, der weitgehend von Bosniaken gereinigten serbischen Entität in Bosnien-Herzegowina, sieht und von wo immer wieder Signale der Sezession und eines Anschlusses an ein größeres Serbien ausgehen. Die Verständigung zwischen Albanien und Serbien ist deshalb für die Region von größter Bedeutung und ist gemäß den Kopenhagen Kriterien für neue EU-Aufnahmen eine Bedingung für Serbiens wie Albaniens Weg zur EU-Mitgliedschaft.

Doch zunächst konnte Rama weder die albanische Minderheit und das Denkmal besuchen noch mit dem serbischen Ministerpräsidenten ein neues Kapitel in den serbisch-albanischen Beziehungen und der Kooperation im Balkan einleiten. Das ist das Ergebnis einer Reihe von Provokationen, die erst zum Abbruch des Euro-Qualifikationsspiels zwischen Serbien und Albanien am 14. Oktober in Belgrad und dann zur Absage von Ramas Besuch führten.

Die Drohne im Fußballstadion

Das Spiel stand von Beginn an unter extremen Spannungen. Albanische Fans waren zu dem Spiel erst gar nicht zugelassen. Die albanische Mannschaft stand einem fairen serbischen Team, das sich bis zum Schluss sportlich verhielt, und 30.000 serbischen Zuschauern gegenüber, die schon beim Abspielen der albanischen Nationalhymne mit Pfiffen und Sprechchören „Tötet, tötet die Shqiptaren“ – dem im Serbischen herabsetzenden Ausdruck für Albaner – störten und hetzten. Nach knapp 40 Minuten, in denen die Todesflüche nie endeten, unterbrach der Referee das Spiel, weil Feuerwerkskörper auf das Spielfeld geworfen wurden. Der Spielabbruch drohte. In diesem Augenblick erschien über dem Spielfeld eine Drohne, die ein Banner mit den Umrissen eines größeren Albaniens und der englischen Unterschrift „autochthonous“ transportierte. Von da an explodierte das Stadium. Die Sprechchöre intonierten: „Tötet die Shqiptaren, tötet die Shqiptaren! Tötet die Brüder der Kroaten!“8 Ein serbischer Spieler entfernte das Banner, als sich die Drohne dem Rasen näherte. Darauf riss es ein albanischer Spieler an sich. Eine paar Dutzend Zuschauer stürmten auf das Feld und attackierten die albanischen Spieler. Als diese sich durch den Spielertunnel in Sicherheit bringen wollten, wurden sie von Zuschauern mit Wurfgeschossen beworfen und von serbischen Sicherheitskräften geschlagen. Es ist nicht bekannt, dass zu irgendeinem Zeitpunkt ein Stadionsprecher oder ein anwesender serbischer Politiker – etwa Präsident Nikolić in der VIP Lounge - dem hasserfüllten Treiben der serbischen Hooligans entgegengetreten wäre. Auch Tage später hielt der serbische Ministerpräsident die serbischen „Tötet sie“-Sprechchöre für normalen Hooliganismus. Das sei bei Spielen zwischen Partizan und Roter Stern auch so.9

Nach anfänglichem Zögern hatte die serbische Regierung in der Zwischenzeit entschieden, dass der Besuch Edi Ramas abgesagt werden müsse, weil alleine Albanien für diesen Vorfall mit seiner großalbanischen Provokation die Verantwortung trage. Die Drohne sei von albanischer Hand gesteuert worden. Wahlweise wurden Olsi Rama, der Bruder des albanischen Ministerpräsidenten, der das Spiel von der VIP-Lounge verfolgt hatte, oder ein albanischer Fassadenkletterer als Täter angeboten, der mit der Drohne auf einen Kirchturm in der Nähe des Stadions geklettert sei und sie von dort gestartet habe – unbemerkt und ungehindert von dem riesigen Sicherheitsapparat im Vorfeld des Putin-Besuchs und der rund 4.000 serbischen Polizisten und Sicherheitskräften, die um und im Stadion postiert waren. Diese offizielle serbische Version ist so wenig plausibel, dass sich die Frage aufdrängt, wer ein Interesse an der Eskalation auf dem Fußballplatz hatte, um das größere Spiel eines neuen Kapitels zwischen Serbien und Albanien und der Kooperation auf dem Balkan zu stören. Vieles spricht dafür, dass mit dem Spielabbruch und den anschließenden nationalistischen Ausbrüchen in Serbien und Albanien die Reise des albanischen Ministerpräsidenten von interessierten und auch handlungsfähigen serbischen Kreisen verhindert werden sollte.

Hat der Balkan eine europäische Perspektive?

Die Anregung zur Reise Edi Ramas nach Belgrad war vom Balkan-Gipfel ausgegangen, zu dem Bundeskanzlerin Angela Merkel Regierungsvertreter alle Länder des Balkans am 22. August nach Berlin eingeladen hatte. Ihre Botschaft in Berlin: Der gesamte Balkan habe eine europäische Perspektive. Wie schnell der Beitritt erfolge, hänge von den Ländern des Balkans ab. Sie müssten ihre Beziehungen normalisieren, gemeinsame Infrastrukturmaßnahmen auf den Weg bringen und ihren Handel intensivieren. Für den Ausbau der Kooperation auf dem Balkan und die Entwicklung einer gemeinsamen Infrastruktur könnten Kredite der Europäischen Investitionsbank zur Verfügung gestellt werden. Mittlerweile sind Investitionen in Höhe von rund 10 Mrd. EUR im Gespräch. Angedeutet, aber nicht klar ausgesprochen wurde, dass der Beitritt der Balkan-Länder vielleicht eher kollektiv – nicht nach dem Regattaprinzip, sondern nach dem Prinzip des Geleitzugs – erfolgen könnte. Die Absage von Ramas Reise hätte auch Merkels Balkan-Initiative durchkreuzt. Deshalb intervenierte sie schließlich, als Ramas Reise gänzlich abgesagt zu werden drohte. Sie wirkte auf beide Ministerpräsidenten ein, sich auf einen neuen Termin für den Besuch zu verständigen. Der hat nun am 10. November stattgefunden.

Regionale Integration der Energieversorgung nötig

Die Bedingungen für einen erfolgreichen Besuch hatten sich verschlechtert. Serbien stellt den Abbruch des Fußballspiels als ein albanisches Komplott und Demonstration großalbanischer Pläne dar. Regierungsmitglieder betonen, Albanien, das seit Juni 2014 Beitrittskandidat ist, sei noch gänzlich unreif für den Beginn von Beitrittsverhandlungen mit der EU. Serbien bevorzugt eindeutig das Regattaprinzip und möchte die kooperative Entwicklung der Region als Beitrittskriterium vermeiden. Rama stellt die Rolle Albaniens als Schutzmacht der albanischen Minderheit in Serbien heraus und fordert – entgegen protokollarischen Vorabsprachen - die serbische Anerkennung eines eigenstaatlichen Kosovo. Sein Statement auf der gemeinsamen Pressekonferenz wurde vom serbischen Fernsehen nicht übersetzt. Staatspräsident Nikolić weigerte sich, Rama zu empfangen. Darüber hinaus aber bleiben wichtige Themen der regionalen Kooperation auf der Agenda der Gespräche mit Vučić. Dazu zählen Fragen der regionalen Integration der Energieversorgung durch eine integrierte Infrastruktur und einen entwickelten regionalen Energiemarkt. Die für 2016 erwartete neue Übertragungsleitung zwischen Albanien und Kosovo bringt das albanische Energiesystem näher an Serbien heran und könnte ein Schritt in Richtung einer integrierten Infrastruktur sein. Albanien produziert elektrische Energie zu nahezu 100 Prozent durch Wasserkraft und hat weiteres Potenzial für den Ausbau erneuerbarer Energie. Um die saisonalen und tageszeitlichen Schwankungen besser ausgleichen zu können, braucht es die Möglichkeit der Einspeisung in ein größeres regionales Stromnetz. Gemeinsam bilden Albanien und Serbien zudem den Korridor für die Verbindung Griechenlands mit anderen EU-Ländern. Ebenso wichtig sind Verhandlungen über den Beitritt Serbiens zu den Vorstufen einer regionalen Strombörse. Die ist im Vertrag über die 8. Europäische regionale Energiegemeinschaft vorgesehen, die den Balkan, Bulgarien und Rumänien und seit kurzem auch Moldau und die Ukraine umfasst. Mit der auf Januar 2015 datierten vollständigen Liberalisierung des regionalen Strommarkts soll eine solches regionales Auktionsbüro mit Sitz in Montenegro arbeitsfähig sein.

Auf der Agenda der Regierungsgespräche zwischen Serbien und Albanien standen also wichtige Themen. Die Entwicklung der regionalen Energiegemeinschaft könnte auf absehbare Zeit sogar der wichtigste Beitrag der Region zu einem der größten Vorhaben der Europäischen Union der nächsten Jahre sein: zur Europäischen Energieunion. Dieser potenzielle Beitrag würde die gleichberechtigte Teilnahme auch der Länder des Balkans rechtfertigen, die auf absehbare Zeit noch keine Mitglieder der EU sein werden. Diesseits des Marathonlaufs von Anpassungen an EU-Regulierungen, konditionierten Finanzhilfen und Fortschrittsberichten ließe sich die nicht-hierarchische Arbeitsweise der EU10 erproben, aus der dann tatsächlich eine vollumfängliche Kooperation im Rahmen einer EU Mitgliedschaft erwachsen könnte. Voraussetzung dafür ist, dass der Vertrag über die regionale Energiegemeinschaft eingehalten und mit Leben gefüllt wird. Für Serbien bedeutet das: Stopp des Baus von South Stream, solange die Kontrolle von Pipeline und Gaslieferant nicht in verschiedene Hände gelegt wird. Vor allem bedeutet das neben der drastischen Steigerung der Energieeffizienz die Diversifizierung seiner Energieversorgung – also genau das, was Russland mit Sicherheit verhindern will und was seine Statthalter in der serbischen Politik zu hintertreiben versuchen.

Nationales Interesse vorgeschoben

Serbien gefällt sich in der Rolle eines von Russland und der EU umworbenen Landes. Geradezu stolz wird verkündet, das Land trete in Übereinstimmung mit seiner Haltung zum Kosovo für die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine ein, wolle aber Russland nicht kritisieren und Sanktionen gegen Russland nicht beitreten.11 Das liege im nationalen Interesse, denn weder dürfe die panslawischen Brüderschaft noch der serbisch-russische Handel aufs Spiel gesetzt werden. Dieser Handel sei für das ökonomisch schwache Serbien einfach zu bedeutend. In Wirklichkeit hat dieser Handel längst nicht die behauptete Bedeutung. Von Beginn an waren die Erwartungen an das die im August 2000 zwischen dem Milosevic-Serbien und Russland abgeschlossene Freihandelsabkommen eher ideologischer Art. Ziel war nicht die Stimulierung des Handels, sondern die Stabilisierung von Milosevic durch einen politischen Erfolg, nachdem er seine Truppen im Juni 1999 aus dem Kosovo abziehen musste. Denn nahezu alle exportfähigen serbischen Produkte wurden damals nicht vom russischen Einfuhrzoll befreit. Das gilt auch heute für den wichtigen Bereich der weiterverarbeiteten Produkte mit höherer Wertschöpfung. Weiterverarbeitete Milchprodukte und vor allem der in Kragujevac produzierte Fiat 500 erhalten bis heute keine Zollbefreiung. Die serbischen Importe aus Russland haben in 2014 einen voraussichtlichen Wert 1,7 Milliarden Euro und machen damit ca. 12 Prozent der Importe aus. Die serbischen Exporte nach Russland haben dagegen nur einen Wert von 800 Millionen Euro und entsprechen 7,3 Prozent aller serbischen Exporte. Dagegen gehen über 60 Prozent der serbischen Exporte in Länder der Europäischen Union. 800 Millionen Euro Exporterlöse sind für Serbien ein großer Betrag. Aber etwa den gleichen Betrag verschenkt das Land an Russland durch zu hohe Gaspreise und zu geringe Steuern auf die Ölförderung und das Ausbleiben der Gebühren für die Durchleitung russischen Gases durch die versprochene South Stream Pipeline. Das „nationale Interesse“ ist in Wirklichkeit ein vorgeschobenes Argument, das die von Teilen der serbischen Politik aktiv betriebene Auslieferung an russische Interessen kaschieren soll. Wie es aussieht, hat selbst der übermächtig auftretende Ministerpräsident Vučić gegen die russischen Statthalter in der Regierungskoalition nicht die Durchsetzungskraft, um einen Konflikt mit Russland, den er und ihm nahestehende Politikerinnen der Fortschrittspartei hier und da ja in energiepolitischen Fragen gesucht haben, durchstehen zu können.

Was Ministerpräsident Vučić braucht, sind vor allem ökonomische Erfolge, die es ihm erlauben, den Bankrott des Landes ohne zu große soziale Einschnitte zu verhindern. Notwendig ist dafür vor allem ein Ende der serbischen Misswirtschaft, die bisher noch jede sogenannte „schmerzliche Anpassung“ wettgemacht hat, so dass die Not- und Sparprogramme den Menschen Lasten ohne Aussicht auf Besserung auferlegen. Dazu braucht er aber auch private Investitionen aus dem Ausland und/oder langfristige und zinsgünstige Kredite für öffentliche Infrastrukturprojekte. Was die Interessen privater Investoren an Rechts- und Verfahrenssicherheit, faire Ausschreibungen oder geringe Korruption betrifft, liegt Serbien in den internationalen Rankings weit hinten. Interessant ist das Land deshalb eher nur für Investitionen im Niedriglohnbereich. Hier arbeiten etwa 400.000 Menschen für rund einen Euro pro Stunde, das sind etwa 25 Prozent der Arbeitskräfte im privaten Sektor12. In diesem Bereich, der Einkommen unter der offiziellen Armutsgrenze generiert, liegen auch etwa 2/5 der 25.000 von deutschen Investoren eingerichteten Arbeitsplätze. In dieser Situation sollte die Europäische Union Serbien und den anderen Ländern des Balkans Kredite für den Ausbau ihrer unterentwickelten Verkehrs- und Energieinfrastruktur zur Verfügung stellen, der beides bewirken könnte: Senkung der Massenarbeitslosigkeit von über 20 Prozent in den Balkanländern und ökonomische Stimulation durch regionale Kooperation.

Beitrittspolitik der EU

Die Förderung der europäischen Perspektive des Balkans könnte in Übereinstimmung mit der neuen Beitrittspolitik der EU erfolgen, die der ökonomischen Entwicklung der Beitrittsländer sehr viel mehr Bedeutung beimisst als in der Vergangenheit. Im Rahmen des europäischen Semesters, eines Instruments zu Koordinierung der Fiskal- und Wirtschaftspolitik der EU-Mitglieder, formuliert die EU-Kommission neuerdings auch ökonomische Empfehlungen für die Beitrittsländer. In diesen neuen Anforderungen der EU an die ökonomische Entwicklung eines Beitrittslands reflektiert sich die Diskussion über die Aufnahmefähigkeit der Europäischen Union und die öffentliche Debatte über die faktische oder befürchtete Armutswanderung im Rahmen der Grundfreiheiten der EU. Die Integration des Europäischen Semesters in den Beitrittsprozess signalisiert, dass die Europäische Union den Beitritt ökonomisch – und im Übrigen auch rechtsstaatlich – unterentwickelter Länder wie Bulgarien und Rumänien oder auch Kroatien, nicht ein weiteres Mal zulassen will.

Der Ausbau der regionalen Infrastruktur soll der Entwicklung der Region als Vorbedingung für den Beitritt der Balkanländer dienen. Dieser von der Bundeskanzlerin im August auf der Balkan-Konferenz vorgezeichnete Weg sollte der Beitrittspolitik der Europäischen Union als strategischer Ansatz dienen. Die Hinwendung zum „Balkan Big Bang“13, der gleichzeitigen oder jedenfalls zeitnahen Aufnahme aller noch außerhalb der EU verbliebenen Balkan-Länder, ist ein sehr anspruchsvolles Vorhaben. Es erfordert die rasche Auflösung von Blockaden wie den Namenskonflikt zwischen Griechenland und Makedonien und vor allem die Anerkennung eines unabhängigen Kosovo durch die fünf EU-Mitglieder Slowakei, Rumänien, Griechenland und Zypern. Für Serbien entfiele bei diesem neuen strategischen Ansatz der Anreiz, sich von seiner vermeintlich neutralen, in Wirklichkeit aber Russland zugeneigten Position im Beitrittsprozess Vorteile gegenüber anderen Ländern des Balkans zu versprechen, deren politische Führung – etwa in Montenegro – oder deren Führung und Bevölkerung – etwa in Albanien oder im Kosovo - in Wirklichkeit sehr viel europafreundlicher sind als Serbien.

Serbien auf dem Weg in die gelenkte Demokratie

Aber auch wenn die regionale ökonomische Entwicklung einen guten Verlauf nehmen sollte, bleibt die Frage nach der demokratischen Entwicklung unbeantwortet. Aleksandar Vučić und einige seiner Vertrauten sind derzeit die einzigen in der serbischen Führung, die die Annäherung an die Europäische Union wirklich wollen, auch wenn sie im Herzen den Liberalismus der westlichen politischen Kultur ablehnen und der EU und den USA die Bombardierung Serbiens zur Rettung der Kosovo-Albaner nicht verzeihen mögen. Als Patrioten sind sie überzeugt, dass Serbien nur durch die Mitgliedschaft in der Europäischen Union gerettet werden kann. Doch Vučić hat keine Verbündeten, er hat die proeuropäischen Kräfte der Opposition marginalisiert. Was immer er unter diesen Umständen durchsetzen kann gegen seine Widersacher in Fraktion, Parlament und Regierung, in Administration und staatlichen Unternehmen und gegen die Massenbewegung von über 400.000 Parteimitgliedern, die von ihm nicht Reformen, sondern Jobs im öffentlichen Sektor wünschen: Er vermag es nur als autoritärer Führer, der unter Umgehung von Gewaltenteilung und Institutionen die direkte Unterstützung bei seinem Volk sucht. Zieht man noch die weitgehende Beschränkung der Medienvielfalt und Freiheit der Presse in Betracht, so bildet sich in Serbien der Typus einer autoritär gelenkten Demokratie heraus, wie er innerhalb der EU derzeit in Ungarn erprobt und außerhalb vor allem von Putin in Russland vorexerziert wird. Dieser Autoritarismus14 wird zunehmend offen propagiert durch den verstärkten Einsatz russisch kontrollierter Medien: Seit langem tätig ist der englisch-sprachige Fernsehsender Russia Today, der im Frühling 2015 auch ein serbisches Radioprogramm senden wird; dazu kommen ein Kulturzentrum in im südserbischen Niš, wo Russland ein russisch-serbisches humanitäres Zentrum unterhält, das möglicherweise auch vom russischen Geheimdienst genutzt wird, sowie das serbisch-sprachige Online-Magazine Ruska Reč/Russisches Wort, das monatlich auch als Beilage zur Zeitschrift Politika erscheint. Der Besuch von Nikolai Patrushev, Sekretär des russischen Sicherheitsrats, im Sommer 2013 führte schließlich zur Vereinbarung der Einrichtung einer Reihe weiterer kultureller russisch-serbischer Organisationen und pro-russischer Websites in serbischer Sprache. Zu seinen Angeboten gehörte auch das von Russland finanzierte Denkmal für den letzten Zar Nikolaus II., das in diesen Tagen vom russischen Patriarchen Kiril in Anwesenheit der gesamten serbischen Staatsspitze als Zeichen der Ausdehnung der russischen Interessensphäre eingeweiht wurde.

Medienfreiheit in Serbien

Die EU hat seit kurzem dem Thema Medienfreiheit in Serbien und in den anderen Balkanländern verstärkte Aufmerksamkeit geschenkt. Doch außer mit dem englischen Euronews TV wird sie im Balkan nicht selbst aktiv. Demgegenüber haben die USA die mediale Auseinandersetzung mit Russland und vor allem mit dem von Qatar finanzierten Al Jazeera Balkans aufgenommen. Seit Oktober unterhält der CNN-Fernsehsender N1 TV regionalsprachige Sender in Belgrad, Zagreb und Sarajewo – an den Orten, an denen auch Al Jazeera Balkans präsent ist. Bei der Konkurrenz der vom Ausland finanzierten Sender geht es um Meinungsvielfalt, vor allem aber um die Auseinandersetzung zwischen westlich-liberaler politischer Kultur, die sich für den Vorrang der individuellen Bürger- und Menschenrechte ausspricht, und konkurrierenden Modellen, die den Vorrang des Kollektiven propagieren und die zudem gegen das Konzept der Menschrechte orthodox-theologische Vorbehalte habe.

Der Europäischen Union und ihren Mitgliedsländern muss klar sein, dass auch die ökonomische Stabilisierung und Entwicklung des Balkans noch keine Gewähr bietet, dass die dann beitretenden Länder auch das westlich-liberale Demokratiemodell unterstützten, das sich in der Europäischen Union über das alte ethno-nationale zum kosmopolitischen Demokratiemodell einer Willensunion erweitert hat. Darum muss in Serbien und im ganzen Balkan noch sehr hart gerungen werden. Ob die EU für die mediale und kulturelle Auseinandersetzung die Mittel und die Zeit aufbringt, ist ungewiss. Im Konflikt mit Russland könnte die EU-Erweiterungspolitik zunehmend unter den Druck geostrategischer Interessen geraten und zur Sicherung des westlichen Einflusses eher zur zügigen Aufnahme Serbiens neigen – ohne vertiefte regionale Kooperation, ohne wirtschaftliche Erholung und ohne Demokratisierung im Sinne der postnationalen Europäischen Union. Dann würde Serbien der EU als ein Land beitreten, das seiner inneren politischen Verfassung nach weiterhin der russischen Einflusssphäre und dem dort herrschenden Ethno-Nationalismus verhaftet bleibt. Und der heute ohnehin schon fragile Wertekonsens der Europäischen Union würde schweren Schaden nehmen.

Fußnoten:

1 Die Leitung muss über etwa 900 km Länge und in einer Tiefe von bis zu 2000 m verlegt werden. Zum Vergleich: Nord Stream durch die Ostsee wurde über eine Strecke von 1200 km in einer Tiefe von 40 - 210 m verlegt. Auf der Landroute der South Stream Pipeline wurden in Bulgarien und Serbien die ersten Spatenstiche getan. Nach Intervention der EU ruht die Arbeit hier jedoch. Mit der Verlegung der Pipeline unter dem Schwarzen Meer hat Russland noch nicht einmal begonnen. Inzwischen kursieren Informationen (regierungsfreundliche serbische Zeitung Vecernje Novosti Okt. 2014), dass die Verlegung der Pipeline durch das Schwarze Meer den Bau gegenüber den ursprünglichen Kalkulationen um über 40 Prozent verteuere. Hier wird so getan, als sei der weit günstigere Landweg jemals Grundlage der Kalkulation gewesen. Wird hier die Eroberung des Landwegs angekündigt oder die Absage des Pipeline-Projekts?

2 South Stream ist in erster Linie ein Projekt des russischen Staatskonzerns Gazprom, der 50 Prozent der Anteile hält. Aber es ist ebenso ein Projekt großer europäischer Energiekonzerne aus Italien, Frankreich und Deutschland, das dort prominente politische Unterstützung erhält. Wie bei der Nordstream-Pipeline steht an der Spitze seines Aufsichtsrats ein ehemaliger deutscher Sozialdemokrat. Für South-Stream ist es Henning Voscherau. Siehe http://www.south-stream-offshore.com/about-us/supervisory-board/

3 Zwei für Serbien außerordentlich ungünstige Vereinbarungen ragen hier heraus: Gazprom Neft, der von Russland übernommene Teil der serbischen Erdölindustrie, muss dem serbischen Fiskus nur 3 Prozent Steuern auf die Ausbeutung der serbischen Erdölreserven zahlen. In Russland zahlt Gazprom dafür 22 Prozent, andere Länder fordern bis zu 30 Prozent. Serbien entsteht damit ein Verlust von jährlich 150-200 Mio. EUR. Mit dem Teilverkauf von Srbijagas war das Versprechen verbunden, Serbien durch die Inbetriebnahme von South Stream Einnahmen aus der Durchleitung von jährlich 200-300 Mio. EUR zu sichern. Diese Inbetriebnahme sollte spätestens 2013 erfolgen. Wenn überhaupt, so ist sie jetzt für Ende 2016 in Aussicht gestellt.

4 Es wird geschätzt, dass 20-30 Prozent der Rechnungen nicht bezahlt werden, obwohl der Strommonopolist Elektroprivreda Srbije (EPS) den niedrigsten Stompreis in Europa erhebt. Er beträgt 5,35 Eurocent/kWh ohne MwSt für Haushalte und 5,09 Eurocent für die Industrie. Zum Vergleich: innerhalb der EU hat Bulgarien mit rund 8 Eurocent/kWh den niedrigsten Preis und Dänemark mit 33 Eurocent/kWh den höchsten. In Deutschland liegt er bei 28 Eurocent.

5 Vgl. Helena Stadtmüller, “Understanding the link between energy efficiency and energy poverty in Serbia” http://rs.boell.org/en/2014/09/08/understanding-link-between-energy-efficiency-and-energy-poverty-serbia

6 Gegen beide Unternehmen läuft auf Antrag des Sekretariats der Europäischen Energiegemeinschaft ein Vertragsverletzungsverfahren. Sie haben mehrfach den Termin verstreichen lassen, zu dem sie die Trennung zwischen Gaslieferant und Gastransport und damit den diskriminierungsfreien Zugang für Dritte sicherstellen sollen. Siehe Energy Community Secretariat: Annual Implementation Report August 2014, 155. Mit demselben Argument klagt das Sekretariat auch gegen den bilateralen Vertrag Serbiens mit Gazprom über den Bau von South-Stream.

7 So verhandelt der serbische Energieminister seit einiger Zeit über den Verkauf von Anteilen am serbischen Staatsunternehmen Petrohemija, mit dem Russland seine Kontrolle des Öl-, Gas- und Benzinmarkts arrondieren könnte. Russische Unternehmen besitzen bereits einen Teil des Tankstellennetzes in Serbien.

8 Interview Deutsche Welle mit Edi Rama: http://www.dw.de/albanias-prime-minister-edi-rama-the-past-cannot-hold-us-back/a-18012998; weitere Belege im Bulletin des Helsinki Committee for Human Rights in Serbia: http://www.helsinki.org.rs/doc/HB-No107.pdf. Die internationale Presseberichterstattung über den „Vorfall“ war unvollständig und schloss sich meist den Bewertungen der serbischen Behörden an. Hier eine Aufzählung von Tatsachen, die meist unerwähnt blieben: http://threefivefive.net/2014/10/seven-things-you-need-to-know-about-the-serbia-albania-match-violence-in-belgrade/

9 Im Ergebnis schein die UEFA diese Auffassung zu teilen. Sie hat den albanischen Verband mit einer 0:3 Niederlage bestraft, weil seine Mannschaft das Spiel nicht fortgesetzt habe. Serbien wurden jedoch die drei Punkte dieses Siegs wegen mangelnder Sicherheitsvorkehrungen abgezogen. Bleiben für Serbien immer noch 3 Tore auf dem Habenkonto. Zur Kritik des einseitigen UEFA Schiedsspruchs, der das verbreitete Problem des Hooliganismus gar nicht ansprechen will, siehe Ben Denison, „Putting politics on the pitch: UEFA’s failed response to Serbia-Albania“ (The Balkanist October 24, 2014)
 

10 Das galt zumindest bis zur Einführung des Euro, dessen Krise die prinzipielle Gleichberechtigung der Mitgliedsländer in die asymmetrische Beziehung von Schuldner- und Gläubigerländern verschoben hat.

11 Wie erst am 3. November bekannt wurde, scherten sich zwei Abgeordnete der regierenden Fortschrittspartei nicht einmal um den Schein der Neutralität, als sie in einer russischen Delegation an den illegalen Wahlen in der Ostukraine teilnahmen.

12 Die Gewerkschaften behaupten, dass mehr als die Hälfte dieser 400.000 Arbeitskräfte sogar weniger als den Mindestlohn erhalten.

13 Der „Big Bang“ der Aufnahme aller Balkanländer nach dem Vorbild der EU-Erweiterung von 2004, bei der 10 neue Mitglieder zum selben Zeitpunkt aufgenommen wurden, ist im Grunde die als ‚Szenario‘ dargestellte Empfehlung der Balkans in Europe Policy Advisory Group: The Unfulfilled Promise: Completing the Balkan Enlargement. Policy Paper May 2014 (http://balkanfund.org/wp-content/uploads/2014/05/Policy-Paper-Completing-Enlargement-2.pdf). Die anderen Szenarien beschreiben mehr oder weniger den status quo.

14 Zum Autoritarismus in den Ländern des Balkans siehe die Studie von Danijela Dolenec: Democratic Institutions and Authoritan Rule in Southeast Europe. Colchester 2013.