Zusammenfassung der Studie zur Abwehrwaffe MEADS

Patriot Raketenabwehrsystem
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Das Patriot-Raketenabwehrsystem ist das Vorgängersystem der MEADS

Demnächst entscheidet die Bundesregierung über eine Weiterentwicklung und Beschaffung der Abwehrwaffe "Medium Extended Air Defense System" (MEADS). Ist dieses militärische Mega-Projekt überhaupt notwendig? In der vorliegenden Studie unterzieht Dr. Bernd W. Kubbig von der Hessischen Stiftung Friedens-und Konfliktforschung das militärische Mega-Projekt einer gründlichen Prüfung.

Zusammenfassung

Die Bundesrepublik Deutschland steht im Rüstungsbereich vor einer großen Weichenstellung, die den Steuerzahler weit mehr als fünf Milliarden Euro kosten dürfte. Denn das Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) strebt an, bis Mitte 2015 eine Auswahlentscheidung über ein Abwehrsystem zu treffen. Eine koalitionsübergreifende Gruppierung von Parlamentariern und die Rüstungsindustrie drängen Generalinspekteur Volker Wieker seit geraumer Zeit, möglichst rasch einen Grundsatzbeschluss über die weitere Entwicklung und die Beschaffung des militärischen Mega-Vorhabens MEADS (Medium Extended Air Defense System) herbeizuführen.

MEADS ist als Nachfolger für das Patriot-System (derzeit an der türkisch-syrischen Grenze aufgestellt) vorgesehen, das sukzessive ausgemustert werden soll. Ziel ist, die aus Sicht des Bundesministeriums der Verteidigung ständig steigenden Gefahren durch ballistische Raketen, Marschflugkörper und unbemannte Trägersysteme/Drohnen wirksamer zu bekämpfen. Mit dem Plan, ein neues Abwehrsystem im deutschen Alleingang zu beschaffen, reagieren die betreffenden Akteure auf den Ausstieg des größten Partners USA aus dem trilateralen MEADS-Projekt; neben Deutschland war Italien der Junior-partner. Dieser Rückzug – vom Pentagon Anfang 2011 angekündigt, erst 2014 wirksam geworden – ist ein Fiasko für das durch viele Auseinandersetzungen gekennzeichnete transatlantische Vorhaben. Das Bundesministerium der Verteidigung und die Rüstungsindustrie waren auf diesen Ausstieg nicht vorbereitet. Das Pentagon hielt MEADS für einen „candidate for cancellation“, weil es zu teuer und seine Leistung unbefriedigend gewesen sei. Ein Report für die U.S. Army zu MEADS vom März 2014 ist ebenfalls außerordentlich negativ.

Die Bemühungen der MEADS-Befürworter in Deutschland, das System möglichst schnell zu beschaffen, verlaufen nicht reibungslos. Am 6. Oktober 2014 legte das Dreier-Konsortium aus der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft KPMG, der Management Consulting Firma P3 Group und TaylorWessing ein Gutachten zum Taktischen Luftverteidigungssystem TLVS/MEADS vor. Allein in der öffentlich zugänglichen Kurzfassung identifiziert es eine Vielzahl von grundsätzlichen Problemen und Risiken. Das Konsortium empfiehlt nachdrücklich, die Entscheidung nicht unter Zeitdruck zu fällen. Damit rückt die von Generalinspekteur Wieker am 21. Januar 2014 gezeichnete Beschaffungsvorlage in Form der ‚Fähigkeitslücke und Funktionalen Forderung‘ (FFF) in den Blick. Ihr kommt eine zentrale Rolle im Beschaffungsprozess zu.

Eine gründliche Nachbesserung dieses Dokuments kann sich nicht darauf beschränken, verfahrenstechnische Aspekte ausgewogener zu behandeln – etwa, indem man in der FFF eine bessere Vergleichbarkeit mit anderen Abwehroptionen herstellt. Die Einwände gegen MEADS sind auch im umfassenden Gutachten offenbar so groß, dass sie das Kernanliegen der Befürworter stark in Zweifel ziehen: das System als Basis für eine deutsche bodengebundene Luft- und Raketenabwehr zu benutzen. Eine derartige harte Kritik kommt nicht überraschend. Denn Ministerin Ursula von der Leyen hat MEADS begutachten lassen, weil es die 2010 erstellte Liste von kontroversen militärischen Großvorhaben (die sog. Erblastenliste) anführte.

Der aufgrund der BMVg-Auftragserteilung eingeschränkte Blickwinkel des Dreier-Konsortiums reicht jedoch für eine angemessene Evaluation nicht aus. Die technische Machbarkeit und die Finanzierbarkeit von MEADS müssten durch eine Analyse der Bedrohung und der Folgen der Abwehrwaffe für Rüstungskontrolle und die politische/strategische Situation ergänzt werden (diese Studie beschränkt sich auf die Raketenproblematik und klammert Marschflugkörper sowie unbemannte Trägersysteme/Drohnen aus). US-Präsident Bill Clinton hatte diese vier Kriterien eingeführt, sie haben sich seitdem bewährt. Sie strukturieren auch diesen Report, der an zwei HSFK-Studien zu MEADS aus dem Jahre 2005 anknüpft. Er wendet sich hauptsächlich an die ParlamentarierInnen, die im Verteidigungs- und Haushaltsausschuss über die Weiterentwicklung und mögliche Beschaffung einer taktischen Abwehrwaffe zu befinden haben. Sie werden – wie auch die interessierte Öffentlichkeit – in ihrer Kontrollfunktion gegenüber der Regierung angesprochen.

Erstes Kriterium: Liegt eine ernsthafte Bedrohung vor und wäre MEADS das richtige Instrument, um die ihm zugewiesenen drei Hauptaufgaben zu bewältigen?

Zunächst ist als Defizit in der Beschaffungsvorlage FFF hervorzuheben, dass sie keine angemessene Bedrohungsanalyse enthält. Dieser Report hat weltweit lediglich zwei Länder – Iran und Syrien – als potenzielle Bedrohung durch ballistische Raketen identifiziert. Die Raketenbedrohung aus Moskau ist differenzierter zu sehen. Für die drei baltischen Staaten und Polen, die im Einzugsbereich der Iskander-Raketen liegen, ist die Bedrohung real oder gar akut, wenn Moskau seine Drohung wahrmacht, sie in der Region Kaliningrad aufzustellen und/oder wenn die russische Führung sie als politische Waffen einsetzt. Für die überwältigende Mehrheit der NATO-Mitglieder stellt sich diese Frage nicht (direkt), Moskau bleibt eine potenzielle Bedrohung.

Um Abwehrsysteme wie MEADS zu rechtfertigen, müsste das BMVg in einer nachgebesserten Version des Beschaffungsdokuments eine solide Bedrohungsanalyse vorlegen, die über ballistische Raketen hinaus Marschflugkörper und unbemannte Trägersysteme/Drohnen umfasst. Die konkreten Einsatzszenarien sollten dann glaubwürdig sein.

Zu den drei Hauptaufgaben, die einer taktischen Abwehrwaffe wie MEADS in den Leitlinien-Dokumenten des BMVg zugewiesen werden, ist kritisch auszuführen:

Erstens wäre MEADS kein ‚Fähigkeitsträger’ zur Landesverteidigung. Selbst die Bundesregierung räumt ein, dass taktische Abwehrsysteme die deutsche Bevölkerung, geschweige denn das NATO-Territorium in Europa, nicht schützen können. Vor dem Hintergrund des sich im Aufbau befindlichen US-Abwehrsystems in Europa, das ab 2018 fastden gesamten Kontinent schützen will, wäre MEADS nur für die bloße Punktverteidigung geeignet, d.h. den Schutz von kleinen Flächen wie Anlandehäfen, Flugplätze, Munitions- und Treibstoffdepots.

Zweitens wird man deutsche Luftverteidigungsfähigkeiten zum Schutz der süd- und nordöstlichen Peripherie der Allianz kurz- und mittelfristig kaum noch benötigen: Die Türkei und Polen, das sich im Sommer 2014 gegen MEADS entschieden hat, schaffen eigene Systeme an.

Drittens galt nur ein Patriot-Einsatz (1991 in Israel) der internationalen Konfliktverhütung und Krisenbewältigung. Die beiden anderen Patriot-Einsätze (2003 sowie ab Anfang 2013 bis Januar 2016 in der Türkei) sollten die südöstliche Peripherie der NATO schützen. Auch in der BMVg-Spitze ist man sich des Ausnahmecharakters von Abwehrsystemen bei Auslandseinsätzen bewusst, wie ein hochrangiger Vertreter des Ministeriums dem Vernehmen nach in der Sitzung des Verteidigungsausschusses am 3. Dezember 2014 bestätigte. Bei keinem dieser Einsätze ergaben sich Probleme, die mit den angeblichen technischen Fähigkeiten und Vorteilen von MEADS hätten gelöst werden müssen (z.B. die schnelle Verlegbarkeit). Die FFF mit ih rem Schwerpunkt auf den technischen Fähigkeiten von MEADS nährt den Verdacht, dass dies mit dem militärischen Anforderungsprofil von plausiblen Einsatzszenarien nicht in Einklang zu bringen ist.

Zweites Kriterium: Wäre MEADS technisch machbar?

Der Ausstieg der USA veranlasste den damaligen Verteidigungsminister Thomas de Maizière im Oktober 2011, auf die Einführung von MEADS „in Gänze“ zu verzichten. MEADS-Befürworter ignorierten diesen Beschluss jedoch. Nach dem Rückzug der größten Partnernation aus dem trilateralen Projekt befinden sich BMVg und Rüstungsindustrie in einem Dilemma. Die ursprünglich trilateral angestrebte vollständige Entwicklung (‚Design and Development‘), die den USA zu teuer war, ist national kaum zu erreichen (der entsprechende Finanzaufwand hätte für Washington bei max. 2,578 Milliarden US-Dollar gelegen).

Das derzeit verfolgte, stark heruntergefahrene ‚Proof of Concept‘ (Machbarkeitsbeweis) erweckt deshalb umso größere Zweifel, dass es
als Grundlage für eine tragfähige bodengebundene Luft- und Raketenverteidigung im Alleingang geeignet sein könnte. Denn hiermit sind sowohl ein verringerter Leistungsumfang als auch Qualitätseinbußen verbunden – diese Lücken müssten durch weitere Entwicklungsaktivitäten in beträchtlichem Umfang geschlossen werden. Ferner ist nicht sichergestellt, dass die gemeinsam erzielten Entwicklungsergebnisse von MEADS ausreichend dokumentiert und archiviert werden können. Und: Zweifelhaft ist der von Ministerium und Rüstungsindustrie oft betonte uneingeschränkte Zugriff auf die im trilateralen Programm erzielten technischen Ergebnisse; denn die hier relevante Regierungsvereinbarung und der entsprechende Vertrag von 2005 enthaltenen eine breite Palette von Kooperationsverboten und Beschränkungen.

Angesichts der vielen Ungewissheiten muss es zu denken geben, dass Polen, das als der hoffnungsvollste Kooperationspartner nach dem US-Rückzug galt, MEADS im Sommer 2014 für den Aufbau seines eigenen Abwehrprogramms eine Absage erteilt hat.

Drittes Kriterium: Wäre MEADS finanzierbar?

Die Entwicklung und eine eventuelle Beschaffung sind mit enormen Kosten verbunden, die aus – überaus optimistischer – Sicht der Befürworter durch Kooperation und Exporte gesenkt werden könnten, um auch so Schlüsseltechnologien und Arbeitsplätzen zu erhalten.

Der bisherige und schon getätigte deutsche Anteil an den Entwicklungskosten beläuft sich auf 1,242 Milliarden Euro. Für das derzeit favorisierte Konzept sieht die FFF allein für die weitere, aber nicht spezifizierte Entwicklung und die Integration der Systemelemente max. 850 Millionen Euro vor. Zweifel sind angebracht, ob dieser Betrag die tatsächliche Obergrenze darstellt.

Für die Beschaffung sieht die FFF dem Vernehmen nach insgesamt ca. 1,65 Milliarden Euro ab 2019 vor. Die sogenannten Life Cycle Costs (u.a. Material- und Wartungskosten) sollen für die Nutzungsdauer von 30 Jahren mit 1,5 Milliarden Euro zusätzlich beziffert sein. Dieser Betrag dürfte aber längst nicht die Gesamtsumme sein. Denn die Beschaffungskosten sind in der FFF, so ist zu vernehmen, nur selektiv angegeben. Das Projekt könnte insgesamt die Summe von 5 Milliarden Euro deutlich überschreiten. Die Gefahr, dass MEADS zu einem Fass ohne Boden wird, ist real.

MEADS bindet – mit einer enormen Schwankungsbreite – (in)direkt hochwertige Arbeitsplätze und schließt Schlüsseltechnologien (z.B. die Sensorik) ein, in denen Deutschland weltweit führend ist. Die Hoffnung der MEADS-Befürworter, diese Technologien Bündnispartnern anzubieten oder für zivile Zwecke nutzbar zu machen, hat sich nicht erfüllt. Das BMVg hat auch unmissverständlich festgestellt: Die Strategie, das Programm nach dem US-Rückzug durch das Gewinnen neuer Partner abzusichern, war erfolglos.

Viertes Kriterium: Könnte MEADS zu neuen Spannungen und Rüstungswettläufen beitragen?

Teheran hat sich bislang von den Abwehrak tivitäten von USA und NATO nicht beeindrucken lassen und aufgrund seines regionalen Fokus nicht mit eigenen militärischen Maßnahmen reagiert. Deshalb ist es nicht ausgeschlossen, dass die Führung in Teheran eine Berliner Entscheidung für MEADS (oder für eine alternative Abwehrwaffe) nicht zur Kenntnis nimmt. Sicher ist dies allerdings nicht.

Gegenüber Moskau könnten taktische Systeme zum Problem werden, wenn etwa landgestützte Varianten grenznah aufgestellt würden. In erster Linie würde Russland MEADS wohl als ein Element der gesamten westlichen Raketenabwehr sehen, die ihrerseits maßgeblich zu den neuen Spannungen und Rüstungswettläufen beigetragen hat. Die Bundesregierung sollte gemäß des Koalitions vertrags nach „kooperative[n] Lösungen“ vor allem in dem Sinne suchen, dass sie sich bemüht, den Konfliktgegenstand der US-Raketenabwehr in Europa zu entschärfen. Hierfür liegt der Schlüssel zwar beim amerikanischen Kongress, der für die eigenen Abwehrpläne keine Beschränkungen akzeptiert. Dies schließt aber keinesfalls eine konstruktive Einflussnahme Berlins in Washington aus.

Empfehlungen

Diese HSFK-Studie hat gezeigt: Ein technologisch weniger anspruchsvolles System dürfte plausiblen Einsatzszenarien und der Bedrohungslage bei den Raketen gerecht werden. Deshalb sollte das BMVg zur kostengünstigeren Geschäftsgrundlage von Minister de Maizière vom Oktober 2011 zurückkehren. Damit würde der Verzicht auf die Entwicklung und Beschaffung einer taktischen Abwehrwaffe wie MEADS zum Angelpunkt einer Neufassung des Beschaffungsdokuments FFF. Die derzeitige Patriot könnte dabei als ein
mögliches Kernelement deutscher Luftverteidigung in den Mittelpunkt der zu erörternden Alternativen rücken. Der Ausmusterungsprozess der Patriot sollte deshalb unverzüglich gestoppt werden.

Mit Blick auf die Kontrollfunktion der zuständigen ParlamentarierInnen im laufenden Evaluationsprozess von MEADS drängt es sich auf, keinen Beschluss unter Zeitdruck zu fassen. Denn der Informations- und Klärungsbedarf ist beträchtlich. Der vom BMVg angestrebte Termin für die Auswahlentscheidung – Mitte 2015 – sollte deshalb nicht als verbindlich angesehen werden. Es empfiehlt sich, dass kompetente Institutionen wie der Bundesrechnungshof rechtzeitig eingebunden werden und ausgewogene Anhörungen mit Experten stattfinden.