Kontinuität und Wandel deutscher Außenpolitik

Wolfgang Ischinger
Teaser Bild Untertitel
Wolfgang Ischinger 2011 bei der Außenpolitische Jahrestagung der Heinrich-Böll-Stiftung

Laudatio auf Wolfgang Ischinger anlässlich der Verleihung der Manfred-Wörner-Medaille am 24. März 2015.

Meine Damen und Herren,

Vermutlich sind Sie ebenso verblüfft, mich hier am Podium zu sehen, wie ich selbst. Als mich Anfrage erreichte, ob ich eine Laudatio auf Wolfgang Ischinger halten wollte, habe ich ohne lange Überlegung zugesagt. Schuld daran ist vor allem der Preisträger, den ich über die Jahre schätzen gelernt habe.

Erst beim zweiten Nachdenken dämmerte mir, dass diese Konstellation nicht ohne eine gewisse Pikanterie ist: ein langjähriger Grüner spricht im Verteidigungsministerium zur Verleihung der Manfred-Wörner-Medaille. Ungewöhnlich ist das nicht nur, weil die Grünen vor allem in ihren Anfangsjahren auf Kriegsfuß mit der Bundeswehr standen, wenn man das so salopp formulieren darf. Inzwischen sind wir einen langen Weg gegangen bis zur Zustimmung zu den militärischen Interventionen in Bosnien, im Kosovo und in Afghanistan. Aber geblieben ist eine grundlegende Skepsis gegenüber Militär als Mittel der Politik, und das ist auch gut so, weil man von diesem Instrument nur im äußersten Fall Gebrauch machen sollte.

Auch zwischen Manfred Wörner und den Grünen gibt es eine sehr spezielle Geschichte. Wer schon ein bisschen länger dabei ist, wird sich an die fulminante Rede Joschka Fischers in jener Bundestagsdebatte des Jahres 1984 erinnern, in der die berühmt-berüchtigte „Kießling-Affaire“ verhandelt wurde, die damals hohe Wellen schlug. Es ging um die öffentliche Hinrichtung eines 4-Sterne-Generals wegen seiner vermeintlichen homosexuellen Umtriebe – ein Vorwurf, der binnen kurzem zu Staub zerfiel. Heute kann man auf diesen Skandal mit einer gewissen Gelassenheit zurückblicken. Er führt uns vor Augen, wie gründlich sich die Republik seither verändert hat. Es ist nicht alles gut in Deutschland, aber manches ist wirklich besser geworden.

Es wäre ungerecht, die politische Vita Manfred Wörners auf diese Affäre zu reduzieren. Er war NATO-Generalsekretär in den Jahren des großen Umbruchs in Europa, und er hat entscheidend dazu beigetragen, den Übergang vom Kalten Krieg zu einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur zu gestalten. Dazu gehörte auch der Beginn einer sicherheitspolitischen Kooperation mit Russland.

Mir gefällt, dass diese Auszeichnung Personen gewidmet ist, die sich „um Frieden und Freiheit in Europa verdient gemacht haben“ – die Betonung liegt auf der Verknüpfung dieser beiden Werte, die gemeinsam das Fundament der europäischen Gemeinschaft bilden. Das vereinigte Europa steht für eine Friedensordnung, die auf der Freiheit aufbaut und die Freiheit schützt. Wo Unfreiheit herrscht, kann von Frieden ernsthaft keine Rede sein. Umgekehrt gilt: Freiheit braucht Frieden. Nur im Frieden können sich die Einzelnen frei entfalten. 

Wolfgang Ischinger steht wie kaum ein anderer für Kontinuität und Wandel deutscher Außenpolitik der letzten drei Jahrzehnte.

Als Konstanten lassen sich die langen Linien beschreiben, die von den Anfängen der alten Bundesrepublik bis zum wiedervereinigten Deutschland führen. Dazu gehört die Einbindung in die transatlantische Allianz und die Absage an einen neuen deutschen Sonderweg  - in den 50er-Jahren wie heute nicht unumstritten, aber doch eine elementare Lektion aus der deutsch-europäischen Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts. 

Eine zweite Konstante ist die europäische Integration Deutschlands – also das Projekt einer europäischen Union, in der die Nationalstaaten zwar nicht verschwinden, aber zugunsten gemeinsamer Institutionen und einer gemeinsamen Politik zurücktreten, nicht zuletzt auch einer gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik. Dieser Prozess hat mit der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl begonnen und ist noch lange nicht abgeschlossen. Allerdings bedeutet europäische Integration nicht, dass sich die Bundesrepublik hinter Europa verstecken könnte, wenn politische Führung und finanzielle Solidarität gefragt ist. Es kommt darauf an, einen Weg zu finden zwischen deutscher Dominanz und Flucht aus der Verantwortung.

Eine dritte lange Linie bildet das Streben nach einer kooperativen europäischen Sicherheitsordnung. Ein Meilenstein auf diesem Weg war der KSZE-Prozess der 70er Jahre. Seine Prinzipien – Gewaltverzicht, territoriale Integrität und gleiche Souveränität aller europäischen Staaten – sind heute so aktuell wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Sie werden gegenwärtig durch die revisionistische Politik der russischen Führung in Frage gestellt. So richtig es ist, dass es auf Dauer europäische Sicherheit nur gemeinsam mit Russland geben kann, so richtig ist auch, dass die europäische Friedensordnung heute gegen Putin-Russland verteidigt werden muss.

Wenn man die politisch-berufliche Biographie Wolfgang Ischingers über die letzten drei Jahrzehnte verfolgt, fallen vor allem die Umbrüche und Krisen ins Auge, mit denen wir in schneller Folge konfrontiert waren. In den 80ern war er einer der engsten Mitarbeiter des damaligen Außenministers Hans-Dietrich Genscher. Er war bei den Verhandlungen dabei, die über die Ausreise der DDR-Flüchtlinge aus Prag geführt wurden, und er begleitete einen Sonderzug, mit dem sie in die Bundesrepublik gebracht wurden.

Dann ging es Schlag auf Schlag: Die Mauer fiel, der Expresszug zur deutschen Einheit wurde auf die Schienen gesetzt, der große Umbruch in Mittel-Osteuropa führte zum Kollaps der Sowjetunion und des Warschauer Pakts. Viele glaubten damals, mit dem Ende der Ost-West-Konfrontation beginne ein neues Zeitalter friedlicher Kooperation. Francis Fukuyama rief das „Ende der Geschichte“ aus und sagte voraus, dass die ganze Welt sich auf die Kombination von Kapitalismus und liberaler Demokratie zubewegen werde. Weit gefehlt.

Stattdessen begann ein neues Zeitalter der Krisen und Kriege. Schon 1991 kam es zur ersten internationalen Militärmission gegen den Irak, damals mit UN-Mandat, um die Unabhängigkeit Kuweits wiederherzustellen. Im nächsten Jahr begann der Zerfallskrieg im ehemaligen Jugoslawien mit den serbischen Angriffen auf Slowenien, Kroatien und Bosnien. Manche werden sich noch an die Zerreißprobe erinnern, die dieser Krieg für die NATO, die EU und die deutsche Politik bedeutete, die zwischen Attentismus und Intervention schwankte. Erst der Völkermord von Srebrenica brachte den Ausschlag für eine humanitäre Intervention der NATO (mit Rückendeckung der Vereinten Nationen). Das militärische Eingreifen beendete die Schlächterei und ebnete den Weg zu einem Friedensvertrag.

Wieder bewegte sich Wolfgang Ischinger im Zentrum der Krisendiplomatie. 1995 verhandelte er an der Seite des damaligen US-Sonderbeauftragten Richard Holbrooke den Friedensvertrag von Dayton, der als Übergangsverfassung gedacht war und zum Dauerprovisorium wurde.

Unter der ersten Regierung Schröder-Fischer avancierte er zum Staatssekretär im Auswärtigen Amt, bevor er als Botschafter in die USA wechselte. Seine Ankunft konnte dramatischer nicht sein. Ischinger traf am Abend des 10. September 2001 in Washington ein. Am nächsten Morgen sah er von seinem Büro schwarzen Qualm vom anderen Ufer des Potomac aufsteigen: nachdem zwei Flugzeuge die Türme des World Trade Centers gerammt hatten, war ein drittes als fliegende Bombe in das Pentagon gelenkt worden.

Dem Hörensagen nach kabelte er noch am gleichen Tag einen Lagebericht nach Berlin, in dem er davon sprach, dass die USA im Angesicht dieser Terroranschläge von ihren europäischen Verbündeten „uneingeschränkte Solidarität“ erwarteten. Es war diese Formel, die auch Kanzler Schröder in seiner Regierungserklärung vor dem deutschen Bundestag gebrauchte.

Kurz darauf begann die Intervention in Afghanistan, getragen von einer breiten internationalen Koalition. Aber die deutsch-amerikanische Eintracht währte nicht lange. 1993 entwickelte sich der zweite Irak-Krieg zur bis dahin größten Belastungsprobe für die deutsch-amerikanischen Beziehungen. Europa war über diese Frage gespalten, die rot-grüne Bundesregierung bildete gemeinsam mit Frankreich einen Gegenpol zur US-geführten „Coalition of the Willing“.

Ich kann mich noch gut an unsere Gespräche in Washington in dieser Zeit erinnern. Wolfgang Ischinger wirkte ruhig und konzentriert, obwohl er unter enormem Druck stand. Er hatte die deutsche Politik gegenüber der Bush-Administration und der politischen Öffentlichkeit der USA zu vertreten, und er tat das mit Überzeugung und großem diplomatischen Geschick. Bei allen Differenzen ging es ihm darum, die transatlantischen Brücken nicht einstürzen zu lassen. Es ist nicht zuletzt sein Verdienst, dass die damaligen Verwerfungen nicht zu einer irreparablen Störung der deutsch-amerikanischen Beziehungen führten.

Noch einmal, von Juli bis Dezember 2007,  war seine Erfahrung als Krisenmanager auf dem Balkan gefragt. In dieser Zeit vertrat er die Europäische Union an der Seite der USA und Russlands in den Verhandlungen der „Troika“  mit Belgrad und Pristina über die Zukunft des Kosovo.

Im folgenden Jahr verabschiedete er sich aus dem Auswärtigen Amt, um den Vorsitz der Münchner Sicherheitskonferenz zu übernehmen. Auch in dieser Funktion dreht er ein großes Rad, ein Meister der Krisendiplomatie und des internationalen Dialogs. Auf und hinter der Bühne der Sicherheitskonferenz erweist sich seine Fähigkeit, Kontrahenten ins Gespräch zu bringen und nach politischen Lösungen für verfahrene Konflikte zu suchen. Dieser Begabung verdankte er auch seine jüngste diplomatische Krisenmission in der Ukraine, wo er im letzten Frühjahr im Auftrag der OSZE eine Serie von Runden Tischen zwischen Vertretern der Übergangsregierung, des Parlaments und der Regionen moderierte.

Wolfgang Ischinger ist ein Brückenbauer aus Überzeugung, und zugleich ist er ein Mann klarer Überzeugungen. Er ist ein lebendiger Beweis dafür, dass sich nüchterner Pragmatismus und Grundsatztreue nicht ausschließen. Er sucht Kompromisse, aber nicht zu jedem Preis. Das zeigt sich auch in diesen Tagen an seinen öffentlichen Einlassungen zur Ukraine.

In seiner diplomatischen Laufbahn hat sich Ischinger immer wieder um kooperative Beziehungen mit Russland bemüht. So gehörte er zu der Deutsch-Russischen Strategischen Arbeitsgruppe, die von Kanzler Schröder und Präsident Putin eingesetzt wurde, um eine verstärkte Zusammenarbeit anzubahnen. In seiner Zeit als Chef des Planungsamts und als Staatssekretär ging es immer wieder um eine Verständigung mit Russland. Diese Tradition setzt er auch im Rahmen der Münchner Sicherheitskonferenz fort.

Das hindert ihn allerdings nicht an einer ungeschminkten Analyse der Politik des Kremls und an einer klaren Haltung zum Ukraine-Krieg – und zwar gerade deshalb, weil er das Völkerrecht und die Prinzipien gemeinsamer Sicherheit nicht für Gedöns hält, sondern für unverzichtbare Normen einer stabilen Friedensordnung. In der Ukraine steht mehr auf dem Spiel als die Zukunft einer 40-Millionen-Nation. Es geht um den künftigen Weg Europas: fallen wir zurück in eine erneute Aufspaltung unseres Kontinents in hegemoniale Einflußzonen, oder gehen wir weiter den Weg eines vereinigten Europas freier und gleicher Nationen?

Auch deshalb passt diese Auszeichnung, die für besondere Verdienste um Frieden und Freiheit in Europa verliehen wird, wie maßgeschneidert auf unseren Preisträger.

Herzlichen Glückwunsch!