Die Demokratisierung der Furcht

Julia Encke und Eva Illouz auf dem Podium
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Julia Encke und Eva Illouz beim tazlab am 25. April 2015

Furcht, so die Soziologin Eva Illouz, bringt massive und unmittelbare politische Gewinne ein. Wo sie früher von skrupellosen Regimen instrumentalisiert wurde, wird sie heute unter dem Vorwand der Stärkung des inneren Zusammenhalts auch in Demokratien wirkmächtig. Auf dem diesjährigen taz.lab sagte die Gefühlsexpertin Illouz in einer Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung, "wenn wir liberale und demokratische Gemeinwesen erhalten wollen, dann sollten wir nichts so fürchten wie die Furcht."

Eva Illouz im Gespräch mit Julia Encke - Ein Vortrag (engl.) gehalten am 25. April 2015 auf dem taz.lab 2015: Was wirklich zählt. Der Gedöns-Kongress der taz



Gefühle werden zunehmend aus der Politik verbannt. Emotionen, so die verbreitete Vorstellung, setzen das Denken außer Kraft. Reicht aber der klare Verstand dem Gemeinwohl politisch zur Geltung zu verhelfen oder bedarf es darüber hinaus nicht auch einer positiv-emotionalen Bindung der Bürger/innen an eine gemeinsame Sache? Ist in der Menschenwürde begründeter Respekt ausreichend, um alle Bürgerinnen und Bürger als gleichwertig zu betrachten und Solidarität untereinander zu generieren? Wie viel Gefühl verträgt eine Gesellschaft, die nach Gerechtigkeit strebt? Welche Emotionen sind politisch gewünscht? Wie lassen sich diese Emotionen fördern?

Politik und Gefühl: Gedöns für die einen, große Fragen für uns. Große Fragen verlangen große Namen. Bei der Beantwortung hilft uns die israelische Soziologin Eva Illouz. Sie kennt sich aus mit der wechselseitigen Prägung von Gefühlen und sozialer Institution und wurde von der Wochenzeitung Die Zeit vor einigen Jahren als eine der Personen bezeichnet, die das Denken der Zukunft verändern werden. Mit ihr spricht die Journalistin und Autorin Julia Encke, Verfechterin von mehr Charisma in der Politik.

 

Übersetzte Transkription des Vortrags von Eva Illouz

Herzlichen Dank für die Einladung, ich bin gern in Berlin. Ich denke, Ihre Zeitung ist sehr wichtig und ich freue mich immer, sie auf die eine oder andere Art unterstützen zu können. Und ich freue mich auch darüber, über einen Gegenstand nachdenken zu können, über den ich tatsächlich noch nicht, wie eben gesagt worden ist, gründlich nachgedacht und geforscht habe, also Forschung zu Gefühlen im privaten Bereich, die versucht zu zeigen, wie die Privatsphäre durch öffentliche Prozesse strukturiert wird, möchte ich sagen, oder wenigstens durch institutionelle Prozesse, und deshalb ist dies beinahe das erste Mal, dass ich mir Gedanken über die Präsenz von Gefühlen in der Politik machen muss.

Also fange ich an. In der modernen Politik zeigt sich ein Paradox. Genauer, in der modernen liberalen Politik zeigt sich ein Paradox. Sie beruht grundsätzlich auf der Voraussetzung der Rationalität. Das heißt, auf der Annahme, dass die Bürger ihre Führer auf rationaler Grundlage wählen. Und auf der Annahme, dass die Öffentlichkeit der Bereich von gründlicher Erwägung und Debatte ist. Dennoch wird moderne Politik über Bilder, Printmedien, Mythenbildung und einen unaufhörlichen Fluss von Medienerzählungen und medialen Bildern vermittelt. Deshalb ist moderne Politik besonders an der Darstellung, Verbreitung und Manipulation von Gefühlen beteiligt. Natürlich könnte man sagen, dass das nichts Neues ist und dass die Alten, Plato und noch offensichtlicher Aristoteles, schon damals die Beziehung zwischen den Gefühlen und dem politischen Diskurs, zwischen der großen Erzählung und der Rhetorik verstanden hatten. Aber ich möche doch sagen, dass sie uns wohl nicht als Leitbilder für die Analyse dessen dienen können, was heute in der modernen Politik geschieht. Denn ich glaube, dass sie ein qualitativ verschiedenes Verständnis von der Rolle der Gefühle hatten, das sich hauptsächlich auf die Wirkung bezog, die Führer, und insbesondere charismatische Führerschaft, auf die Gefühle ihrer Zuhörer hatten. Ihre Sicht auf die Gefühle war die, dass sie eine Spielart von Manipulation begünstigten, von effektiver Manipulation der öffentlichen Rede, des Redners, des Führers. Dagegen denke ich, dass Gefühle in der gegenwärtigen Politik, wie ich jetzt auch gleich darlegen werde, unter strukturellen Aspekten verstanden werden müssen und wir sie wirklich neu bestimmen müssen, das genau tun ja die Sozialwissenschaften, sie versuchen, die Realität mit neuen Begriffen abzubilden, die nicht notwendigerweise in der gängigen Alltagssprache vorkommen.

Was ich also sagen will, ist nicht, dass Emotionen für die moderne Politik irrelevant sind, sondern dass die Gefühle in der Politik liberaler Gemeinwesen unter Umständen einer grundsätzlich verschiedenen Analyse der darin enthaltenen Prozesse bedürfen, als diese aus der Analyse der Rhetorik vertraut ist. Um nur ein ganz banales Beispiel zu nennen, der Einsatz von Bildern in der modernen Politik verändert mit Sicherheit einiges bei der Herausbildung politischer Meinungen und Einstellungen, und am stärksten im Prozess der Verbreitung von Emotionen. Nicht allein in bezug darauf, wie Gefühle in mir entstehen, sondern auch darauf, wie sie innerhalb des Gesellschaftskörpers übertragen werden.

Ich möchte deshalb folgende These aufstellen: Gefühle sind nicht nur Bestandteil des politischen Prozesses, des modernen politischen Prozesses, sie sind auch nicht prinzipiell unerwünscht und nachteilig für den politischen Prozess. Oder genauer, wenn sie es sind, dann müssen wir neue Kriterien finden, wie und wann sie unerwünscht sind. Gefühle sind also Bestandteil des politischen Prozesses und sie sind sogar manchmal, und mit dieser These möchte ich beginnen, durchaus vorteilhaft für den politischen Prozess. Was will ich sagen? Nehmen wir eine sehr bekannte Untersuchung des Neuropsychologen António Damásio. Der hat gezeigt, dass überlegte Rationalität, jene für die Entscheidungsfindung unerlässliche Form der Vernunft, um wirksam und wirklich vernünftig zu sein, selbst durch Emotionen geprägt sein muss, weil man nur durch Emotionen zu einer Haltung gelangen kann. Einer emotionalen Haltung gegenüber Zielen. Das bedeutet, nur durch Gefühle kann man seine Präferenzen hierarchisieren und herausfinden, was für einen selbst am dringlichsten und wichtigsten ist. Und mir scheint, das ist bedeutsam zum Beispiel für den Vorgang des Wählens oder der Herausbildung einer politischen Haltung. Deshalb können wir uns nicht vorstellen, wie die Wähler, wenn sie vollständig rational wären, wenn man von António Damásios Untersuchung ausgehen würde, die Merkmale jedes Kandidaten auflisten und nach dieser Liste von Merkmalen schließlich entscheiden würden, wen sie wählen. Das ist keine Hilfe für die Leute bei einer Wahl. Sie wählen nach einem groben emotionalen Muster, möchte ich es nennen, das ihre politische Einstellung bestimmt. Und das ist auch gut so, behaupte ich, denn ohne das könnten wir nicht das herausbilden, was wir Vernunft oder Rationalität nennen. Leute, die Wahlverhalten untersuchen, müssen das wirklich in ihre Überlegungen einbeziehen. Diese Untersuchung zur Neurophysiologie der Gefühle und der Rationalität. Ich will ein anderes Beispiel nennen: George Marcus hat gezeigt, und das meine ich hier auch mit meiner These, dass ein gewisses Maß an Besorgnis, an Ängsten, unter Wählern die Suche nach politischen Informationen begünstigt. Ereignisse zum Beispiel, die Besorgnis hervorrufen, bringen Menschen, die gegenüber den Nachrichten normalerweise indifferent sind, dazu, sich nach Informationen umzusehen. Und bei Menschen, die im Normalfall die Nachrichten hören oder sehen, führt das dazu, dass sie plötzlich mehr als eine Zeitung lesen und dadurch zu einem differenzierterem Informationsniveau kommen. Auf diese Weise sind Besorgnisse dem Prozess der Meinungsbildung förderlich, wenn man so will, und auch einer durchdachteren, ausgereifteren Meinungsbildung.

Auch das zeigt erneut, dass die herkömmliche Ansicht, man müsse Gefühle und rationale Meinungsbildung säuberlich trennen, meiner Meinung nach einfach nicht zutrifft. Sie gehen sehr gut Hand in Hand. Und ich möchte hinzufügen, dass dasselbe zum Beispiel für Zorn angesichts von Ungerechtigkeit gilt. Zorn, der Ungerechtigkeiten attackiert und sich als moralische Empörung äußert, ordnen wir ja als Ausdruck einer guten politischen Einstellung ein. Darum, wenn wir festgestellt haben, dass Emotionen nicht zwangsläufig schlecht sind, dass sie im Gegenteil positiv und für den politischen Prozess äußerst wichtig sein können, frage ich jetzt, und dies soll die Hauptthese dieses sehr kurzen Vortrags werden, wann sind Emotionen in der Poltik negativ? Wann sind sie unerwünscht?

Nun, ich habe darauf keine erschöpfende Antwort, denn wie ich schon sagte, forsche ich gar nicht auf diesem Gebiet, und ich kann nicht auf alle Fälle eingehen, in denen Emotionen unwillkommen sind, aber ich werde eine These zur Diskussion stellen. Ich denke, eine These in einem Vortrag ist genug, um darüber nachzudenken. Bevor ich meine Frage aber beantworte, möchte ich mit einer anderen weit verbreiteten Meinung aufräumen. Da die Frage, die ich stelle, lautet, wann sind Emotionen im politischen Prozess unerwünscht, denke ich, dass eine ziemlich, ich nenne es mal denkfaule Art, diese Frage zu beantworten, darin besteht, die lange Liste negativer Gefühle zu nehmen, die wir haben, also Neid, Verachtung, Zorn, Hass etc. und zu sagen, oh, das wollen wir nicht im politischen Prozess. Wieder bin ich dieser Strategie gegenüber sehr skeptisch. Denn der Grund, warum wir bestimmte Gefühle als negativ bezeichnen, rührt oft von zwei verschiedenen Ausgangspunkten her.

Erstens vom moralischen Standpunkt, vom Standpunkt der Moralisten oder der religiösen Geistlichkeit, eine sehr lange religiöse und moralische Tradition, die manche Emotionen als negativer einordnet als andere, und ich glaube nicht, dass Religion oder Moralität zwangsläufig die Felder sein sollten, von denen wir unsere normativen Richtlinien beziehen. Das soll nicht heißen, dass sie die Politik nicht gestalten können, aber ich glaube nicht, dass sie die exklusiven Sphären sein sollten, aus denen wir unsere normativen Richtlinien in Bezug auf Politik beziehen sollten. Das ist das erste, was dazu zu sagen ist. Und zweitens möchte ich feststellen, dass das, was sich vom subjektiven Standpunkt aus negativ darstellt, von einem makrosozialen, strukturellen Standpunkt nicht unbedingt negativ sein muss. Ich will hier schnell ein paar Beispiele anführen, um zu zeigen, was ich meine, ganz kurze Beispiele.

Thomas Hobbes, der Philosoph aus dem 17. Jahrhundert, hat in seinem Buch De Cive bekanntlich behauptet, dass Furcht eine Konstituente des Naturzustands sei. Und dass es Furcht sei, die die Menschen dazu brächten, einem Gesellschaftsvertrag beizutreten. Nicht die Liebe zu anderen und nicht, wie wir heute sagen würden, der Wunsch, einander zu helfen. Nicht irgendein altruistisches Motiv, sondern ein im Gegenteil eigennütziges und die Furcht, dass jemand uns töten könnte. Die Furcht vor dem Tod ist in Thomas Hobbes' Einschätzung, warum und wie Menschen sich zusammentun und einen Pakt schließen und eine Gesellschaft bilden sollten, extrem bestimmend. Hier ist Furcht also geeignet, in etwas umgemünzt zu werden, was einen guten politischen Status hat, nämlich die Bildung des Gesellschaftsvertrags.

Um ein ebenso deutliches und auch wieder berühmtes Beispiel zu nehmen für das, was ich meine, argumentierte im 18. Jahrhundert Bernard de Mandeville in seiner berühmten Bienenfabel, dass Gier und Neid positive soziale Resultate wie Handel und Austausch hervorbringen könnten. Und dass diese negativen Gefühle, Gier und Neid, die durch die christliche Kirche natürlich verdammt wurden, tatsächlich in gesellschaftlich nützliche Emotionen umgemünzt wurden, weil sie, wenn man so will, wirtschaftliches Handeln ermutigten. Sie förderten den Konsum sowie Produktion und Arbeit.

Oder, um noch ein sehr berühmtes Beispiel anzuführen, gerade für Deutsche, die sich gewiss an Max Webers Abriss der kapitalistischen Entwicklung erinnern, es ist die Angst, die der deus absconditus hervorruft, der verborgene Gott, der Gott, den man nicht sieht. Es ist die vom deus absconditus hervorgerufene Angst, der uns nicht kundgetan hat, ob wir auserwählt sind oder nicht. Diese Angst ist die Motivation, ist die motivationale Struktur, die einen tiefen gesellschaftlichen Wandel in Europa bewirkt hat, in dem die Arbeit zu einer wertvollen Tätigkeit wurde, zu einer moralisch wertvollen Tätigkeit. Sie erinnern sich, Weber stellt die Frage, wie kommt es, dass eine Tätigkeit wie Arbeit, die als vollkommen verachtenswert angesehen wurde, eine moralisch wertvolle Tätigkeit wird. Und es ist die von der protestantischen Theologie des deus absconditus hervorgerufene Angst, die das bewirkt. Jetzt ist mein Standpunkt klar, was das betrifft, und ich möchte sagen, theoretisch ist dies meine Hauptthese, dass wir wirklich eine Unterscheidung treffen sollten zwischen der individuellen und der strukturellen Analyse der Emotionen in der Politik. Ich glaube, ohne diese Unterscheidung werden wir nicht weit kommen.

Was meine ich nun mit strukturell? Darauf will ich kurz eingehen, bevor ich zur Beantwortung meiner vorhin gestellten Frage komme. Um es nochmal zu sagen, immer im Bewusstsein, dass ich hier keine Spezialistin bin, unterscheide ich drei Möglichkeiten einer strukturellen Analyse von Emotionen, es mag in Wirklichkeit mehr geben. Aber mir scheint, diese drei sind sehr wesentlich, und selbst wenn es mehr gibt, will ich mich hier darauf beschränken.

Als eine der Ebenen struktureller Analyse oder struktureller Existenz von Emotionen würde ich die Anhäufung, die Ballung vieler individueller Emotionen bezeichnen. Man nehme als Beispiel den kollektiven Zorn, die kollektive Wut. Die mündet in Demonstrationen, Massenproteste, soziale Bewegungen, soziale Revolutionen etc. Diese Bewegungen sind also oft das Ergebnis einer individuellen Emotion. Man hat viele Leute, die Gefühle haben, und ich würde sagen alle möglichen Gefühle, das kann Wut sein, aber nicht nur, es kann auch Enttäuschung sein, es kann Hass sein, viele unterschiedliche Menschen, die unterschiedliche Gefühle haben, die man breit zusammenfassen kann unter dem Markenzeichen der Opposition gegen etwas oder der Unzufriedenheit mit etwas oder irgend etwas in dieser Richtung.

Sind diese Emotionen im Schwang, werden sie von Eliten intepretiert (framed), wie Soziologen es ausdrücken. Dazu zählen politische Führer, Anführer sozialer Bewegungen, Journalisten, Elitezirkel, die also diese Gefühle deuten und sie in zusammenhängende soziale Bewegungen transformieren. Nehmen wir zum Beispiel die Französische Revolution. An die Rolle der Bourgeoisie und der Intellektuellen bei der Interpretation, die das geliefert haben, was die Soziologen kulturelle Deutung (cultural framing) gesellschaftlicher Unzufriedenheit nennen. Der Effekt der Deutung durch Eliten, Zeitungen, Intellektuelle ermöglicht es uns, über jene strukturellen Emotionen auf gesellschaftlichen Niveau zu sprechen, die Ballungseffekte vieler individueller Wünsche und Gefühle sind und auf die Gesellschaft zurückwirken. Um ein sehr berühmtes deutsches Beispiel zu nehmen, schauen Sie sich Michael Kohlhaas an, den berühmten Helden einer Kleist-Novelle, und Sie erinnern sich, dass er sehr zornig ist, Opfer einer Ungerechtigkeit, und dass sein Zorn gewissermaßen ein privates Gefühl bleibt, bis er mit zwei Aktionen anfängt: Zum einen wehrt er sich, beginnt einen umfassenden Diksurs, einen formellen Diskurs, einen moralischen Diskurs, den viele anhören, als er vor Gericht geht, als er sich an die Behörden wendet, und er beginnt einen grundsätzlichen Diskurs über Gerechtigkeit. Und zweitens, als er Andere rekrutiert, die ihm helfen, die Person anzugreifen, die ihm so große Ungerechtigkeit angetan hat.

Auf diese Art wird der individuelle Zorn zu einem kollektiven oder politischen Zorn, sobald Michael Kohlhaas in der Lage ist, die Institutionen zu mobilisieren, eine allgemeine Debatte in Gang zu setzen, einen moralischen und einen politischen Diskurs über Ungerechtigkeit zu starten und Andere für sich zu rekrutieren. Oder, um ein anderes Beispiel zu nehmen: die Massenproteste in Israel 2011 waren meiner Meinung nach der Ballungseffekt vieler verschiedener Emotionen, die durch die Medien interpretiert wurden. Es gab einen Kampf zwischen politischen Eliten, die sagten, es seien verwöhnte Blagen aus reichen Vierteln, die darüber jammerten, dass sie keine schöne Wohnung in Tel Aviv haben konnten. Es gab diese Interpretation und viele andere, die sagten, nein, hier handelt es sich um eine viel grundlegendere Unzufriedenheit und Wut. Also gab es einen Kampf um die angemessene Interpretation dieser Emotionen, bis ein Punkt erreicht war, an dem diese in die Unzufriedenheit eingegangenen Emotionen gewissermaßen stabilisert waren, es gab eine ganz allgemeine Übereinkunft, dass es sich hier um einen sozialen Protest gegen die hohen Lebenshaltungskosten handelte. Das ist also die erste Ebene der strukturellen Existenz von Emotionen in der Politik.

Die zweite Ebene finden wir in dem, was der große britische Literaturwissenschaftler Raymond Williams Gefühlsstrukturen nannte, ein Begriff, der zwei gegensätzliche Phänomene bezeichnet. Zum einen, wenn man von einer Gefühlsstruktur spricht, deutet das auf eine Erfahrung, die rudimentär ist, unfertig, die definiert, wer wir sind, ohne dass wir wirklich genau sagen können, was das ist, wer wir sind. Und gleichzeitig umfasst der Begriff der Struktur auch, dass diese Erfahrungsebene ein zugrundeliegendes Muster hat, das eher systenmatisch als selbst zusammengestoppelt ist. Nehmen wir zum Beispiel die Furcht, ich kehre zu diesem Beispiel zurück. Nehmen wir Furcht als grundlegende Gefühlsstruktur liberaler Gemeinwesen seit 9/11. Insbesondere in den USA. Das ist eine Art von frei flottierendem Klima, möchte ich es nennen, eine vorherrschende Stimmung, ein Gefühl, das in den Medienerzählungen präsent ist und in unserem Verhältnis zu unseren politischen Repräsentanten. Es handelt sich um ein Gefühlsregister, dass von medialen Bildern, Erzählungen, internationalen Beziehungen, staatlichen Maßnahmen etc. sowohl produziert wird wie auch ihnen zugrundeliegt. Ich denke deshalb, wir können hier hier von emotionalen Stimmungslagen, Klimaten oder Gefühlsregistern sprechen, welche Terminologie man auch immer bevorzugt, die durch mediale Bilder und Erzählungen geschaffen werden, welche durch Politiker und politische Entscheidungen verstärkt werden. Die sich auf ein einzelnes Ereignis beziehen können oder auch nicht, die sich aber auf jeden Fall in der Gesellschaft irgendwie festsetzen. Sie kristallisieren sich und setzen sich in einer Gesellschaft fest. Ich glaube, dass 9/11 wirklich ein gutes Beispiel ist; man könnte auch vom Kalten Krieg sprechen als einem sehr guten Beispiel für diese Art von Gefühlsstruktur, in der die Furcht, also die Furcht vor dem Kommunismus und die Furcht vor den Sowjets, für die politische Seelenlage in Amerika wirklich strukturell bestimmend war.

Wir können aber auch von einem Klima, das gilt sicher für Europa, von einem Klima der Hoffnung oder der Verzweiflung sprechen. Ich würde sagen, es gibt im politischen Vokabular eines Landes vorherrschende affektive Register. Ein affektives Register, möchte ich sagen, ist diffuser und dauerhafter als sehr genaue Emotionen, die kurzlebig sein können. Ich glaube, dass Dominique Moïsi, der ein berühmtes Buch über die Geografie der Emotionen geschrieben hat, die Weltgegenden nach ihren vorherrschenden Emotionslagen zu charakterisieren versucht. Seine These ist, dass die amerikanische Kultur und die Kultur des Mittleren Ostens sich grundlegend voneinander unterscheiden, weil die eine eine Kultur der Furcht und die andere eine der Erniedrigung ist; ich glaube, das will er uns wirklich sagen, dass in jeder dieser Gesellschaften stark unterschiedliche affektive Register wirken.

Und die dritte strukturelle Gefühlsebene in der Politik sind, würde ich sagen, die Emotionen, die vom stärksten Akteur im liberalen Gemeinwesen, nämlich dem Staat, selbst produziert werden. Vom Staat, der Handlungen initiiert und Ereignisse schafft, die eine emotionale Bedeutung und emotionale Wirkungen auf die Bürger haben. Denken wir zum Beispiel an das, was ich Politik der Hoffnung nennen würde, als die amerikanische Regierung Hunderte von Millionen Dollar breitstellte, um den Mega-Versicherungskonzern AIG vorm Zusammenburch zu retten. Das war nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine emotionale Maßnahme. Wir können auch die Politik des Gedenkens nehmen, die um solche Gefühle wie Schmerz oder Schuld oder Vergebung herum organisiert wird. Eine Politik des Gedenkens, die vom Staat initiiert wird. Und solche Politik gibt es, würde ich sagen, die Politik des Gedenkens ist in der Tat ein staatlicher Gefühlsakt. Es ist ein staatliches Gefühlsritual. Es ist eine staatliche Gefühlszeremonie, bei der man Schmerz, Verlust, Schuld, Vergebung etc. demonstrieren möchte. All diese Emotionen, die auf der strukturellen Ebene existieren, sind öffentlich und externalisiert, ob auf der Ebene kollektiver Bewegungen, ob in der Sphäre der Öffentlichkeit oder ob in der Politik des Staates. Und ich würde sagen, in jedem dieser Fälle ist die Art und Weise, in der Emotion Meinungen in der politischen Sphäre hervorbringt, verschieden.

Im ersten Fall der sozialen Bewegung oder des gesellschaftlichen Protests, zum Beispiel eine soziale Bewegung oder was wir eine Protestwahl nennen, ist das Emotion als Politik, der politische Akt ist der emotionale Akt, und der emotionale Akt ist der politische Akt. Im zweiten Fall der Sphäre der Öffentlichkeit, bei dem die affektiven Register in einer Art Zusammenarbeit zwischen Politik und Medien hervorgebracht werden, würde ich sagen, das ist eine repräsentative Art und Weise, Gefühle im politischen Gemeinwesen präsent zu machen.

Und im dritten Fall des Staates würde ich sagen, das ist eine performative Art, Gefühle hervorzurufen. Performativ bedeutet, wenn ein Staat sagt, ich entschuldige mich offiziell beim armenischen Volk, beim jüdischen Volk, beim palästinensischen Volk, dann schafft der Staat eine Emotion, einfach indem er das sagt, und möglich ist das, weil der Staat tatsächlich der stärkste Akteur ist, weil er die Möglichkeit hat, diesen emotionalen performativen Akt zu vollziehen. Lassen Sie mich also zusammenfassen, was ich bisher gesagt habe. Ich habe gesagt, dass eine Emotion, die für den Einzelnen vom moralischen Standpunkt her negativ ist, dies nicht unbedingt auch von einem kollektiven oder gesellschaftlichen Standpunkt her sein muss. Und ich habe auch gesagt, dass man politische Emotionen als strukturelle Phänomene betrachten sollte. Nicht als den rhetorischen Effekt, den der Diskurs eines Politikers erzeugt, wie das traditionell der Fall gewesen ist. Sondern eher als Einheiten, die Bestandteil der Strukur liberaler Gemeinwesen sind.

Insofern gibt es keine Gründe, rationale Emotion in der politischen Sphäre anzustreben, ich glaube, das geht aus dem, was ich sage, sehr deutlich hervor. Das heißt, dass wir von einem normativen Standpunkt nicht zwangsläufig nach einer Politik streben sollten, die von mehr Ratio bestimmt sein sollte. Und an diesem Punkt denke ich, dass die liberale, die traditionelle liberale Therorie der politischen Öffentlichkeit als einer Sphäre, die von der Vernunft regiert wird, also das Flickwerk von Habermas, Entschuldigung, dass diese Theorie einfach falsch ist. Oder wenn sie stimmt, verstehen Sie, bringt sie den Philosophen, den politischen Philosophen in die absurde Lage, dauernd die Tatsache zu bejammern, dass die Politik zu emtional sei. Und ich glaube, das ist nicht besonders produktiv.

Wenn Emotionen, wie ich sagte, ein intrinsischer Bestandteil der Politik sind, dann sollten wir sie als solchen Bestandteil verstehen und versuchen, diese Emotionen als Emotionen zu handhaben.

Deshalb ist mir der Ansatz von Judith Shklar, der Philosophin Judith Shklar viel sympathischer, die den Liberalismus repräsentiert hat und die sagte, der Liberalismus sei die politische Theorie, die nichts so sehr verabscheut wie die Furcht. Sie meinte damit, dass im 17. Jahrhundert, als Menschen verfolgt wurden und es Religionskriege gab, es in Europa diese kollektive Suche nach einer neuen politischen Ordnung gab, in der die Menschen keine Angst vor den sie Regierenden haben sollten. Und das liberale Gemeinwesen ist darauf in der Tat eine Antwort, es geht darum, einen Rahmen zu schaffen, in dem keiner Angst haben muss. Ich glaube, unter diesem Aspekt pflanzt Judith Shklar wirklich eine Emotion ins Herz des Liberalismus, nämlich die Abwesenheit von Furcht. Und das ist für mich überzeugender.

Das letzte Buch von Martha Nussbaum über politische Emotionen ist ebenfalls sehr wichtig und nimmt den Faden auf, weil auch sie ein Modell guter Politik entwirft, das auf Emotionen und nicht auf Ratio basiert. Sie teilt Shklars Gespür für die emtionale Grundbedingung des Liberalismus, vor allem, wenn sie sagt, dass im Herzen des Liberalismus ganz sicher eine Emotion ist. Aber ehrlich gesagt, ich fand nicht, dass Martha Nussbaums Antwort sehr befriedigend ist. Sie meint, wir sollten Leidenschaft und Liebe in den Mittelpunkt der Politik rücken, und ich weiß nicht, ich fand das nicht sehr, ich finde das persönlich nicht wahnsinnig interessant, um ehrlich zu sein. Wenn das so ist, möchte ich noch einmal die Frage stellen: Wie können wir normativ den Einsatz von Emotionen in der Politik kritisieren?

Wenn Emotionen an sich nicht das Problem sind, wenn negative Emotionen nicht immer und überall ein negatives gesellschaftliches Resultat zeitigen müssen, wie sollen wir also Emotionen kritisieren? Ich habe einen Vorschlag. Mehr nicht, denn um es noch einmal zu wiederholen, dies ist nicht mein Forschungsgegenstand. Ich möchte die These aufstellen, dass, wenn eine Emotion ein Eigeninteresse, ein kollektives Eigeninteresse verbirgt, wenn sie eingesetzt wird, um dieses Eigeninteresse zu verbergen, und wenn diese Emotion die Diskussion, die öffentliche Debatte und politische Teilhabe blockiert, dann handelt es sich in der Tat um eine sehr negative Emotion.

Ich versuche herauszufinden, welche Art Emotion diesen eben genannten Kriterien entsprechen würde. Und für mich ist die für den gegenwärtigen politischen Prozess gefährlichste Emotion, gewiss aus israelischer Sicht betrachtet, und ich will gleich dazu ein paar Worte sagen, das Gefühl der Furcht. Das Gefühl der Furcht. Deshalb komme ich zu den Schlussfolgerungen, ich habe noch etwa fünf Minuten für den Schluss, fünf, sieben Minuten, in denen ich über die Furcht nachdenken möchte. Und ihre meiner Meinung nach extrem negative Rolle in der Politik.

Bekanntlich hat Thomas Hobbes, der Autor des Leviathan, gesagt, als er geboren wurde, habe seine Mutter Zwillingen das Leben geschenkt. Nämlich ihm und der Furcht. Was natürlich interessant ist, Sie verstehen, weil er dann schließlich der Philosoph der Furcht wurde. Und wir können uns fragen, ob Netanjahus Regime nicht auch als ein Hobbes'scher Zwilling geboren wurde, als Spielart eines sehr speziellen Blicks auf die jüdische Geschichte und als ein Regime, das auf Furcht beruht. Deshalb möchte ich Netanjahus Herrschaft auch wirklich ein Regime nennen. Was dieses Regime kennzeichnet, ist die ständige Beschwörung der Furcht. Um Ihnen ein Beispiel zu geben, bei der erneuten Bekundung seiner Absicht, vor dem amerikanischen Kongress seine kontroverse und inzwischen sehr berüchtigte Rede zu halten, hat Netanjahu im Februar, also vor ein paar Monaten, vor einer Likud-Konferenz seine politische Philosophie zusammengefasst. Er sagte: „Ich bin nicht nur als Ministerpräsident nach Paris gegangen, sondern als Repräsentant des gesamten jüdischen Volkes.“

Das wusste ich nicht. Ich weiß nicht, wer genau ihn dorthin geschickt hat. „So wie ich nach Paris gegangen bin, werde ich an jeden Ort, an den ich eingeladen werde, kommen, um die israelische Position gegenüber jenen, die uns töten wollen, deutlich zu machen. Töten will uns vor allen anderen jedes iranische Regime, das seine Pläne, uns zu zerstören, deutlich ausspricht. Ich werde immer das Nötige dazu sagen und vor dieser Gefahr warnen und sie zu verhindern versuchen.“

Ich denke, wir lernen hier eines der Geheimnisse von Netanjahus verblüffendem Erfolg kennen, man muss einfach sagen, dass dieser politische Erfolg verblüffend ist. Eins der Geheimnisse ist seine Selbsternennung zum stolzen und starken Repräsentanten des Weltjudentums und sind seine dauernden apokalyptischen Beschwörungen unmittelbar bevorstehender und überwältigender Gefahren für die israelische Nation und die Heimat des jüdischen Volkes. Nun finden wir es gemeinhin interessant, dass Judith Shklar die Erzeugung von Furcht normalerweise als Vorrecht von, sagen wir, skrupellosen Regimen, vormodernen Regimen, machtmissbräuchlichen Regimen und Terrorregimen, von allen, die nicht demokratisch sind, betrachtet, und dass es sich um rechtswidrig erzeugte Furcht handelt. Unzulässig von den Regierenden bei den Regierten hervorgerufene Furcht. Ich glaube aber, dass wir Zeugen eines Prozesses werden, in dem Furcht mehr und mehr demokratisch wird, dass sie auch in Demokratien ein vorherrschendes Gefühl ist, und dass es sich um eine Emotion handelt, die von politischen Eliten genutzt wird, jedenfalls sehr oft genutzt wird, um einfach die eigene Außenpolitik zu rechtfertigen.

Als politische Emotion eingesetzt, hat die Furcht etwas Theatralisches. Bei Terrorregimen liegt das klar zutage. Dort gibt es Schauprozesse, man verbrennt öffentlich Bücher, man veranstaltet öffentliche Hinrichtungen und verbreitet Schrecken, um die inneren Feinde einzuschüchtern. Das macht ein Terrorregime aus, es ist die theatralische Inszenierung der Furcht.

In den Demokratien, die auf der Abwesenheit von Furcht beruhten, beobachten wir meiner Meinung nach zunehmend einen Prozess, in dem eine neue Art der Furcht entsteht. Sie mag etwas weniger theatralisch sein, obwohl auch sie manchmal theatralisch ist, siehe Daish, den Islamischen Staat. Und sie verbreitet sich oft auf weniger zentralisierte Weise. Und sie wird oft durch diejenigen provoziert, die wir als unsere äußeren Feinde betrachten, nicht von inneren Feinden. Und sie wird oft eher indirekt durch Fernsehnachrichten vermittelt. So etwa im Kalten Krieg, oder wenn wir Bilder von Terrorangriffen sehen, 9/11, der Islamische Staat, all das ruft Abscheu, Panik, Furcht hervor, und was diese Bilder auch machen, ist, dass sie den Zusammenhalt innerhalb der Demokratien wieder stärken.

Solche Ängste können für die Politik in Demokratien weitreichende Folgen haben. Eine Meinungsumfrage nach 9/11 zeigte zum Beispiel, dass eine Mehrheit der Befragten konservativer geworden war. Das deutet auf eine direkte Verbindung zwischen Furcht und einer konservativen politischen Orientierung hin. Eine andere in den USA erhobene Umfrage aus dem Jahr 2004 zeigte einen starken Zusammenhang zwischen der Einstellung, dass bürgerliche Freiheiten aus Sicherheitsgründen eingeschränkt werden könnten und einem hohen Fernsehnachrichtenkonsum, regelmäßigem Kirchgang und der Wahl der Republikaner. Im Gegensatz dazu informierten sich diejenigen, die dagegen waren, die bürgerlichen Freiheiten der Sicherheit zu opfern, aus vielfältigeren Quellen als nur aus dem Fernsehen, waren eher säkular eingestellt und wählten eher demokratisch. Mit anderen Worten, Furcht, würde ich sagen, ist Teil einer politischen Ökologie geworden, bei der Journalisten, die eher eindrucksvollen Bildern mit hoher emotionaler Wirkung nachjagen, den Journalisten gegenüberstehen, die ihrem beruflichen Ethos entsprechend handeln wollen. Politische und wirtschaftliche Eliten investieren in die Sicherheit, und alle bestärken sich gegenseitig und schaffen einen konservativen Wählerwillen, der die bürgerlichen Freiheiten zu suspendieren bereit ist.

Wenige demokratisch gewählte Regierungschefs haben ihren politischen Diskurs so unverhohlen dargelegt wie Netanjahu. Furcht ist sein zuverlässigster und engster Weggenosse, wie Thomas Hobbes' Zwilling. Es geht um die Atomenergie im Iran, um die arabische Welt im Ganzen, um Europa, das die Juden hasst, um die Juden selbst, die keine wahren Juden mehr sind und vermutlich die jüdische Zivilisation zerstören werden, um Isaac Herzog, der das Land verraten hat, weil er zur Münchner Sicherheitskonferenz gefahren ist, es geht um die Linken, die das Land an die Araber verschleudern wollen, kurz um alle, die den Untergang Israels und der Juden innerhalb und außerhalb des Landes wollen. Was aber vielleicht noch nicht bemerkt wurde, ist die Tatsache, dass Netanjahu auf einzigartige Art und Weise die Beschwörung der Furcht neu komponiert hat, dass er die Beschwörung der Furcht, die man in Demokratien findet, mit derjenigen in weniger demokratischen Regimes vermischt hat, indem er die äußeren und die inneren Feinde miteinander verbindet und behauptet, von den einen führe eine klare Linie zu den anderen. Die inneren Feinde, die Linken, die keine Juden mehr sind, arbeiten direkt den europäischen Boykotteuren in die Hand, die wahrhaftig den Untergang Israels wollen.

Wir können uns also fragen, und ich komme jetzt zu meinen Schlussfolgerungen, wir können uns fragen, warum die Furcht ein so wirkmächtiges politisches Instrument ist. Natürlich bringt sie massive und unmittelbare politische Gewinne ein. Warum? Ich möchte fragen, warum ist Furcht derzeit so wirksam? Nun, ich möchte drei Antworten anbieten.

Furcht rechtfertigt weit mehr als Zorn die Aggressivität und die Gewalt, die den Kern einer bestimmten Sicht auf die internationalen Beziehungen bilden. Mit anderen Worten, ich glaube, dass es heute problematischer ist, aus purem Zorn oder purem Eigentinteresse in den Krieg zu ziehen, als wenn man es aus Furcht tut, und dies wegen der verlogenen Sprache, mit der die Ziele von Außenpolitik vernebelt werden. Das heißt, es ist einfacher, militärische Aggressionen oder Vorherrschaft durch die Beschwörung von Bedrohungen zu rechtfertigen, als wenn man offen und ehrlich den starken Mann hervorkehren würde. Und ich glaube, das ist wichtig für einige der Entscheidungen, die die Vereinigten Staaten im letzten Jahrzehnt oder in den letzten knapp zwei Jahrzehnten getroffen haben. Das ist das eine. Furcht ist mit unserer moralischen Sicht auf die internationalen Beziehungen kompatibler als Zorn oder Eigeninteresse.

Zweitens: Furcht setzt nicht nur das Denken, sondern auch alle anderen Gefühle außer Kraft. Wie Evolutionsbiologen zeigen, ist Furcht die Emotion des puren Überlebens. Sie hat uns geholfen, die Flucht zu ergreifen oder zu kämpfen. Furcht erobert die Seele und tilgt alle anderen emotionalen Reaktionen. Wenn man also die Furcht in der öffentlichen Sphäre geschickt manipuliert, ist sie die Emotion, die alle anderen Emotionen besiegen wird. Wie etwa den Wunsch, mein Leben zu verbessern, die Anteilnahme an der Not der Anderen, das Gefühl der Scham angesichts der peinlichen Fehlgriffe meiner Führer etc. Der Wunsch zu überleben wird immer alle anderen Wünsche besiegen. Das genau war es, was Thomas Hobbes sagte. Er wird immer stärker sein als alle anderen. Die Furcht wird also dominant, um andere emotionale Regungen wie die eben erwähnten außer Kraft zu setzen, etwa das Verlangen nach Glück oder die Empathie für Andere. Sie ist die Trumpfkarte des politischen Spiels.

Und schließlich ruft Furcht nach unmittelbarem Handeln. Viel eher als eine Zukunftsvision oder eine langfristige Strategie. Furcht ist die Vision des Hier und Jetzt, sie ist die Vision nicht nur derjenigen, die keine Vision haben, sondern auch derjenigen, die ihrer Veranlagung nach, siehe Bush, jetzt sofort handeln, sofort irgend etwas machen wollen. Und das ist es ja, was Furcht fordert.

Also hatte Judith Shklar recht. Eine liberale Politik verabscheut die Furcht. Sie sprach von der Furcht, die die Führer, die Mächtigen, von ihren Untertanen trennte. Wir müssen uns aber heute fragen, ob wir nicht Zeugen einer Furcht sind, die sie noch nicht kannte. Sie starb vor 20 Jahren, sie sah die Furcht nicht, die die Solidarität gegenüber den Feinden schafft, von denen einige real sind und andere, wenn nicht eingebildet, so doch viel zu oft und zu leichtherzig instrumentalisiert, um Menschen- und Bürgerrechte außer Kraft zu setzen, und ich glaube, man sollte nichts so fürchten wie die Furcht, weil sie entweder Aggressivität und Kampfbereitschaft hervorruft oder Apathie und Flucht, und weil sie nicht kompatibel ist, glaube ich, wirklich nicht kompatibel ist mit demokratischen Gemeinwesen. Darum, wenn wir liberale und demokratische Gemeinwesen erhalten wollen, dann sollten wir nichts so fürchten wie die Furcht. Vielen Dank.

Hinweis: Hierbei handelt es sich um einen gesprochenen Text. Durchgängige bibliographische Referenzen sind daher nicht möglich.