Das (Un)glück der Frauen

Frau mit dem Rücken zum/zur Betrachter/Betrachterin sitzend, die Hände vor dem Gesicht

Ob Islam, Traditionen oder Gewohnheitsrechte,  - im Kaukasus werden Werte und Regeln verwendet, um Frauen Rechte und Freiheiten vorzuenthalten. Trotzdem sind den Frauen Traditionen und Religion wichtig, sie sollten aber für das heutige Leben weiterentwickelt werden. Dafür sprachen sich Teilnehmerinnen aus Russland und Georgien bei einer Podiumsdiskussion am 16. Juni 2015 aus. Vorgestellt wurden ein Film und eine Studie über das Leben der Frauen im Nordkaukasus.

Im Nordkaukasus sei die Stellung der Frauen in der Gesellschaft ein hochpolitisiertes Thema und mit vielen Tabus belegt, berichtete Ira Kosterina vom Länderbüro der Heinrich-Böll-Stiftung in Moskau, die die Studie geleitet hat. Fragen zu Moral, Sexualität und weiblicher Körperlichkeit konnten in den Fragebögen nicht offen formuliert werden, da sie als Beleidigung für die befragten Frauen hätten ausgelegt werden können. Die Studie wurde in Tschetschenien, Inguschetien, Dagestan und Kabardino-Balkarien durchgeführt.

Vielen der 800 Teilnehmerinnen der Studie sei zudem nicht bewusst gewesen, dass sie von häuslicher Gewalt betroffen seien. Vergewaltigung würden sie zum Beispiel nicht als solche wahrnehmen. Sie fühlten aber ein großes Unglück. Oft fänden sie nicht einmal im eigenen Haus ihren Platz. Doch nicht der Mann sei das größte Problem: Es seien oft die Schwiegermütter, die sie zu Helferinnen im Haushalt degradierten.

Ein wichtiges Thema sei die Vielehe, so Kosterina. Heftig diskutiert worden sei über den weithin bekannten Fall der 17-jährigen Schülerin, die den Polizeichef heiraten musste, der nicht nur 30 Jahre älter als sie, sondern auch bereits verheiratet ist.

Überraschend hätten die Umfragen ergeben, so Kosterina, dass im vergleichsweise liberalen und modernen Kabardino-Balkarien 39 Prozent der befragten Frauen zwischen 18 und 39 Jahren angaben, Fälle von Vielehe zu kennen. Dort habe der Islam in den vergangenen Jahren an Einfluss gewonnen. Es lebten Traditionen auf, die längst vergessen schienen.

Frauen suchen Zweitfrauen für ihre Männer

Eine Rednerin* aus dem Nordkaukasus wies darauf hin, dass auch Frauen Polygamie akzeptieren und sogar fördern. Es käme sogar vor, dass Ehefrauen für ihren Mann eine Zweitfrau suchten, auch wenn er gar nicht darum gebeten habe. Sie selbst sei ebenfalls schon von Freundinnen gefragt worden. Die Gründe seien vielfältig. Manche Frauen wollten ihre Freundinnen in die Familie aufnehmen, andere könnten keine Kinder gebären, wollten aber die Ehe aufrecht erhalten und einen Erben in der Familie haben.

Sie berichtete von ihrer Arbeit als Ko-Regisseurin des bei der Veranstaltung präsentierten Films "Lasst mich nicht aufhören!" (Ne dajte mne ostanovit’sja!) von 2014. Für diesen Film hatte die Teilnehmerin mit dem Team viele engagierte Frauen in der Region interviewt, darunter die Wissenschaftlerin Madina Tekujewa aus Dagestan.

Tekujewa sagte, die Globalisierung umfasse nicht nur die Verbreitung westlicher Werte in der Welt, wie es allgemeinhin angenommen werde. Auch aus dem orientalischen Raum gelangten Vorstellungen über den Umgang miteinander in die Welt.

Kosterina erklärte, warum der Islam, aber auch die Traditionen und die Gewohnheitsrechte, die Adaty, im Nordkaukasus an Bedeutung gewinnen: Es habe sich noch kein neues Wertesystem etabliert. Das alte System sei durch die Sowjetunion und in Tschetschenien durch den Krieg zerstört worden.

Manipulation der Traditionen

Islam, Traditionen und Gewohnheitsrechte beinhalteten keine eindeutigen Vorgaben für den Alltag. Sie müssten interpretiert werden, würden manipuliert und gebrochen, um Frauen ihre Rechte vorzuenthalten. Polygamie zum Beispiel entspreche nicht den religiösen Rechten, so Kosterina. Der Islam verbiete Ehrenmorde, und doch würden sie begangen.

Trotzdem sprachen sich Kosterina und die Ko-Regisseurin für die Traditionen und Gewohnheitsrechte aus. Diese enthielten auch gute Regeln für das Zusammenleben, so den Respekt gegenüber Älteren, erklärte letztere. Ältestenräte zum Beispiel würden in Familien vermitteln, in denen es Probleme gäbe. Wenn eine Ehefrau nicht glücklich sei, könne eine Kompensation ausgehandelt werden.

Kosterina und ihre Mitstreiterin machten deutlich, dass Traditionen und Gewohnheitsrechte ein Teil der Kultur und mithin wichtig für die eigene Identität sind. Die Lehrerin Luiza Mutoshvili aus Georgien bekräftigte: Traditionen und Gewohnheitsrechte machten die Kultur ethnischer Gruppen interessant.

Mutoshvili berichtete, Frauen spielten nicht nur traditionell eine wichtige Rolle in den Familien. Traditionen und Gewohnheitsrechte würden durchaus auch im Sinne der Frauen weiterentwickelt. Sie nannte ein Beispiel aus ihrer Heimat, dem georgischen Pankisi-Tal. Dort leben ethnische Tschetschenen, die Kisten, denen auch Mutoshvili angehört. Unter den Kisten seien nach dem Vorbild der nur aus Männern bestehenden Ältestenräte inzwischen auch Frauenräte gegründet worden. Diese würden zwar nicht immer respektiert. Aber inzwischen könnten mehr Frauen als früher ihre Stimme zu Gehör bringen.

Ein Ältestenrat der Frauen

Die Lehrerin betonte, Veränderungen in der Gesellschaft könnten nur mit den Männern herbeigeführt werden. Sie selbst habe dank Unterstützung ihres Vaters studieren, reisen und schließlich auch bei der Parlamentswahl 2012 kandidieren können, bei der sie nur um zwölf Stimmen verloren habe. (Allerdings seien Ihre mehr als zwölf Cousins auch extra ihretwegen überhaupt nicht zur Wahl gegangen: Die Tradition habe es ihnen verboten, ihr eine Arbeit in Männergremien zu erlauben, so Mutoshvili.) Ihrem Vater sei es wichtig, dass sie sich einerseits ihrer Herkunft bewusst sei, aber sie solle auch stark sein.

Mutoshvili beschrieb die muslimischen Kisten als sehr gut integrierte Minderheit im christlichen Georgien. Auch wenn sich das Land demokratisch entwickle, gebe es zahlreiche Probleme. So seien im vergangenen Jahr 28 Frauen ermordet worden. Die Täter seien allesamt ihre Ehemänner gewesen. Dies sei keine neue Entwicklung, doch werde es inzwischen thematisiert und es rege sich Protest in der jungen Generation.

*Nach Drohungen an die Aktivistin muss diese im Artikel anonym bleiben.


Veranstaltung am16.06.2015

Lasst mich nicht aufhören!
Frauen im Nord- und Südkaukasus fordern ihre Rechte ein

 

Trailer: Lasst mich nicht aufhören! - Heinrich-Böll-Stiftung

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Im Film "Lasst mich nicht aufhören!"  schildern Frauen aus Tschetschenien, Inguschetien, Dagestan und Karbadino-Balkarien die Situation im Nordkaukasus.