20 Jahre Srebrenica

Adnan Rondic und Miranda Jakisa im Gespraech
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Adnan Rondić und Miranda Jakiša im Gespräch

Am 11. Juli 2015 jährt sich der Genozid von Srebrenica zum zwanzigsten Mal. Der Journalist Adnan Rondić hat ein Buch über die Folgen jener grausamen Tage im Sommer 1995 geschrieben.

Gegen Ende der Veranstaltung erzählt der bosnische Journalist und Buchautor Adnan Rondić eine Geschichte, die er vor einiger Zeit in der Nähe von Srebrenica erlebt hat. Er schläft im Haus einer Bekannten. Über Nacht hat es geschneit. Er schaut aus dem Fenster und sieht, wie im Morgengrauen eine alte, fast achtzigjährige Frau aus der Nachbarschaft die Straße vor dem Haus frei schaufelt. Er geht zu ihr hinaus, möchte ihr die Schaufel abnehmen. Doch die alte Frau lächelt und sagt: „Lass mich ruhig noch ein bisschen. Dies ist der Weg, den meine Söhne damals entlang gingen.“

Jeder der Anwesenden versteht: die Söhne sind weg, wurden ermordet, damals, vor zwanzig Jahren, im Genozid von Srebrenica. Adnan Rondić hat dieses Geschichte aufgeschrieben, sie heißt „Schnee“ und steht in seinem Buch "Živjeti Srebrenicu" (Srebrenica leben), das er an diesem Abend in der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin vorstellt. Die Veranstaltung, zu der die Heinrich-Böll-Stiftung geladen hat, trägt den Titel: „Zwischen Erinnerung und Zukunft – Zwanzig Jahre nach Srebrenica“. Die Zuhörer sind zahlreich erschienen, kaum ein Stuhl im Saal ist noch frei. Moderiert wird der Abend von Miranda Jakiša, Professorin für Slawische Literaturen an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Gudrun Fischer, die Projektkoordinatorin für Ost- und Südosteuropa der Heinrich-Böll-Stiftung, sagt zu Beginn, dass Srebrenica kein Vergessen erlaube. Ohne die Aufarbeitung der Vergangenheit könne es keine Zukunft geben. Doch der Krieg in Bosnien-Herzegowina  und der Genozid von Srebrenica seien eben noch nicht ein abgeschlossener Teil der Historie, immer noch, auch zwanzig Jahre nach dem Friedensabkommen von Dayton, würden sie in einem erheblichen Maße die Macht- und Erinnerungspolitik der verschiedenen Volksgruppen bestimmen.

Aber es gebe auch Zeichen der Versöhnung. Aufhorchen lasse zum Beispiel die Aktion „Sedam hiljada“ („Siebentausend“) des serbischen Journalisten Dušan Mašić. Am 11. Juli, zum zwanzigsten Jahrestag von Srebrenica, möchte er erreichen, dass sich 7000 Serben im Gedenken an die ermordeten Bosniaken von Srebrenica vor das serbische Parlament legen. Diese zivilgesellschaftliche Initiative, sagt Mašić, sei gegen die politische Instrumentalisierung und gegen das Vergessen von Srebrenica gerichtet. Damit würden es nicht mehr alleine die „Frauen in Schwarz“ sein, die Jahr für Jahr öffentlich in Serbien gegen den verharmlosenden Umgang der Politik und weiter Teile der Gesellschaft hinsichtlich des Völkermordes von Srebrenica protestieren. Und auch diese Veranstaltung der Heinrich-Böll-Stiftung am heutigen Abend, fährt Gudrun Fischer fort, soll ein Beitrag gegen das Vergessen und für die Zukunft von Bosnien und Herzegowina sein.      

Der Genozid

Srebrenica ist eine Stadt im Osten von Bosnien und Herzegowina, ungefähr 15 Kilometer von der Grenze nach Serbien entfernt. Seit dem Abkommen von Dayton gehört sie zur Republika Srpska,  eine von zwei Entitäten des Staates Bosnien und Herzegowina. Srebrenica wurde während des Jugoslawien-Krieges zu einer UN-Sicherheitszone erklärt. Ungeachtet dessen kam es zur Großoffensive der bosnisch-serbischen Einheiten. Auf Anweisung des Serbenführers Radovan Karadžić eroberten am 11. Juli 1995 die Streitkräfte unter Führung von Ratko Mladić die Stadt. In den darauffolgenden Tagen kam es zum größten Massaker in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg.

Die Männer wurden, unter den Augen der niederländischen Blauhelmtruppen, von den Frauen und Kindern getrennt und im Anschluss durch Mladić Truppen verschleppt und abtransportiert. Danach begann das systematische Morden. In Lagerhäusern, auf Fußballfeldern, in Grundschulen und in den Wäldern rund um Srebrenica erschossen die „ethnischen Säuberer“ mit ihren Handfeuerwaffen und Maschinengewehren mehr als 8.000 Bosniaken. In seinem Urteil gegen General Radislav Krstić, einer der Hauptverantwortlichen bei den Hinrichtungen in Srebrenica, hat der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) die Bezeichnung für das Massaker präzisiert: Genozid.

Adnan Rondić, 42 Jahre, hat seit 1995 als Journalist über die Ereignisse in und um Srebrenica berichtet. Er war bei den Prozessen des Internationalen Gerichtshofes für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag, hat mit Überlebenden und Tätern gesprochen, den Aufbau der „Gedenk- und Begräbnisstätte Srebrenica-Potočari“ journalistisch begleitet und ist in den vergangenen zwanzig Jahren immer wieder nach Srebrenica gefahren, um sich ein eigenes Bild über die Lage der Menschen dort zu machen. All diese Erfahrungen hat er nunmehr in seinem Buch "Živjeti Srebrenicu" verarbeitet. Auf die Frage der Moderatorin Miranda Jakiša, weshalb er sein Buch „Srebrenica leben“ genannt hat, antwortet er: „Es gibt keine Zukunft ohne die Erinnerung an die Vergangenheit. Aber die Menschen in Bosnien leben diese Erinnerung nicht nur von Gedenktag des 11. Juli bis zum nächsten Gedenktag, nein, sie leben Srebrenica tagtäglich. Srebrenica ist ein Fakt, ein Teil ihrer Geschichte, ein Teil ihrer Identität, ein Teil ihres Lebens.“

Zeugenaussagen

Bis jetzt, fährt Adnan Rondić fort, also bis kurz vor dem zwanzigsten Jahrestag des Genozids, seien 6.241 Personen in der „Gedenk- und Begräbnisstätte Srebrenica-Potočari“ beigesetzt worden. Das jüngste Opfer, so Rondić, wurde am 11. Juli 2013 bestattet. Es war die neugeborene Tochter von Hajrudin und Hava Muhić. Wenige Tage vor der Beisetzung wurde ihre Geburtsurkunde ausgestellt. Geburts- und Todestag waren gleich: 11. Juli 1995. Auf ihrem Grabstein und auf ihrer Geburtsurkunde wurde auf Wunsch der Mutter als Vorname Fatima eingetragen.

Um zu verdeutlichen, welche Verluste die Menschen in Srebrenica erlitten haben, liest er aus seinem Buch Zeugenaussagen von Überlebenden vor, die er über all die Jahre protokolliert hat:

„Vier meiner Brüder kamen nicht wieder … Der Vater ist der Fünfte … Ich habe nur die Mutter, keinen anderen mehr …“

„Ich habe den sechzehnjährigen Sohn verloren … und den Mann.“

„Sie haben meinen Sohn abgeführt, hier aus Potočari … Er war sechzehn Jahre und zwei Monate alt …“

„Alle meine Kinder sind umgekommen … Sechs Söhne … zwei Brüder … acht Cousins … und am Ende haben sie meine Schwester aufgehängt … Ich habe keinen mehr.“

„Ich begrabe heute drei Söhne … und einen Bruder. Die Tochter habe ich zu Hause zu Beginn des Krieges verloren.“

Nach diesen eindrücklichen Passagen möchte Miranda Jakiša, die Moderatorin des Abends, von Adnan Rondić erfahren, wie die serbische Seite mit dem Genozid von Srebrenica umgeht. Mittlerweile seien, erläutert Rondić, einige Tausend Bosniaken in die Region zurückgekehrt. Das Zusammenleben zwischen den Volksgruppen gestalte sich jedoch immer noch sehr schwierig. Man gehe zwar miteinander einen Kaffee trinken, aber die Serben von Srebrenica wollen nicht über den Juli 1995 sprechen. Da herrsche eine Mauer des Schweigens, die jegliche Versöhnung verhindere.

Darüber hinaus würden die Bosniaken in Srebrenica immer noch diskriminiert, sagt Rondić. Sobald eine Erzieherin ein Kopftuch trage, würden die Serben diesen Kindergarten boykottieren. Gelegentlich komme es zu Verhaftungen von Bosniaken alleine aufgrund einer Mitgliedschaft zu einer muslimischen Religionsgemeinde. Die serbische Polizei argumentiere, dass dies bereits ein legitimer Beweis für die mögliche Zugehörigkeit zu einer terroristischen Gruppierung sei. Und manch ein Serbe, sagt Rondić, feiere bedauerlicherweise den 11. Juli 1995 immer noch als den „Tag der Befreiung“ von den Bosniaken.

Leugnung des Genozid

Ebenso schlimm sei es, fährt Rondić fort, dass es von offizieller serbischer Seite immer noch keine Anerkennung des Völkermordes gebe. Im März 2010 habe sich das Parlament Serbiens zwar für das Massaker von Srebrenica entschuldigt, den Begriff des Völkermordes in seiner Resolution jedoch ausdrücklich vermieden. Und auch Serbiens Präsident Tomislav Nikolić habe sich im April 2013 für das Massaker entschuldigt. Gleichzeitig wollte er die Tat jedoch nicht als Genozid bezeichnen. Milorad Dodik, der Präsident der Republika Srpska in Bosnien und Herzegowina, sagt Adnan Rondić, negiere gar den Völkermord und behauptet in Interviews, dass die Zahl der Opfer bei 3500 bis 4000 – und nicht wie offiziell anerkannt, bei über 8000 liege. Und auch die von Gudrun Fischer in ihrer Eröffnungsrede angesprochene Aktion „Sedam hiljada“ (Siebentausend) des serbischen Journalisten Dušan Mašić in Belgrad, die ja an sich ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung des Genozids von Srebrenica in Serbien sei, spreche von 7000 und eben nicht von über 8000 ermordeten Bosniaken.    

Die Masse der Serben schweige, Zahlen würden relativiert, serbische Kriegsopfer aufgerechnet und euphemistische Beschreibungen gewählt. „Für die Leugnung des Genozids,“ sagt Adnan Rondić, „gibt es jedoch keine Rechtfertigung. Es ist eine Schande, dass man dies in Serbien immer noch ungestraft sagen darf.“ Wie könne man, fragt Rondić, nach all den Beweisen und rechtskräftigen Verurteilungen den Genozid von Srebrenica immer noch leugnen? Auch in seinem Buch habe er all die Beweise und Gerichtsurteile minutiös aufgelistet. Da sei zum Beispiel das Urteil gegen Radislav Krstić, in dem die Tat eindeutig als Völkermord klassifiziert wurde. Oder die Urteile gegen Zdravko Tolimir, Vujadin Popović und Ljubiša Beara, die wegen Völkermord zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt wurden. Nochmals fragt er: „Wie kann man, im Angesicht all dieser erdrückenden Beweise, den Genozid von Srebrenica immer noch leugnen?“

Zukunftsperspektiven

Nach weiteren Lesungen aus seinem Buch wurde die Veranstaltung zum Abschluss noch für Fragen aus dem Publikum geöffnet. Eine Frau möchte wissen, wo er, Adnan Rondić, einen Ausweg aus all den festgefahrenen Strukturen in Bosnien und Herzegowina sehe?  Rondić lächelt und sagt: „Konnten Sie mir nicht eine einfachere Frage stellen?“ Es gebe keinen Zauberstab, sagt er, mit dem man alle Probleme auf einmal lösen könne. Ganz gewiss brauche Bosnien und Herzegowina einen anderen Verfassungsrahmen, der die Blockadepolitik und Machtspiele der unterschiedlichen Völkergruppen verhindere. Es müssten mehr Gespräche und Dialoge stattfinden, der ökonomische Fortschritt müsste sichtbar und der rechtliche Rahmen demokratisiert werden. Hoffnung würden ihm im Moment Beispiele wie in der Stadt Goražde machen, wo es lokalen Politikern durch kluge Maßnahmen gelungen sei, die Lebenssituation der Bevölkerung erheblich zu verbessern. Aber natürlich sei die augenblickliche ökonomische und politische Lage eine Katastrophe. „Wir alle“, sagt er, „ich meine ausdrücklich alle in Bosnien und Herzegowina, haben etwas Besseres verdient.“ Aber eines sei klar, fügt er dann noch mahnend hinzu, solange man sich nicht zu seiner Vergangenheit bekenne, könne es auch keine Zukunft geben.

Darauf anspielend beendete die Moderatorin Miranda Jakiša den Abend mit einem Zitat von Theodor W. Adorno: „Die Ermordeten sollen noch um das Einzige betrogen werden, was unsere Ohnmacht ihnen schenken kann: das Gedächtnis.“ Das Zitat stammt aus Adornos „Erziehung nach Auschwitz“.

Hinweis:

Das Buch von Adnan Rondić "Živjeti Srebrenicu" (Srebrenica leben) wird in den kommenden Tagen über die Webseite der Heinrich Böll Stiftung in Bosnien und Herzegowina erhältlich sein. Einen Auszug daraus können Sie bereits jetzt lesen.

Im Herbst folgt eine Übersetzung ins Englische. Ein deutscher Verlag wird noch gesucht.