Tunesien: Nach den Protesten ist vor den Protesten

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Wiederholt sich gerade die Geschichte in Tunesien? (Archivbild)

Als Reaktion auf den Tod des arbeitslosen Tunesiers Ridha Yahyaoui sind in 16 der 24 Provinzen des Landes Proteste ausgebrochen. Der Staat sieht darin vor allem ein Sicherheitsrisiko, in den Medien finden die Forderungen kaum Gehör. Eine politische Lösung ist derzeit nicht in Sicht.

Wiederholt sich in Tunesien die Geschichte des arabischen Frühlings? Als am 16. Januar der arbeitslose Ridha Yahyaoui in der Stadt Kasserine bei einer Protestaktion an einem Stromschlag starb, schien diese Frage nicht abwegig. Es bleibt jedoch unklar, ob es auch diesmal ein Selbstmord war, ähnlich dem des Mohamed Bouazizi im Dezember 2010 in der Stadt Sidi Bouzid.

Gleichwohl brachen in Reaktion auf den Tod Yahyaouis in 16 der 24 Provinzen Proteste aus, Tausende gingen täglich auf die Straße, in einigen Städten gingen vereinzelte staatliche Einrichtungen in Flammen auf. Die internationale Presse zog Vergleiche zu dem Beginn der Revolution 2011. Als die Proteste am 22. Januar die Armenviertel der Hauptstadt Tunis erreichten, verhing die Regierung eine landesweite nächtliche Ausgangssperre, die am 25. Januar zwar gelockert, aber bis heute nicht aufgehoben wurde.

Die zentrale Forderung der Demonstrationen sind Jobs. In der 20.000 Einwohner zählenden Stadt Thala im Norden der Provinz Kasserine hat das örtliche Koordinationskomitee eine Erklärung mit 15 Forderungen herausgegeben. An erster Stelle werden Besuche verantwortlicher Regierungsmitglieder in der Stadt gefordert. An zweiter Stelle eine staatliche Garantie für die Vergabe mindestens eines Arbeitsplatzes pro Familie. Darüber hinaus werden Lösungen für das strukturelle Problem der Arbeitslosigkeit verlangt, die allerdings sehr vage formuliert sind. Die Erklärung richtet sich direkt an die Regierung. Denn der öffentliche Sektor ist größter Arbeitgeber Tunesiens, zumindest im Landesinneren. Der Privatsektor taucht in dem Forderungskatalog nicht auf.

In diesen Forderungen treten die Unterschied zu den Protesten von 2011 zu tage. Auf Nachfrage betonen die ca. 30 Anwesenden einer Versammlung des Demonstrationskomitees, dass die Ursache des Problems in einer gezielten Benachteiligung der Provinzen im Inneren des Landes gegenüber den Städten an der Küste (Sahil) liege und nicht an einer autoritären Diktatur wie die Ben Alis. Die Regierung, in welcher Koalition und Parteienzusammensetzung auch immer, setze sich weiterhin aus Vertretern des Sahil zusammen. Diese kontrolliere den zentralisierten Staat und seine reglementierte Wirtsschaft, so argumentiert die Protestbewegung in Thala, und dies habe sich seit den frühen Jahren der Unabhängigkeit nicht wirklich geändert.

Die deklassierte Provinz

Diese Argumentation beruht nicht auf spontanen Ideen. In ihr spiegelt sich das kollektive Bewusstsein, von der politischen Elite kollektiv deklassiert und marginalisiert zu sein, das im Landesinneren vorherrscht. Die Provinz Kasserine hat im Rahmen der Übergangsjustiz kollektiv einen Status als Opfer des alten Regimes beantragt. Artikel 10 des Loi Organique 53 aus dem Jahr 2013 macht dies möglich. Der Artikel besagt, dass Regionen, die systematisch marginalisiert und von der nationalen Entwicklung ausgeschlossen wurden, einen Antrag auf Wiedergutmachung stellen können.

Um das zu beweisen, hat die Provinz Kasserine sozio-ökonomische Indikatoren angeführt, aus denen hervorgeht, dass ihre Bevölkerung von ca. 450.000 Menschen in so unterschiedlichen Indikatoren wie Zugang zu Trinkwasser, Arbeitslosigkeit, frühzeitigem Abbruch schulischer Bildung und Lebenserwartung entweder unter dem nationalen Durchschnitt oder zumindest den der Hauptstadt Tunis liegt. Die tunesische Wahrheitskommission Instance Vérité et Dignité hat den Antrag auf Wiedergutmachung akzeptiert. Allerdings ist der gesamte Wahrheits- und Versöhnungsprozess politisch ausgehebelt . Andere Provinzen haben bisher keinen solchen Antrag gestellt. Bisher wurden ca. 18.000 individuelle Anträge auf Anerkennung als Opfer staatlichen Unrechts gestellt.

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In Thala weisen Gesprächspartner auf ein weiteres Problem hin. Die endemische Korruption. Jobs im öffentlichen Sektor scheinen nur nach Bezahlung von Bestechungsgeldern vergeben zu werden. Für die Einstellung als Polizist, Verwaltungsbeamter oder Mitarbeiterin einer lokalen Behörde müsse bei Auswahlverfahren gezahlt werden. All das treibt die Menschen auf die Straße. Jeden Tag zieht der Protestzug durch die Kleinstadt. Sollten die Forderungen von der Regierung nicht erfüllt werden, und bisher deutet nichts darauf hin, sei die nächste Eskalationsstufe der Hungerstreik.

Die Protestbewegung hat kaum eine Möglichkeit, sich zu artikulieren

Die ohnmächtige Bitterkeit der Männer und Frauen, die in Thala die Proteste organisieren, steigert sich noch angesichts des öffentlichen Diskurses seitens des Präsidenten, der Regierung und sogar des Parlaments, in das die Provinz acht Abgeordnete gewählt hat (von denen sechs der Regierungskoalition angehören). Einige von ihnen haben zwar die Stadt Kasserine besucht, aber niemand hat sich auf die schwierige Reise durch die Provinz begeben, um mit den Menschen zu reden.

Präsident Essebsi hat zwar sein Verständnis geäußert, dass man ohne Arbeit nicht in Würde leben könne. Gleichzeitig hat er aber auch auf eine mögliche Unterwanderung durch den IS („Da´ish“) hingewiesen, der von Libyen aus seine „Nase in diese Operationen stecken könne“. Ebenso hat er die ausländische Presse und „gewisse Parteien“, womit wohl die linke Volksfront gemeint war, aufgefordert, nicht weiter Öl ins Feuer zu gießen. Dieser Ton wird in den tunesischen Medien übernommen.

Sie stellen die Proteste eher als Sicherheitsrisiko für die Mehrheit der Bevölkerung dar und geben Regierungsvertretern wesentlich größeren Raum als der Protestbewegung selbst. Die Verhängung der Ausgangssperre durch das Innenministerium und die konsequente Verhaftung von Menschen, die diese nicht einhalten, folgt dieser Logik. Premierminister Essid hat sich entgegen anderen Ankündigungen nicht der Öffentlichkeit in Kasserine gestellt und stattdessen auf den strukturellen und langfristigen Charakter des Problems hingewiesen.

Die Medien geben der Protestbewegung kaum die Möglichkeit, sich zu artikulieren. Stattdessen sind sie voller Hinweise auf gewalttätige Elemente, Schmuggler, die mit Geldzahlungen Gewaltanwendungen begünstigen wollen, um von der angespannten Sicherheitslage zu profitieren.

Kaum Chancen auf Reformen

Allerdings finden die Proteste in einer volatilen Umgebung statt. Ein schmaler Grenzstreifen mit Algerien begünstigt eine lokale Schmuggelökonomie, die unter anderem von dem Transport subventionierter Lebensmittel, Treibstoffe und anderer Güter auf die jeweils andere Seite profitiert. In Teilen dieses Grenzstreifens findet seit Jahren ein undurchsichtiger Kleinkrieg zwischen Jihadisten und tunesischen Sicherheitskräften statt, der auch Überlappungen mit dem Schmuggelgeschäft aufweisen könnte.

Am 23. und 24. Januar waren jedoch in der Stadt Thala bis 20 Uhr, dem Beginn der Ausgangssperre, weder Polizei noch andere Sicherheitskräfte zu sehen. Der Sitz der Nationalgarde war geschlossen. Vereinzelte Militäreinheiten haben in Grenznähe patroulliert und sollen nachts einzelne öffentliche Einrichtungen in der Stadt geschützt haben. Dies mag eine Deeskalationsstrategie der Sicherheitskräfte sein, die Protestbewegung der Stadt hat darin jedoch einen weiteren Hinweis auf das Desinteresse des Staates gesehen, der den Dialog mit seiner eigenen Bevölkerung im Landesinneren offenbar meidet.

Noch scheint die Protest-Bewegung lokal organisiert, wenig vernetzt und ohne wichtige Verbündete da zustehen. Auf der anderen Seite deutet jedoch auch wenig daraufhin, dass das neue, demokratische Tunesien fünf Jahre nach der Revolution die Voraussetzung erfüllt, um eine andere Wirtschaftspolitik zu entwerfen. Organisierte Interessengruppen verhindern die nötigen Reformen.

Dies würde auch gegen potentielle massive internationale Finanzhilfen sprechen, die ohne Konditionen nicht zu einer Lösung der Probleme beitragen würde. Vielmehr würden sie aller Wahrscheinlichkeit nach durch die von der demokratischen Transition nicht wesentlich veränderten Mechanismen der öffentlichen Verwaltung kanalisiert werden und somit die bestehenden Strukturen noch weiter stärken. Deshalb wird eine Wiederholung der Proteste in den ungemütlichen, kalten Wintern des bergigen Landesinneren Tunesiens nur eine Frage der Zeit sein.

 
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