Konferenz-Videos: 100 Jahre nach dem Genozid an den Armeniern 1915

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Foto eines anonymen deutschen Reisenden: Armenier werden im April 1915 von osmanischen Soldaten aus Kharpert (türkisch: Harput) in ein Gefangenenlager im nahen Mezireh (türkisch: Elazığ) geführt.

Auf der internationalen Konferenz der Heinrich-Böll-Stiftung zum Völkermord an den Armeniern richteten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihren Blick zurück – und nach vorn. Der Genozid, der vor 100 Jahren im untergehenden Osmanischen Reich begann und mit deutschem Mitwissen und Unterstützung durchgeführt wurde, stellt bis heute in der Türkei und auch in Deutschland weitgehend ein Tabu dar. Die Tagung, die am 5. September 2015 in Berlin stattfand, wurde in Kooperation mit der Deutsch-Armenischen Gesellschaft durchgeführt.

„Nicht aufgearbeitete Geschichte ist nie Vergangenheit, sie ist Teil der Gegenwart“ – mit diesen einleitenden Worten wies Dr. Raffi Kantian, der Vorsitzende der Deutsch-Armenischen Gesellschaft, auf die Aktualität des Themas hin. Dieser Gedanke wurde auch von anderen Teilnehmenden aufgegriffen, die zudem eine Verbindung zu aktuellen besorgniserregenden Entwicklungen im Nahen Osten herstellten. Die Beschäftigung mit der Frage nach dem Umgang mit solchen Zivilisationsbrüchen hat daher keineswegs an Aktualität verloren.

Die beschämende Mitverantwortung Deutschlands

In seinem Impulsvortrag zu Beginn der Konferenz rief Prof. Hans-Lukas Kieser, Historiker an der Universität Zürich, wesentliche historische Erkenntnisse über den Genozid ins Gedächtnis. Die Führung des Deutschen Reiches habe damals von dem Massenraubmord an den Armeniern gewusst, jedoch habe ein verkrampfter Anspruch auf Weltmacht jegliche moralische Bedenken zunichte gemacht. Bezüglich der Frage, was in diesem Zusammenhang historisch verbindliches Gedenken ausmachen kann, plädierte er dafür, dass Erziehung nach Auschwitz auch den Genozid an den Armeniern einzuschließen hat.



Die Überlebenden

Die Spuren der Überlebenden des Genozids führen sowohl ins heutige Armenien als auch nach Syrien und in den Libanon, nach Frankreich und in die USA, und schließlich auch in die heutige Türkei. Während die armenische Diaspora in den westlichen Ländern auf den ersten Blick integrierter, akkulturierter und gar assimilierter erscheint, waren die Startbedingungen für die armenischen Geflohenen in den arabischen und osteuropäischen Ländern ungleich schwieriger. Thematisiert wurde auch, wie die armenische Bevölkerung von Orten wie Aleppo oder Damaskus heutzutage erneut zur Flucht gezwungen ist. Der Staat Armenien selbst erlebte nach 1921 drei größere Einwanderungswellen. Armenier in der Türkei haben bis heute einen schweren Stand, ihr Leben war auch nach dem Genozid vielfach von Vertreibung, Konfiszierung, Ausbürgerung und rechtlichen Nachteilen geprägt. Nicht zuletzt existieren rechtsfreie Räume, wie es der nicht aufgeklärte Mord an Hrant Dink 2007 auf traurige Weise zeigt.

Die Täter

Die Frage nach den Tätern des Völkermords wurde auf dem vierten Panel behandelt. Dabei kam sowohl die Rolle der Osmanen bzw. die der Jungtürken zur Sprache, als auch die Rolle der Kurden und besonders die Rolle des Deutschen Reiches. Neben der historischen Schuld ging es besonders auch um die Frage, was die Nachfolgestaaten bei der Aufarbeitung versäumt haben. Der Publizist Wolfgang Gust betonte, dass der Völkermord an den Armeniern bis heute in Deutschland wenig Aufmerksamkeit erfahre, und verband seine Einschätzung mit der Forderung nach gründlicher Erforschung des Genozids durch deutsche Historiker.

Wie weiter mit der Aufarbeitung?

„Der Weg nach vorn“ wurde nicht nur von Claudia Roth (MdB) bei ihrem Impulsvortrag ins Auge gefasst. Ihr 10-Punkte-Plan zum Umgang mit dem Genozid beinhaltete die Forderung nach Aufarbeitung und Anerkennung der deutschen Mitverantwortung, Unterstützung der kritischen Zivilgesellschaft, Öffnung der türkischen, armenischen und russischen Archive sowie außenpolitischen Druck auf die türkische und armenische Regierung, um Anerkennung und Versöhnung zu ermöglichen. Kritisch diskutiert wurde auf dem sechsten Panel zudem die Frage, ob eine von der Türkei ins Spiel gebrachte Historikerkommission tatsächlich der Wahrheitsfindung dienen würde, oder nicht eher zur Verzögerung und Verfälschung beitragen würde. Dabei kam auch zur Sprache, dass am Anfang eines Versöhnungsprozesses die Anerkennung und Benennung des Genozids stehen müsste.

Zur Frage „Wie weiter mit der Aufarbeitung?“ diskutierten Prof. Hans-Lukas Kieser (Historiker) und Peter Maiwald (MdB, B‘90/Grüne) unter der Moderation von Kristian Brakel (HBS Istanbul) zum Abschluss der Konferenz. Dabei wurde auch die Hoffnung geäußert, dass es anlässlich des Gedenkjahrs 2015 doch noch zu einem gemeinsamen Entschließungsantrags aller Fraktionen im Deutschen Bundestag zum Völkermord an den Armeniern kommen könnte, welche sich leider nicht erfüllt hat. Klarere Worte aus Deutschland zur Benennung des Genozids würden dabei in der Türkei deutliche Spuren hinterlassen. So könnte deutsche Selbstkritik mit Kritik nach außen einhergehen und die Debatte in eine zukunftsfähige Richtung lenken.

Video-Mitschnitte der Konferenz „Die Gegenwart der Vergangenheit – 100 Jahre nach dem Genozid an den Armeniern 1915“ am 5. September 2015:

 

 

Die Gegenwart der Vergangenheit / Panel 3: Die Überlebenden - Heinrich-Böll-Stiftung

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Panel 3: Die Überlebenden

Alle Videos der Konferenz finden Sie hier in der Youtube-Playlist „Die Gegenwart der Vergangenheit: 100 Jahre nach dem Genozid an den Armeniern 1915“