Politik mit Schlagwörtern: Wie der Politsprech der AKP die türkische Sprache verändert

Seit geraumer Zeit ist in der Türkei von einer Hegemonie Erdoğans und seiner Partei für Gerechtigkeit und Aufbau (AKP) die Rede. Wenn man von Hegemonie spricht, spricht man von Einfluss - also etwas, dass alles durchdringt und in seinen Sog zieht. Dieser Sog ist bestens in der Sprache erkennbar.

 

Der politische Diskurs in Zeiten der AKP und Erdoğans ist einer, der sich Modewörter bemächtigt und sich um eine Reihe von mehrdeutigen Wörtern, Phrasen und Floskeln bemüht, die das Denken und Sprechen dominieren sollen, um eine ideologische Hegemonie zu erzeugen.

Erdoğans spricht beim Statesman’s Forum im Mai 2013
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Erdoğans spricht beim Statesman’s Forum im Mai 2013

„Yerli ve milli“ (einheimisch und national) - dies sind seit zwei Jahren die Schlagworte der türkischen Regierung. Das „einheimisch“ hat hier die Funktion, das Nationale zu verstärken. Gleichzeitig betont dieser Begriff eine allgemeine Andersartigkeit und Einzigartigkeit, wie es sie eben nur in der Türkei gäbe. Es ist eine Bezeichnung, die diese Authentizität und die Zugehörigkeit zur türkischen Nationalgemeinschaft verherrlicht. Es geht um die Frage, wer und in welcher Form an einer idealisierten (und imaginierten) Intimität nationaler Gemeinschaft teilhaben kann. Dieser Ausdruck ist ein unerschöpfliches Vehikel zur Zugehörigkeits- und Loyalitätskontrolle, das heißt es überlässt dem Staat die Möglichkeit zu definieren, wer oder was die richtige Form von Türkentum mitbringt.

Einheimisch und national

Weder „einheimisch und national“, noch viele andere Schlagwörter der AKP-Regierung sind gänzlich neu. Sie verwenden den traditionellen Wortschatz der türkischen Konservativen: Beispiele dafür sind populistische Kosewörter wie „herkesi kucaklamak“ (alle in die Arme schließen) und „benim esnafım“ (meine Kleingewerbetreibenden) oder moralistisch-konservative Veto-Phrasen wie „Bizim kültürümüzde yok!“ (Das gibt es in unserer Kultur nicht!) oder das Motiv der „tahrik“ (Provokation), das großen Raum für Auslegungen bei der Legitimation von lynchähnlichen Angriffen bietet.

Wörter werden zu Schlagwörtern

Der Unterschied zur aktuellen Sprachpolitik ist, dass sie diese Wörter im wahrsten Sinne des Wortes als Schlagwörter nutzt. Im Allgemeinen werden sie in abweisender, „beendender“ Form verwendet. Sie werden als Beschimpfungen genutzt, ja, es wird geradezu wörtlich damit auf den Gegner eingeschlagen. Typische Beispiele dieser Art sind: „Sen kimsin ya?“ (Wer bist du denn?), „Hiç farkı yoktur“ (dies unterscheidet sich nicht im Geringsten von (Terrorismus/ einem Putsch/ einer anderen illegitimen Handlung oder einer illegalen Gruppierung wie der PKK)) und „Kimse kusura bakmasın!“ (Entschuldigung, aber das ist nun mal so!).

Insbesondere in Erdoğans routinierter Sprechweise sind das herausfordernde Floskeln. Der verächtliche Spruch „Wer bist du denn?“ degradiert jeden seiner Gegenspieler und ernennt ihn zur „unbefugten“ Personen. „Tut mir leid, aber das ist nun mal so!“ ist in scheinapologetischer Art eine jeden Einspruch niederschmetternde Proklamation des Leitgedankens „wir sind kompromisslos und drücken da kein Auge zu“ – und wieder einmal ist es ein Ausspruch, der mit einem „Und damit basta!“-Effekt jede weitere Diskussion zunichtemacht. Die Formel „…unterscheidet sich nicht im Geringsten von…“ wird hingegen verwendet, um jede missfällige Äußerung, jedes Gebaren und jeden Kontrahenten mit „Terrorismus“ und „Terrororganisation“ gleichzusetzen, was das Wesen der Politik, das Unterscheidungsvermögen, mit Füßen tritt.

Im Grunde stehen wir hier einer Sprechkultur gegenüber, die durch das Schüren von Wut und Feindseligkeit eine stilisierte Ausdrucksform heraufbeschwört: eine Redensart, die sich durch Wiederholungen selbst in Ektase bringt und in politische Hetze mündet. Es ist eine Sprache des Fanatismus, die allumfassende Erklärungen in nur ein einziges Stichwort hineinzwängt.

Verschwörungs-Vokabeln halten Einzug in die Alltagssprache

Unter den hier untersuchten Worten und Floskeln sind solche in der Überzahl, die Ausdruck von Verschwörungsdenken sind. Beispiele dafür sind die Wörter „operasyon“ (Operation), „algı operasyonu“ (Wahrnehmungsoperation), „büyük resim“ (das große Bild sehen), „manidar“ (vielsagend) und besonders „üst akıl“ (Drahtzieher) – eine höhere Instanz, die angeblich im Verborgenen die Fäden zieht. Die Gezi-Proteste etwa wurden als eine „Operation“ „innerer und äußerer“ Kräfte gegen die Regierung bezeichnet. Aktivisten, die während den Kundgebungen zum ersten Mai 2015 wegen des inflationär angewandten Tränengases auf Fernsehbildern zu sehen sind, wie sie halb betäubt auf der Erde liegen, wurden beschuldigt, dies nur gespielt zu haben und Teil einer sogenannten “Wahrnehmungsoperation“ zur Verleumdung der Polizei zu sein.

Spezifische, konkrete, sachliche Kritik stößt systematisch auf das verallgemeinernde Argument vom „großen Bild“ - also eines angeblichen allumfassenden Planes gegen die Türkei. Es ist allerdings eher ein Pseudo-Argument, das alles Spezifische, Konkrete, Sachliche mit dem Hinweis auf globale Intrigen abtut. So wird es unmöglich, etwas an und für sich zu beurteilen, da alles im Rahmen des „großen Bildes“ irgendwie „vielsagend“ ist.

Natürlich ist die Verschwörungsmentalität keine Erfindung der AKP. Verschwörungstheorien fanden in der Weltanschauung des konservativen, wie auch linken Lagers in der Türkei schon immer Platz. Daher findet dieser Verschwörungs-Wortschatz im AKP-Diskurs einen starken Widerhall in der Gesellschaft und wird „normalisiert“ und in die Alltagssprache übernommen.

„Du weißt schon wer“ 

„Drahtzieher“ ist eine besonders gespenstische Floskel. Genau wie bei Lord Voldemort in Harry Potter oder bei anderen Bösewichtern, deren Namen nicht genannt werden dürfen, birgt dieses zusammengesetzte Wort, nach der Devise „Du weißt schon wer“, einen unterschwelligen Ton: es markiert einen großen Feind, der so angsteinflößend und unheimlich ist, dass sein Name nicht ausgesprochen werden darf. Nach Belieben sind das die USA/CIA oder der Westen. Wenn ausgesprochen, dann wandelt sich der Sprechakt zum Ausdruck von Mut und Behauptung, sich mit dieser schrecklichen Macht auseinanderzusetzen.

Auch der Begriff „Operation“ funktioniert ähnlich, indem er suggeriert, dass hinter einer politischen Aktion immer noch ein anderer, unheimlicher Beweggrund stecken muss: Die „Operation“ erfüllt eine antipolitische Funktion, indem sie hinter jeder politischen Aktion, jeder öffentlichen Äußerung eine Verschwörungsmentalität sucht, die den Urheber negiert, instrumentalisiert und enthüllt. Diese Logik unterbindet jedweden Schritt, den Inhalt eines Themas zu besprechen, und betrachtet jedes Thema als ein Kräftemessen. Das Wort „Operation“ an sich ist ein Vehikel, die Politik durch militärische und polizeiliche Metaphern aufzuladen.

Phrasen wie „Drahtzieher“, „Operation“ oder „Wahrnehmungsoperation“ werden von Sprachrohren der Regierung und den AKP-Meinungsmachern als objektive und wissenschaftlich unanfechtbare Begriffe verwendet. Die Dogmatik des Verschwörungsdenkens wird durch diese Floskeln in die Köpfe eingebrannt: Niemand handelt aus eigenem Antrieb, jedermann ist nur Spielfigur des „büyük oyun“ (großen Spiels), ein Werkzeug von „birileri/bir yerler“ (von jemandem), „sahibinin sesi“ (die Stimme seines Gebieters). Mit dieser Rhetorik reproduziert die AKP die bevormundende Ideologie und Politik, für deren Bekämpfung sie sich nach eigener Aussage seit ihren Anfängen eingesetzt haben will. Die AKP wirft dem Kemalismus eine laizistisch-modernistische Bevormundung vor.

Eine Tyrannei der Herzlichkeitsideologie

„İçten ve samimi“ (Herzlichkeit und Aufrichtigkeit) sind - vor allem von Erdoğan ausgesprochen - Zauberwörter. Sie spielen eine wichtige Rolle für das von ihm aufgebaute Image eines authentischen, volksnahen Politikers. In seinen Ansprachen, beispielsweise wenn es darum geht das Verhalten der Polizei zu rechtfertigen, haben die Begriffe „Herzlichkeit und Aufrichtigkeit“ die Funktion einer Rechtfertigung. („Man behauptet, es gäbe Menschenrechtsverletzungen. Es gibt keine Rechtsverletzungen, soweit die Justiz, zusammen mit den Polizeikräften, aufrichtig handelt!“ – Erdoğan, 12. Oktober 2016).

Nach diesem Diskurs tun die Machthaber immer das Rechte, wenn sie nur „mit Herz“ und „aufrichtig“ handeln. Dies ist ein Wert, der die Transparenz ersetzt und auslöscht. Die Tyrannei der Herzlichkeitsideologie ist in diesem Zauberwort wiederzuerkennen. Es nährt den Mythos, dass es sich beim Staat und seiner Bevölkerung um eine große durch herzliche Verbundenheit geleitete Familie handele. Es vermengt diesen mit der beobachtend-kontrollierenden Staatsführung und ersetzt die demokratischen Prinzipien von Öffentlichkeit und Transparenz mit Paternalismus.

Das grauenvollste „Unwort des Jahres“

Im Wortschatz, von dem oben die Rede war, wären bei einem Wettbewerb zum Unwort des Jahres einige Kandidaten dabei. Man kann sagen, dass die grauenvollste aller Formulierungen „ölü ele geçirilme“ (konnte nur tot gefasst werden) ist. Der Begriff „Captured dead“ wurde das erste Mal in Zusammenhang mit dem Tod Osama bin Ladens gebraucht. Danach hat dieser Begriff lediglich und ausnahmsweise bei ein bis zwei üblen Zeitgenossen Verwendung gefunden, die sich in der Verbreitung von Angst und Schrecken mit bin Laden messen konnten, wie etwa Muammar al-Gaddafi. 

Der seltene Gebrauch wurde von der internationalen kritischen Öffentlichkeit nicht nur als eine sprachliche Kuriosität, sondern auch als Vorzeichen von Primitivität kritisiert. Nach sehr langer Verwendung in der Türkei wich dieser Begriff einem anderen, furchtbaren Unwort, nämlich „etkisiz hale getirme“ (ausschalten/handlungsunfähig machen). Ich möchte anmerken, dass dieser „Ausdruck” nicht dem AKP-Regime zu eigen ist, sondern der „Amtssprache”, also der offiziellen Sprache des Staates entlehnt wurde.

„Ich verstehe dich nicht, wovon sprichst du?“

Es ist ratsam, noch einmal zu wiederholen, dass nicht die AKP-Führung die hier thematisierten Schlagwörter erfunden hat. Viele dieser Floskeln sind Modewörter. Doch die Tatsache, dass die Regierenden versuchen, die Sprache ihrem Ethos und ihrer Mentalität anzupassen, ist unbestreitbar. Selbst manche Oppositionelle machen von einigen Begriffen wie „Wer bist du denn!“, „Tut mir leid, aber das ist nun mal so!“, „Wahrnehmungsoperation“, „das große Ganze“, „kadim“ (uralt/ursprünglich) ohne jegliche Ironie und im gleichen Sinne Gebrauch und fördern so die Übernahme in den allgemeinen Wortschatz. Die Floskeln der Regierung werden aber auch von einigen Oppositionellen ironisch oder sarkastisch verwendet. Ein Beispiel dafür ist die Verhöhnung der inflationären Verwendung von „einheimisch und national“.

Manchmal braucht es aber nicht einmal das Zutun der Opposition. Als vor Kurzen beim “Aktionstag für ein sicheres Internet“ der Informationsminister eine Rede hielt, um einen „einheimischen, nationalen Roboter“ vorzustellen, unterbrach dessen Sprachsoftware die Rede mit den Worten “Ich verstehe dich nicht, wovon sprichst du?“.