Radikales Gedankenexperiment zum Koreakonflikt

Analyse

Südkoreas Bündnispartner, die USA, wird zunehmend unberechenbar. Das erschwert Seouls langfristig geplante Kooperations- und Entspannungspolitik. Eine Anlehnung an China wirkt da attraktiver.

Südkoreanische und amerikanische Soldaten samt Flaggen.
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Das Bündnis zwischen Südkorea und den USA hat diplomatisch weitreichende Folgen.

Ein von der koreanischen Halbinsel ausgehender Nuklearkrieg schien bis vor Kurzem eine reale Gefahr zu sein. US-Präsident Donald Trump und Nordkoreas Diktator Kim Jong-un zeterten gegeneinander wie verfeindete Hooligans. Nordkorea war zwar wohl noch von der Fähigkeit entfernt, den amerikanischen Kontinent mit einem Kernwaffenschlag zu bedrohen, betrieb aber emsig deren Entwicklung; Trump war zuzutrauen, diese Gefahr durch einen Präventivschlag im Keim zu ersticken.

Alle Mittel schienen ausgeschöpft. Diplomatie wurde unter den US-Präsidenten Clinton und Obama versucht und kam nicht ans Ziel. Drohungen und Sanktionen waren Politik der Bush-Administration, die unter Trump wieder in volle Geltung eingesetzt wurden. Beide Strategien erreichten nichts. Nordkorea produzierte und testete Kernwaffen und betrieb sein Raketenprogramm. Für einen Neuanfang hat der südkoreanische Präsident Moon Jae-in in Berlin im Juli 2017 ein Entspannungsprogramm vorgeschlagen, das in vielen kleinen Schritten die Krise entschärfen soll.

Entspannung für die Halbinsel: Das „Berliner Konzept“ Präsident Moons

Präsident Moon hat sein Konzept aus den Erfahrungen der deutschen Wiedervereinigung abgeleitet und auf die koreanische Lage zugeschnitten. Praktische Schritte sollen in sinnvoller Reihenfolge aufeinander folgen und sich dabei in einem Prozess ständig wachsender Kooperation wechselseitig verstärken. Begegnungen zwischen den Menschen (namentlich Familienzusammenführung), wirtschaftlicher Austausch, von dem beide Seiten profitieren, gemeinsame Projekte in der Wasserwirtschaft, dem Gesundheitswesen und zum Schutz der Umwelt sollen praktischen Nutzen friedlicher Beziehungen dokumentieren, politischer Dialog und militärische Vertrauensbildung diese Beziehungen festigen.

Der Prozess sollte mit größter Behutsamkeit geplant und betrieben werden, denn die Akteure müssen das tiefe Misstrauen zwischen den Parteien in Rechnung stellen. Nur eine Forderung fällt aus dieser klug-vorsichtigen Vorgehensweise heraus: Nordkorea solle unverzüglich sein Kernwaffenprogramm beenden.

Das Berliner Konzept traf laut Präsident Moon auf die Zustimmung der USA und Chinas. Die Unterstützung dieser beiden Mächte ist natürlich die Voraussetzung für die praktische Umsetzung – umso hinderlicher ist die schwankende Haltung Amerikas unter der Präsidentschaft Trumps.

Der Umsetzung stehen jedoch zwei Umstände entgegen: erstens die ständige Ungewissheit, ob die Absichten, Ziele und Motivationen der nordkoreanischen Führung richtig erkannt und verarbeitet werden, zweitens die Bündnisstrukturen der Region und ihre Einbettung in geostrategische Prozesse.

Ungewissheit über die Absichten Nordkoreas

Der herrschenden Meinung nach geht es dem nordkoreanischen Regime einerseits um das Überleben (des Regimes und seiner Führung), andererseits darum, von den Vereinigten Staaten als gleichberechtigter und gleichwertiger Akteur anerkannt zu werden. Das Streben nach Sicherheit ist also mit einem psychologischen Grundbedürfnis – Anerkennung – verbunden. Beide Motivationen, so die These, bildeten die Triebkräfte des Kernwaffenprogramms. Vielleicht ist das so. Letztliche Gewissheit lässt sich indes nicht gewinnen, weil das hermetischste Regime der Welt sich nur begrenzt durchschauen lässt.

Kim Jong-un wurde von früher Jugend an auf die Führerrolle hin sozialisiert. Er lernte, ein unfehlbares, unbegrenzt mächtiges, gottähnliches Wesen zu sein. Sein Großvater hatte den Anspruch gestellt, beide Koreas unter Führung des Nordens zu vereinigen, notfalls auch mit militärischen Mitteln. Hat der Enkel diesen Traum aufgegeben oder sieht er sich als der Erbe des verehrten Vorfahren, der dessen Versprechen verwirklichen will?

Gibt ihm seine militärische Führung ein realistisches Lagebild, in dem das Kräfteverhältnis zwischen Südkorea, den USA und Nordkorea korrekt beschrieben und die Schwächen seiner eigenen Streitkräfte schonungslos offenbart werden? Oder herrscht die Angst vor dem Schicksal der Boten mit schlechten Nachrichten vor? Hält er seine Truppen wirklich für unbesiegbar, wie die offizielle Propaganda dröhnt und wie er es selbst in öffentlichen Äußerungen immer wieder behauptet, oder weiß er, dass er eine militärische Auseinandersetzung unter allen Umständen vermeiden muss? Man ist geneigt, an eine realistische Sicht der Dinge zu glauben – wissen kann man das aber aus den oben genannten Gründen nicht.

In der ersten Jahreshälfte 2018 hat der nordkoreanische Diktator ein neues Gesicht gezeigt: entspannt, freundlich, entspannungsbereit. Diese Haltung wurde aber wiederholt durch das gewohnt ruppige Verhalten unterbrochen, wenn die USA nicht in der erhofften Weise reagierten. Schlussendlich war der Wunsch, sich mit dem amerikanischen Präsidenten zu treffen, stark genug, um die Kränkung durch die vorübergehende Absage zu überwinden – die Antwort war das Maßvollste, was die nordkoreanische Diplomatie in ihrer Geschichte produziert hat. Ob diese Position nachhaltig bleibt, ist gegenwärtig noch Sache der Spekulation. Die strukturellen Bedingungen der Politik in Ostasien jedenfalls sind bisher noch unverändert.

Die ostasiatische Bündnisstruktur

Die nukleare Frage ist keineswegs ein anachronistischer Überrest des Kalten Krieges. Sie ist vielmehr eingebettet in die heutige Konfliktstruktur Ostasiens. Die beiden Koreas sind feste Bestandteile politisch-militärischer Allianzen (China/Nordkorea versus USA/Südkorea/Japan), die wiederum die globale und regionale Rivalität des alten Hegemons USA und des hegemonial ambitionierten Herausforderers China spiegeln. Solange diese regionale Ordnung besteht, gibt es Handlungszwänge, die einer nachhaltigen Lösung des Nuklearkonflikts im Wege stehen: Die beiden Länder mit den stärksten Interessen an Stabilität und Frieden – China und Südkorea – sind demzufolge in zwei antagonistische Allianzen eingespannt. Beide wollen die Krise friedlich lösen, weil sie die Region stabilisieren und damit vorteilhafte Rahmenbedingungen für ihre Wirtschaft und Sicherheit schaffen wollen. Ihre Bündnisbeziehungen sind dabei hinderlich.

Die Machtrivalität mit Amerika veranlasst China, an Nordkorea festzuhalten. Die jahrelangen Provokationen Pjöngjangs gegen die USA und Südkorea waren nur möglich, weil Nordkorea sich für den Fall eines Falles auf den chinesischen Schutz verließ. China wiederum ist gegenüber Nordkorea nur begrenzt sanktionsfähig und als Mediator zwischen den beiden Nachbarstaaten (eine Rolle, die ihm eigentlich zufiele) unbrauchbar, weil es am Bündnis festhalten muss und den unangenehmen Bündnispartner braucht, solange die US-Truppen auf der Halbinsel stehen. Der Verlust Pjöngjangs nährt in Peking den Albtraum amerikanischer Truppen an der nordkoreanisch-chinesischen Grenze. Chinas befriedende Rolle bleibt der Geist in der Flasche, solange die koreanischen Staaten Figuren im amerikanisch-chinesischen Machtspiel sind.

Südkorea steht unter der Schutzgarantie der USA und hat nur begrenzte Einflussmöglichkeiten auf den Bündnispartner. Andererseits braucht es wegen der Unberechenbarkeit und nuklearen Bewaffnung Nordkoreas einen starken Alliierten. Seit Präsident George W. Bush in Nordkorea ein Mitglied der „Achse des Bösen“ sah, hat Seoul lernen müssen, dass die Interessen seiner Garantiemacht von den eigenen massiv abweichen können. Unter Donald Trump erlebt Südkorea die Steigerung dieser Differenz, nur dass Trump, ebenso wie Kim Jong-un, unberechenbar scheint. Handelspolitisch gebärdet er sich wie ein Feind seiner asiatischen Verbündeten. Rationale Kräfte in seiner Umgebung haben ihn bislang in der Sicherheitspolitik halbwegs unter Kontrolle gebracht – ohne Garantie für die Zukunft, denn ihre Reihen sind durch die Abgänge von Sicherheitsberater McMaster und Außenminister Tillerson stark geschwächt, während die Hardliner durch die Beförderung Pompeos zum Außenminister und die Ernennung John Boltons zum Sicherheitsberater ihren Einfluss beträchtlich ausgedehnt haben.

Das Allianzdilemma

Seoul findet sich damit im klassischen Allianzdilemma: Auf der einen Seite muss der kleinere Alliierte fürchten, dass die Schutzmacht ihren Schutzschirm zurückzieht. Südkoreas Rolle in Washingtons Geostrategie ist aus US-Perspektive, zumal derjenigen Trumps, nicht zwingend. Trumps grobe Androhung eines Handelskrieges gegen die südkoreanische Exportwirtschaft zeigt seine begrenzte Wertschätzung für den Partner. Zwischenzeitliche Freundlichkeiten ändern daran nichts. Der amerikanische Bündnispartner ist notorisch unverlässlich geworden.

Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, dass der große Allianzpartner den kleinen in einen von diesem nicht gewünschten Konflikt verwickelt. Dass Trump Nordkorea „vollständige Vernichtung“ androhte, erfuhr Seoul aus den Medien. Rhetorik und Twitter-Eruptionen des US-Präsidenten sind gefährlich; vielleicht ist er sich darüber nicht einmal klar. Während China und Südkorea versuchten, die Wogen zu glätten, putschten sich die narzisstischen Führungsfiguren in Pjöngjang und Washington gegenseitig hoch. Ob der jüngste Gipfel der beiden starken Egos dieses Verhältnis grundstürzend ändert, steht in den Sternen.

Damit scheint Südkorea in der Falle zu sitzen: Kritik an Trumps Eskalationsrhetorik könnte das Bündnis gefährden, das man gegen den unberechenbaren Verwandten im Norden braucht. Eine Anpassung an die Trumpsche Konfrontationspolitik liefe indes der beabsichtigten Entspannung des Berliner Konzepts entgegen, das Präsident Moons Politik leitet und entscheidend zum gegenwärtigen Entspannungsprozess beigetragen hat. Das Misstrauen der ohnedies paranoiden Führung in Pjöngjang ließe sich so nicht abbauen.

Präsident Moon hat die Stetigkeit kooperativer Politik als Grundbedingung für sein Friedenskonzept bezeichnet. Die US-Politik der letzten zwei Jahrzehnte verspricht das Gegenteil: ein chaotisches Hin und Her zwischen Provokation und Entspannungsbereitschaft. Der blitzschnelle Wechsel zwischen Absage des Gipfels und der Rückkehr zur Gipfelplanung für denselben Termin ist nur das jüngste Wechselbad, in das Washington seine asiatischen Verhandlungspartner stürzte. Diese Unberechenbarkeit wird bleiben: Die tiefe Spaltung der amerikanischen Gesellschaft und die Radikalisierung der republikanischen Partei bis an den Rand des Neofaschismus lassen kaum Änderung zum Besseren erhoffen.

Bündniswechsel

Der Erfolg des Berliner Konzepts setzt die Veränderung der strategischen Strukturen Ostasiens voraus. Solange der innerkoreanische Gegensatz mit der chinesisch-amerikanischen Rivalität verknüpft ist, wird Entspannung nur episodisch auftreten oder ganz scheitern. Ein kühner Schritt könnte helfen: Seoul müsste sich aus dem Bündnis mit den USA lösen und die Anlehnung an China suchen.

In dieser neuen Konstellation würde Peking eine Garantie für die Sicherheit Südkoreas gegen jeden Angriff abgeben, auch wenn die Aggression von Nordkorea ausginge. Im Gegenzug würde Südkorea seine amerikanische Allianz beenden und Washington bitten, die auf seinem Territorium stationierten Verbände so bald wie möglich abzuziehen. Die Freiheit von fremden Truppen würde Südkorea auch für den Fall einer koreanischen Wiedervereinigung garantieren.

Sein neues Bündnis könnte die Sicherheit Südkoreas im Vergleich zum Status quo erhöhen. Denn China hat aufgrund seiner unmittelbaren Nachbarschaft vitale Interessen an einer stabilen und friedlichen Entwicklung. Überdies kann nur Peking auf Nordkorea politisch wirksamen Druck ausüben. Seine konventionelle Schlagkraft ist erheblich und seine geheimdienstlichen Erkenntnisse und Operationsfähigkeit in dem abgeschotteten Nachbarland vermutlich besser als die jedes anderen Staates. China kann nicht aus der Region abziehen – das weiß die nordkoreanische Führung natürlich. Und in dieser seiner eigenen Region wird es von der Verteidigung seiner vitalen Interessen nicht abgeschreckt werden können, eben weil es keine Exit-Option hat.

Für die Volksrepublik wäre dieser Wandel ein historischer diplomatischer Triumph. Das Risiko, mit den USA über Korea in einen Krieg zu geraten, würde verschwinden, die geopolitische Position Pekings gestärkt. Nordkorea wäre als Bündnispartner entbehrlich. An seiner Stelle träte mit Südkorea ein wirtschaftlich potenter, mit China eng verflochtener stabiler Partner mit kompatiblen Interessen.

Konfliktmanagement nach dem Wechsel

Die Entspannungsschritte des Berliner Konzepts könnten in einer völkerrechtlichen Vereinbarung zwischen China und den beiden Koreas fixiert werden. Das Abkommen würde den Friedensschluss kodifizieren, China würde es garantieren. Die Durchführung der Verpflichtungen würden regelmäßig überprüft.

Das geteilte chinesisch-südkoreanische Interesse an einer stabilen Region bildet eine Versicherung gegen etwaige nordkoreanische Unberechenbarkeiten. China und Südkorea könnten die Haltung gegenüber Pjöngjang abgestimmt der jeweiligen Lage anpassen. Da die Mitgliedschaft in antagonistischen Bündnissen entfallen wäre, könnten die gemeinsamen Interessen Pekings und Seouls voll zum Tragen kommen. Diese Interessen sollten kleinere wirtschaftliche Interessendispute neutralisieren können. Das andere mögliche Konfliktfeld, Menschenrechte, hat die Beziehungen noch nie nennenswert belastet. Es gibt keinen Grund zu vermuten, dass sich dieser Zustand bei wesentlich engeren Beziehungen ändern sollte.

Das nukleare Problem müsste nicht vorab gelöst werden, die Lösung würde in den Entspannungsprozess eingepreist. Die kernwaffenfreie Zone Korea wäre Programmpunkt des Entspannungsprozesses. Nordkorea könnte sich dazu durchringen, weil die existentielle Bedrohung mit einem inszenierten Regimesturz entfallen wäre, hätten die USA erst die Halbinsel verlassen. Damit wäre auch nukleare Abschreckung gegen die USA keine Überlebensnotwendigkeit mehr. Wollte Pjöngjang Südkorea bedrohen, würde das die chinesische Sicherheitsgarantie für Seoul auf den Plan rufen. Dieses Risiko würde der Norden vermeiden wollen.

Das Ende der Kernwaffen- und Raketentests würde zwischen den drei Partnern kodifiziert und kontrolliert. Der sinnvolle nächste Schritt wäre die Verpflichtung Nordkoreas, die Produktion von Waffenspaltstoff zu beenden, dann würde sich die Demontage der nordkoreanischen Kernwaffen anschließen. Dieser Weg zur Abrüstung auf der Halbinsel ist realistischer als der Traum John Boltons, das ganze durch amerikanische Drohungen, Sanktionen und womöglich einen gewaltsamen Regimewechsel zu erreichen.

Die USA würden einen Bündnispartner, einen Brückenkopf auf dem asiatischen Festland und eine wichtige geostrategische Position für den Fall einer Taiwan-Krise verlieren. Zugleich entfiele jedoch eine äußerst riskante Bündnispflicht, und das Risiko eines bewaffneten Konflikts mit China verlöre einen seiner wahrscheinlichsten Auslöser. Die amerikanische Allianz mit Japan könnte aus dem Wandel sogar gestärkt hervorgehen, da die Position der USA in Ostasien nunmehr ausschließlich auf diesem Bündnis beruhen würde. Die stabilere Gesamtlage der Region wäre schließlich auch für Japan vorteilhaft.

Schlussbemerkungen

Der Schlüssel zur Verwirklichung dieses Szenarios „out of the box“ und der mögliche Showstopper ist der Grad des südkoreanischen Vertrauens in die guten Absichten und die Verlässlichkeit Chinas. Die Lebenszeitdiktatur von Präsident Xi Jinping, die verstärkte Repression in China und die inzwischen sehr robuste Verfechtung territorialer Ansprüche durch Peking machen nachdenklich.

Andererseits macht das zunehmend erratische und konfrontative Verhalten der USA einen Partnerwechsel für Seoul attraktiver. Als Präsident Moon vor einigen Monaten China besuchte, war in der gemeinsamen Stellungnahme der beiden Präsidenten von einer geplanten Annäherung die Rede. Anschließend fuhr ein hochrangiger chinesischer Vertreter nach Pjöngjang, wenig später begann das unerwartete Entspannungskarussell sich zu drehen. War diese Abfolge Zufall?