Trudeaus gebrochenes Versprechen: Die Debatte um eine Wahlrechtsreform in Kanada

Hintergrund

Mit der Absage einer Wahlrechtsreform hat Justin Trudeau ein zentrales Wahlversprechen von 2015 gebrochen. Das führt zu einer fortgesetzten Benachteiligung kleinerer Parteien und Verzerrung der Sitzverteilung im Vergleich zu den Wahlergebnissen. Und es könnte seine Wiederwahl gefährden.

Demonstration für eine Wahlrechtsreform im Februar 2017 in Guelph, Ontario.

Die Wahl zum kanadischen Unterhaus am 16. Oktober hätte in dieser Form eigentlich gar nicht stattfinden sollen. Im Juni 2015, kurz vor seiner Wahl zum Premierminister, hatte Justin Trudeau angekündigt, dies seien die letzten Wahlen unter dem alten kanadischen Mehrheitswahlrecht und versprochen, das Wahlsystem bis zum Herbst 2019 grundlegend zu reformieren. Eine Reform des Wahlrechts ist seit Jahren ein Dauerbrenner der kanadischen Debatte auf regionaler und Bundesebene. Und mit seinem Versprechen einer Wahlrechtsreform sicherte sich Trudeau die Stimmen vieler Anhänger/innen kleinerer Parteien, die sich im aktuellen System politisch kaum durchsetzen können.

Die Debatte um das Mehrheitswahlrecht

Denn seit seiner Gründung wird in Kanada das sogenannte „First-Past-The-Post“-System angewandt, ein einfaches Mehrheitswahlrecht, bei dem in jedem Wahlkreis der/die Bewerber/in mit einer relativen Mehrheit direkt gewählt wird. Solch ein, in den meisten angelsächsischen Ländern übliches, Wahlsystem, funktioniert relativ gut in einem Zweiparteiensystem. Aber in Kanada ist das Parteiensystem in den letzten Jahrzehnten zunehmend volatiler und diverser geworden. Neben den etablierten zwei großen Parteien, den Liberalen und den Konservativen, ist die sozialdemokratische „NDP“ zur drittstärksten Kraft aufgestiegen. Zudem verzeichnen die Regionalpartei „Bloc Québécois“ und die grüne Partei Kanadas wachsenden Zuspruch. In den meisten Regionen Kanadas treten heute zwischen drei und fünf kompetitive Parteien bei Wahlen an.

Das bedeutet eine wachsende Verzerrung des Verhältnisses der gewonnenen Sitze zum prozentualen Wahlergebnis. In vielen Wahlbezirken sind bei der letzten Wahl Kandidat/innen mit weniger als einem Drittel der Stimmen direkt gewählt worden. In mehreren Regionen gibt es Regierungen mit absoluter Mehrheit, die weniger als 40 % der Stimmen erhalten haben. Das Gleiche gilt für die Bundesebene, wo die Liberale Partei 2015 39,5 % der Stimmen gewann, aber eine absolute Mehrheit der Sitze im Unterhaus. Das wirft die Frage auf, inwieweit das kanadische Wahlrecht den Wähler/innenwillen noch adäquat abbildet und inwieweit es kleinere Parteien benachteiligt.

Vor diesem Hintergrund wird in Kanada seit Langem eine Reform des Wahlrechts debattiert, entweder hin zu einem Verhältniswahlrecht oder mit einer Reform des derzeitigen Mehrheitswahlrechts. In den 2000ern scheiterten mehrere Anläufe von Reformvorhaben, weil die konservative Partei gegen jede Reform war und die anderen Parteien meist die spezielle Reform bevorzugte, welche ihr bei Wahlen am Meisten geholfen hätte. Auch mehrere Versuche, auf regionaler Ebene zu einem Verhältniswahlrecht zu kommen, konnten sich nicht durchsetzen.

Trudeaus Wahlversprechen, dies zu einer Top-Priorität seiner ersten Amtszeit zu machen, hatte daher eine besondere Bedeutung. Seine Regierung ernannte eine Kommission und führte landesweite Anhörungen und eine Umfrage durch, um die Präferenzen der Bevölkerung für eine Reform zu sondieren. Die Kommission schlug schließlich vor, ein landesweites Referendum darüber abzuhalten, ob Kanada zu einem Verhältniswahlrecht wechseln solle.

Trudeaus Kehrtwende

Doch dann kam Trudeaus große Kehrtwende. Im Februar 2017 verkündete er, dass eine Wahlrechtsreform vom Tisch sei in dieser Legislatur, und er auch keine Ambitionen habe, dies erneut auf die Agenda zu setzen. Sein zentrales Argument war, dass ein Verhältniswahlrecht das Risiko politischer und gesellschaftlicher Fragmentierung berge und das politische System insgesamt unübersichtlicher und instabiler mache.

Damit ist nicht nur eine historische Chance vertan, das Wahlsystem Kanadas an die politischen Realitäten der heutigen Zeit anzupassen, vor allem hat Trudeau damit eines seiner zentralen Wahlversprechen gebrochen. Und diese Entscheidung, welche auf den ersten Blick die überproportionale Macht der zwei großen Parteien weiter festigt, könnte ironischerweise dazu beitragen, Trudeaus Wiederwahl zu gefährden.

Denn dies ist eines der konkretesten Beispiele für ein gebrochenes Wahlversprechen und fügt sich damit ein in ein in Kanada weitverbreitetes Narrativ von Justin Trudeau als jemand, der großen Ankündigungen von progressiven Reformen kaum Taten hat folgen lassen. Laut aktuellen Umfragen führt dies dazu, dass vor allem die Grünen, die sich besonders für eine Wahlrechtsreform stark gemacht hatten, im Aufwind sind und den Liberalen Wähler/innen streitig machen.

Die Grünen im Aufwind

Die grüne Partei liegt in aktuellen Umfragen bei gut 10 % und damit potentiell an dritter Stelle. Auch wenn das Wahlsystem es den Grünen unmöglich macht, 10 % der Sitze im Unterhaus zu erlangen, könnten sie doch von derzeit drei Abgeordneten auf bis zu zwölf Abgeordnete anwachsen. Das könnte selbst bei einem Wahlsieg von Trudeaus Liberalen deren absolute Mehrheit gefährden und sie in eine Minderheitsregierung zwingen. Es könnte aber auch das Zünglein an der Waage sein, welches dazu führt, dass die Konservativen als stärkste Kraft aus der Wahl hervorgehen und ihrerseits die künftige Regierung stellen, weil viele enttäuschte progressive Wähler/innen entweder die Grünen oder die NDP wählen dürften.

Die Entscheidung Trudeaus gegen eine Reform könnte ihn daher teuer zu stehen kommen. Eine Wahlrechtsreform hin zu einem Verhältniswahlrecht hätte ihm die Chance eröffnet, eine progressive politische Koalition zu bilden, die nach aktuellen Umfragen eine komfortable Mehrheit hätte. Stattdessen gibt es nun ein Kopf an Kopf Rennen zwischen Liberalen und Konservativen, in denen kleinste Ausschläge in die ein oder andere Richtung große Auswirkungen auf die Mehrheitsverhältnisse haben könnten und auf die Frage, wer künftiger Premierminister wird.

Wie immer die Wahl ausgeht, die Debatte um eine umfassende Reform geht nach der Wahl möglicherweise in die nächste Runde. Elizabeth May, die Parteichefin der Grünen, hat bereits angekündigt, dies zu einem zentralen Thema der kommenden Legislatur zu machen und zu einer zentralen Bedingung der Unterstützung einer möglichen Minderheitsregierung von Liberalen oder Konservativen. Sie spricht sich für die Einrichtung einer Bürger/innenversammlung aus, welche ein künftiges Wahlsystem debattieren und vorschlagen solle. Auch die NDP hat angekündigt, eine Wahlrechtsreform zu fordern, sollte es zu Verhandlungen um die Unterstützung einer Minderheitsregierung kommen.

Insofern wird das Thema auf der Tagesordnung bleiben, ob mit oder ohne Justin Trudeau als Premierminister.