Mauerspringerin

Das Jahr 1989 zwischen Westberlin, Peking, Gdansk, Straßburg, den Grünen und der Stasi in Ostberlin.

Nur ein kleines Loch in der Mauer - Bild auf der Mauer

Mein 1989 begann in Prag im April 1968, wo ich mit Rudi Dutschke und Jürgen Treulieb vom Asta der Freien Universität Berlin und Freunden aus der Evangelischen Studenten-Gemeinde (ESG) dem Prager Frühling an der Karls-Universität einen Besucht abstattete. Am Tag der Militärinvasion der UDSSR gegen den Prager Frühling saß ich dann mit hundert Studentinnen auf dem Straßenasphalt in Westberlin, um dagegen zu protestieren. Der nächste Schritt Richtung 1989 und friedliche Revolution war für mich das Konzert von Wolf Biermann und seine Ausweisung aus der DDR im Jahr 1976, dann die Gründung der Charta 77 und die Veranstaltungen des Bahro-Komitees bis zur Gründung von Solidarnosc 1980.

Schon immer hatten mich bei den Zugreisen aus und nach Westberlin, wo ich seit 1965 studierte, die Volkspolizeikontrollen mit den Schäferhunden gestört. Die langen Ledermäntel der Polizisten und die autoritären Umgangsformen erinnerten mich an die Nazizeit und an Heinrich Manns Roman Der Untertan. Vor allem uns Hippies oder Spontis hatten sie auf dem Kieker, die mit den schmuddeligen „Enten“ von Peugeot, während sie die im Mercedes nicht warten ließen und drangsalierten. Die Absurdität der Mauer, angeblich ein „antifaschistischer Schutzwall“, war mir schon beim Bau so klar wie ihre Unheimlichkeit und ihre Bedeutung für den Kalten Krieg.

Als mir dann eine Bäuerin bei Gorleben 1977 die DDR-Grenze an der Elbe zeigte und mir klar wurde, dass der Eiserne Vorhang und die Mauerschützen und die Stasi keine Radioaktivität aufhalten können, begann ich bewusst, die Umweltbewegung in der DDR und in Osteuropa zu unterstützen. Dazu gehörte für mich und meine Freundin Petra Kelly dann auch im Jahr 1979 die Teilnahme der Grünen bei der Europawahl.

Die neu entstehende Friedensbewegung nach dem Nato-Doppelbeschluss 1979 war für uns beide dann auch das Feld, in dem wir für eine unabhängige Friedensbewegung in der DDR eintraten. So half ich, Frauen für den Frieden in der DDR zu gründen, als Schwestern der Frauen für den Frieden in Westberlin und Westeuropa. Als Bärbel Bohley, Ulrike Poppe, Katja Havemann und Bettina Wegner 1982 unseren Aufruf „Anstiftung der Frauen zum Frieden“ annahmen und unterschrieben, war das für mich das erste große Loch in der Mauer, das ich mit wenigen Ausgereisten aus der DDR wie Christine Klingbeil, Roland Jahn, Freya Klier u.a. zu vergrößern suchte, auch gegen die Sozialistische Einheitspartei Westberlins (SEW) und deren Einfluss und den „Informeller Mitarbeiter“ (IM) im Westen.

Bei der Konferenz für ein atomwaffenfreies Europa im Mai 1983 in Westberlin hatte ich noch für symbolische leere Stühle für die Opposition in DDR und Osteuropa gesorgt und eine Menschenkette zwischen der Botschaft von Polen und der von Portugal organisiert. Mit den Frauen für den Frieden ließen wir damals Hunderte von Luftballons über das Brandenburger Tor fliegen. Die sammelte die Stasi mit unseren Frauenfriedensbotschaften auf.

Mit den großen Bonner Friedensdemos haben wir quasi auch Botschaften in die DDR und nach Osteuropa gesandt. So habe ich auch die Aktion von Petra Kelly am Alexanderplatz und die von Wolfgang Templin u.a. am 15.1.88 bei der Luxemburg-Demo gegen viele in der Friedensbewegung und den Grünen verteidigen müssen, als Mitglied des Bundesvorstandes der Grünen war ich mit Lukas Beckmann in einer Minderheit.

Die Wiederkehr Osteuropas

Im Juni 1989 wurde ich ins Europaparlament gewählt, nachdem die Kommunalwahlen in der DDR manipuliert und die Freiheitsbewegung in China auf dem Tiananmen-Platz grausam niedergeschlagen worden waren. Seit dem 6.8.89 spätestens war jeden Tag in Berlin und Leipzig und vor allem auch in Warschau und Prag viel los. Der Sturm der Geschichte begann den Eisernen Vorhang und viele offizielle Lügensysteme zu erschüttern.

Ich unterstützte „Demokratie jetzt“ und das „Neue Forum“, indem ich sie als erste und einzige im Europaparlament zitierte und die Freilassung der politischen Gefangenen in DDR und Osteuropa forderte. Für mich war das ganze Jahr 1989 die Wiederkehr Osteuropas in die europäische Geschichte und ein rasanter Schritt zur Wiedervereinigung eines demokratischen Europas.

Es gab damals aber bei den Grünen wie auch in der SPD und der Friedensbewegung heftige Auseinandersetzungen zum Thema DDR und Deutsche Einheit. Einige hielten noch lange zu Honecker als angebliche Mauer gegen rechts und wollten Dialoge mit der SED führen, fürchteten um die Stabilität Europas, anders als Willy Brandt, Vaclav Havel, Adam Michnik, Geremek und Mazowiecki. Dem hatte ich am 30.8. auf der Westernplatte einen grünen Zweig symbolisch überreicht und später in Westberlin polnische Umweltaktivisten heimlich getroffen.

Andere begannen die Montagsdemos als „rechts“ zu bezeichnen, weil sich der Slogan „Wir sind das Volk“ zum Slogan „Wir sind ein Volk“ transformierte und deutsche Fahnen mitgetragen wurden. Über meine Kirchenkontakte als Theologin war ich mit der Gethsemane-Kirche in Ostberlin und der Nikolaikirche in Leipzig verbunden und setzte auf die Traditionen von „Keine Gewalt“ – erst recht nach dem Tiananmen-Massaker – und auf gemeinsame deutsche Demokratietraditionen von 1848.

Der 9. November

Am Abend des 9.11.war ich in Bonn auf einer Konferenz zum europäischen Umweltschutz und sah bei einer Freundin mit einem alten Schwarz-Weiß-Fernseher den damaligen Regierenden Bürgermeister von Berlin, Walter Momper, mit einer aufgeregten Stellungnahme, weil sich viele Menschen in Ostberlin Richtung Mauer bewegten. In der Nacht konnte ich nur schlecht schlafen, spürte den Schub der Geschichte.

Um 6 Uhr morgens stand ich mit Egon Bahr und einer Reihe von Ministern am Köln/Bonner Flughafen. In Berlin fuhr ich sofort zur Kundgebung am Rathaus Schöneberg und ärgerte mich über die linksradikalen Störer. Ich hatte kein Problem damit, an dem Tag „Einigkeit und Recht und Freiheit“ mitzusingen. Ich wollte aber vor allem an die Mauer und versuchen endlich rüber zu kommen. So landete ich in der Nähe der taz am Check Point Charlie, fast eingequetscht von den Massen vor dem Wärterhäuschen. Da kam eine große, dicke Gestalt auf mich zu. Es war Helmut Kohl, der mir dann die Hand im historischen Gedränge gab. Es war wie ein Rausch, ein glücklicher Ausnahmezustand. Wir klebten taz-Aufkleber auf jeden Trabi, umarmten Unbekannte. Irgendwoher kam immer wieder eine Sektflasche zum Rumreichen. Ich schaffte es einige Male wie in Trance zwischen West- und Ostberlin am Checkpoint hin- und herzugehen, ohne den Pass zeigen zu müssen.

Die Zeit wurde vergessen. In den Bussen quetschten wir uns, wie ich es nur aus der Metro in Paris kannte. Keiner musste bezahlen. Es waren Stunden und Tage der solidarischen Verbrüderung und Verschwesterung mit irre viel kleinen berührenden Begegnungen zwischen Unbekannten, Fremden. Abends war der Kudamm so voll wie nie. Einige aus dem Osten standen schon Schlange vor Peep Shows oder ließen sich in Restaurants einladen. Ich traf zufällig Martin Sheen am Kudamm, der mir eine Kinokarte für einen Ossi schenkte. Ich lud einige jüngere erst mal zum Chinesen ein. Nachts schliefen viele in den U-Bahnen. Die BVG und die Polizei waren sehr freundlich. Diese Nacht konnte ich vor Freude kaum einschlafen. Doch am nächsten Tag war die Mauer wieder zu für mich.

Im „Aktionsfieber“

Im Europäischen Parlament schrieb ich gleich ein Konzept für einen ökologischen Marshallplan bei der deutschen Vereinigung. Endlich konnte ich ohne Angst um sie mit Bärbel Bohley wenigstens telefonieren. Ich sehnte mich danach, täglich in Berlin dabei zu sein. Doch Bärbel sagte: Eva du musst in Brüssel bleiben, du bist da unsere einzige Vertreterin.

Als ich dann am 3.12. endlich an der Friedrichstraße nach Ostberlin konnte, hupte es von einem alten Auto ohne Verdeck: „Willkommen Eva!“, riefen Wolf Biermann und Jürgen Fuchs wie fröhliche spitzbübische Jungs. Ich konnte es kaum glauben: welch ein Zufall, welche Entschädigung für all die Demütigungen jahrelang an der Grenze, beim Tränenpalast. „Schau mal im Friedrichstadtpalast vorbei“, riefen sie mir noch zu. Mich ergriff sofort das Aktionsfieber, wie ich es von 1968 kannte, und schon traf ich dort auf den Moment, als Schalk-Golodkowskis Flucht gemeldet wurde. Da war plötzlich zu erkennen, wer auf wessen Seite stand. Einige linke Professoren aus dem Westen und sogar grüne Bundestagsabgeordnete wirkten beleidigt, dass sie nicht weiter Ratschläge geben durften in Vorträgen.

Die Menge entschied sich, zum Staatsratsgebäude zu laufen, wo mich dann Schabowski fast mit seinem dicken Bauch umrannte, als er rauskam. Ich ging danach zum Berliner Ensemble, wo ich zuletzt 1965 gewesen war, und traf da im Kellerlokal auf Jens Reich und Bärbel Bohley und auf allerlei rauchende Grüppchen. So hörte ich auch, wie einige Männer über Kampfgruppen sprachen. Eine Frau neben mir meinte darauf, dann lass uns doch zur Stasizentrale gehen. Das war was für mich. Wir mussten lange warten, bis die Tür zu diesem unheimlichen Machtbereich aufging. Den Händedruck des Stasibeamten im dunklen langen Ledermantel werde ich nicht vergessen. Er machte mir Angst, auch die langen Gänge und die Menschenleere und die Erinnerung an Verhörzellen. Wir landeten in einem Büro im Stile der 50er-Jahre mit Ledersofa und dunklen langen Gardinen. Als geübte frühere Hausbesetzerin schaute ich gleich hinter die Gardine und fand das schwarze Telefon. Da ging eine Nebentür auf, und ich blickte in einen Geheimraum, der voller Abhör- und Sendegeräte war. In der Tür stand der Rechtsanwalt und IM Wolfgang Schnur, der bleich und stumm wurde, als er mich sah. Bei den Mahnwachen in der Gethsemanekirche im Dezember 1987 hatte er mich noch daran hindern können, eine Rede zur Opposition zwischen all den Kerzen zu halten. Jetzt war ich in der Stasizentrale und zwar als grüne Europaabgeordnete, und nur er wusste das.

Meine Akte bekam ich später nur mit ein paar popeligen Seiten zu Gesicht: Ein IM hatte in der Nähe meiner WG eine Wohnung bezogen, um meine Arbeit im Koordinierungsausschuss der Friedensbewegung und bei den Grünen zu beschatten.

Ich organisierte am 6.2.90 nach dem Besuch des runden Tisches mit Gerd Poppe und Sebastian Pflugbeil und dem Filmemacher Siggi Schefke, mit Klaus Traube, Michael Sailer und der Grünen Liga eine Inspektion des AKW Greifswald/Lubmin, ein Tschernobyl-Typ. Das kam in die Tagesthemen, und so konnte Klaus Toepfer den riesigen AKW-Komplex später schließen. Das war ein Erfolg der Kooperation der Antiatomszenen West- und Ostberlins und der Bürgerinitiativen, die lange in Greifswald und Rostock Widerstand geleistet hatten. Die Touristen auf Rügen und Usedom und „Meck-Pomm“ sollten sich heute an diese Kämpfe und die Vorkämpferinnen erinnern.

Zum Schluss

Ich bin dankbar, dass ich diese Umbrüche 1989 so erleben und meinen Beitrag leisten konnte – und dies gegen allerlei Widerstände.

Hier noch kurz ein paar Literatur-Hinweise dazu:

  • Frauen für den Frieden, hrsg. von Eva Quistorp;
  • Scheherazade – Stimmen von Frauen gegen die Logik des Krieges, hrsg. von Eva Quistorp;
  • Für eure und für unsere Freiheit, hrsg. von Eva Quistorp;
  • Dokumente der Konferenz für ein atomwaffenfreies Europa von 1983; Dokumente zur ersten KSZE-Konferenz der Frauen, Berlin 1990-91; Entrüstet Euch – Zur Friedensbewegung der 80er Jahre, Autor: Christoph Becker Schaum;
  • Warum ich die Rede von Reagan an der Mauer nicht hörte; Bücher von Irina Kukutz, Ingrid Miethe und Almuth Ise zu „Frauen für den Frieden“ in der DDR; RBB-TV: Schicksalsjahre einer Stadt,1983-89;
  • Berlin, die Stadt des Protestes, Autor: Peter Wensierski;
  • Die Gründungsgeneration der Grünen, acht Interviews, hrsg. von Heinrich-Böll-Stiftung.