Russland: „Der Mann hat wirklich sehr viel für das Land getan”

Interview

Korruption, Vergiftungsvorwürfe, Herrschaft auf Lebenszeit – wie stehen junge Russinnen und Russen zu Wladimir Putin? Ekaterina Venkina spricht mit vier junge Menschen aus Russland.

Protestaktion gegen Verfassungsänderungen: "Putin für immer?" (01.07.2020 Moskau), Fotograf Konstantin Gabov, all rights reserved.
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Protestaktion gegen Verfassungsänderungen: "Putin für immer?"

Ein Wandel oder eben nicht?

Mit ihren rund 206 Änderungen wurde die Verfassungsreform die Größte in der Geschichte des modernen Russlands. Während dort „eine neue Ära für Putin” begann und sein Erzkritiker Alexej Nawalny wegen eines möglichen Vergiftungsanschlags ins Koma fiel, gingen im benachbarten Belarus Massen von Menschen auf die Straße, um ihre Forderungen nach freien Wahlen zu erheben - teilweise begleitet von dem Lied „Peremen” („Veränderung”) des legendären Rockmusikers der Umgestaltungszeit (Perestroika) Viktor Tsoj.

Vier junge Menschen aus Russland sprechen über ihre Einstellung zu Putins „Reset auf Null”-Politik, zum Fall Alexej Nawalny und über ihre Bereitschaft, selbst Veränderungen vorzunehmen.


German Nechaev, 23, studiert Politikwissenschaft am Institut für Asien- und Afrikastudien in Moskau und arbeitet als Redakteur bei der Studentenzeitschrift DOXA.

„Ich habe persönlich mein Stimmrecht ausgeübt und gegen die Änderungen gestimmt. Der Grund: Das Land wird immer autoritärer, und das gefällt mir nicht. Über das Auf-Null-Setzen von Putins Amtszeitenzähler wurde in den Nachrichten kaum berichtet. Überall war jedoch die Rede von steigenden Renten und besserem Tierschutz.

Zunächst hatte die Opposition kein klares Bild. Dann kam diese wichtige Änderung. Sie wurde „Omaklausel“ genannt, weil sie von Walentina Tereschkowa, der 83-jährigen ehemaligen sowjetischen Kosmonautin, vorgeschlagen wurde. Als Abgeordnete der Kreml-Partei schlug sie eine Verfassungsänderung vor, die Putin zwei weitere Amtszeiten ermöglichen würde. Nach diesem Wendepunkt wurde den Menschen der Opposition, klar: Alle anderen Änderungsvorschläge waren unwichtig, dieses ganze Verfahren hatte nur ein Ziel.

Wegen Corona wurde es für die Opposition schwieriger, die Menschen zur Abstimmung zu bewegen, da dies ihre Gesundheit gefährden und auch die Oppositionsführer politische Punkte kosten könnte.

Ich vertraue weder den Behörden noch dem Präsidenten. Die Menschen, die in unserem Land regieren, sind Parteifunktionäre, die in der Sowjetära ausgebildet wurden. Sie wollen eine Situation des verbrannten Feldes schaffen, so dass alle Wahlmöglichkeiten eliminiert würden. Damit die Frage - wenn nicht Putin, dann wer - keine Antwort hätte.

Was den Fall Alexej Nawalny betrifft, ist der Versuch zu beurteilen, wer konkret die Entscheidung getroffen hat, ihn zu vergiften pure Kaffesatzleserei (meiner Meinung nach ist es eben eine Vergiftung) sowie zu verstehen, wovon sich diese Leute leiten ließen und was sie als ihren Vorteil ansahen. Doch ganz gleich, wie diese Geschichte endet (und ich hoffe, dass sie für Alexej gut endet), Nawalny wurde unwillkürlich zu einem Symbol des demokratischen Protests in Russland. Wenn wir davon ausgehen, dass die Aufgabe der Täter darin bestand, den Protest in Russland zu enthaupten und nicht zuzulassen, dass sich das, was in Belarus geschieht, auch in Russland passiert, befürchte ich, dass sich genau das Gegenteil ergibt.

Es ist eine sehr abstrakte Frage, ob Russland in seiner Entwicklung dem Weg Chinas oder Europas folgen sollte. Moskau muss seinen eigenen Interessen Vorrang einräumen.

Während einer Protestaktion am 27. Juli 2019 (in Moskau gegen den Ausschluss von Oppositionskandidaten von der Kommunalwahl) bin ich zur falschen Zeit aus der U-Bahn ausgestiegen und in einem Polizeiauto gelandet. Danach wurde ich vom Gericht zu einer Geldstrafe verurteilt. Ich bin mir bewusst, dass meine persönliche Sicherheit gefährdet sein könnte, wenn die Polizei tatsächlich Grund hat, mein Handeln ernsthafter zu prüfen. Es kann sein, dass ich Russland irgendwann verlassen muss. Auch wenn mir nicht gefällt, was derzeit in dem Land geschieht, hoffe ich aber auf eine bessere Zukunft.“


Kristina Bykova, 28, studierte humanistische Informatik in Tomsk. Sie ist Dozentin an der Rednerschule des nichtlangweiligen Berichts und vermittelt Wissenschaft.[1]

Ich darf in Russland noch nicht abstimmen. Vor sechs Jahren zog ich von Kasachstan nach Tomsk. Mein Mann lebt hier. Jetzt bin ich dabei, die russische Staatsbürgerschaft zu erhalten.

Es ist schwierig, gegenüber den Verfassungsänderungen neutral zu bleiben. Ich lehne sie ab. Viele Experten sagen, dass dies eine der aktivsten Wahlmanipulationen war, die man je gesehen hat, man konnte die Menschen auf dem Hof, auf der Bank abstimmen sehen. Das Verfahren dauerte eine ganze Woche. Niemand hat beobachtet, was nachts in den Wahllokalen geschah.

Ich interessiere mich aktiv für Politik und schließe eine politische Karriere nicht aus. Wenn ich bald die Staatsbürgerschaft erhalte, kann ich schon bei der nächsten Einberufung der regionalen Duma als Abgeordnete kandidieren.

Mein Vertrauen in Präsident Wladimir Putin ist seit langem untergraben worden. In einem früheren Interview sagte er, er werde keine Verfassungsänderungen vornehmen. Ich mag es nicht, wenn Politiker ihre Meinung ändern.

Die Situation mit der Vergiftung von Alexej Nawalny ist monströs, aber auch bezeichnend. Jeder versteht, was da passiert ist, aber wir können nichts dagegen tun. Ich finde, wir brauchen einen Machtwechsel.

Die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen sind heute recht angespannt: Dies ist Teil der staatlichen Propaganda. Ich wünsche mir, dass sie freundschaftlicher werden.

Tomsk mag ich sehr gern. Diese Stadt hat einen ruhigeren Lebensrhythmus, weniger Menschen. Ich werde mich hier weiterhin dafür einsetzen, wissenschaftliches Denken populärer zu machen, damit die Menschen weniger anfällig für Verschwörungstheorien sind. Ich will Vorträge halten, Festivals organisieren und für die Rechte der Frauen kämpfen. Meine Zukunft verbinde ich ausschließlich mit Russland. Ich will nirgendwo anders hingehen.

Verfassungsänderungen

206 Passagen in der russischen Verfassung wurden geändert. Neu festgeschrieben wurden unter anderem das Verbot russisches Territorium abzutrennen und die Definition einer Familie ausschließlich als Bund von Mann und Frau. Der Glaube des russischen Volkes an Gott wurde in der Verfassung erwähnt. In Artikel 79 wurde außerdem festgeschrieben, dass Entscheidungen zwischenstaatlicher Gremien, die in ihrer Auslegung entgegen der Verfassung der Russischen Föderation getroffen wurden, nicht vollstreckbar sind. Gemäß den Änderungen kann eine Person nicht länger als zwei Amtszeiten als Staatsoberhaupt dienen. Der wichtigste Aspekt ist aber, dass die Staatsduma die Anzahl der Amtszeiten des aktuellen Präsidenten bei Inkrafttreten der Änderungen nicht berücksichtigt hat. Das heißt, dass Wladimir Putin 2024 erneut das höchste Staatsamt beanspruchen und – zwei Wahlsiege vorausgesetzt – bis 2036 weiterregieren kann.



Jewgenija, 22, studierte Internationale Wirtschaft am Moskauer Staatlichen Institut für Internationale Beziehungen und arbeitet derzeit bei Bayer als Multichannel-Managerin. Sie kommt aus Lipezk.

„Es herrschte ein politisches Bacchanal, und ich konnte nichts dagegen tun. Die Stimmung um mich herum war: Alles ist bereits entschieden. Aber ich wollte immer noch meiner Bürgerpflicht nachkommen. Ich unterstütze diese Änderungen nicht, also bin ich zur Abstimmung gegangen.

In Russland werden alle wirtschaftlichen Prozesse stark von der Politik beeinflusst. Aus diesem Grund musste ich in letzter Zeit alle politischen Tendenzen sehr genau beobachten, obwohl ich das vorher eigentlich nicht getan habe.

Ich wurde 1998 geboren, als Wladimir Putin seine Karriere in der Politik begann. Seine ersten beiden Amtszeiten waren recht gut. Der Mann hat wirklich sehr viel für das Land getan. Die Staatsschulden wurden zurückgezahlt. Aber seit der offiziellen Rochade, nachdem Dmitri Medwedew und Putin die Ämter getauscht haben und er wieder Präsident sein durfte, dreht sich alles wie im Kreis.

Was die Verfassung betrifft, so dachte ich, dass Putin bei einer so umfassenden Reform vorsichtiger agieren würde. Aber jetzt ist sie entschieden und lässt uns alle wie Idioten dastehen. Weitere 16 Jahre Putin fühlen sich an wie eine lebenslange Freiheitsstrafe auf Bewährung. Das macht mich hauptsächlich hoffnungslos.  

Die Situation mit der Vergiftung Nawalnys würde ich nicht eindeutig beurteilen. Einerseits kann eine Vergiftung für regierungsnahe Kräfte nicht gewinnbringend sein, weil sie offensichtlich zu neuen Sanktionen führen und das Ansehen Russlands auf der Weltbühne verschlechtern wird. Andererseits werden am 13. September in Russland an vielen Orten Regionalwahlen abgehalten, und das Team von Nawalny hat hart gearbeitet, um in diesen Regionen die Mehrheit zu erlangen.

Eine Partnerschaft mit dem Westen halte ich für unmöglich, solange die Krim-Frage nicht gelöst ist. Russland wird nicht kapitulieren und wird warten müssen, bis dies akzeptiert wird.

Ich sehe für mich nur ein Szenario – ich muss wirtschaftlich unabhängig werden, wie der Milliardär Sergei Galizki. Er hat es geschafft und dann begonnen, viel Geld in seiner Heimatstadt zu investieren. Auch ich möchte Lipezk helfen. Ich betrachte die Welt immer noch durch die rosarote Brille, bin naiv, aber ich glaube, es ist möglich. Ich habe ein Videoprojekt über neue russische Unternehmer gesehen, die ehrlich leben. Sie zahlen alle Steuern, machen alles transparent. Im Idealfall würde ich mich auf das Restaurantgeschäft konzentrieren.“


Viktor, 28, studierte Elektroenergietechnik an der Uraler Staatlichen Technischen Universität in Jekaterinburg und arbeitet derzeit als Ingenieur mit Hightech-Ausrüstung.

„Ich bin nicht zur Abstimmung gegangen, weil ich das Format nicht besonders interessant fand. Die meisten dieser Änderungen waren bereits durch Bundesgesetze abgedeckt. Es bestand keine besondere Notwendigkeit, sie in die Verfassung aufzunehmen. Es wurde vorgeschlagen, in einem Paket abzustimmen, als ob dies ein Tagesmenü wäre. Und was, wenn ich einen Salat möchte, aber keine Suppe brauche? Diese Option war nicht vorgesehen.

Eine Abstimmung soll klassisch sein, eintägig und unter Aufsicht der Bezirkswahlkommissionen, der Beobachter und der Presse. Wenn man in den Kofferräumen und auf den Baumstümpfen abstimmt, kann ich nicht sicher sein, dass meine Stimme nicht versehentlich irgendwo verloren geht.

Wegen der Pandemie waren viele in unserer Stadt über lange Zeiträume arbeitslos. Die Einkaufszentren wurden geschlossen. Es wurde keine wesentliche Unterstützung geleistet. Wenn die Menschen nichts zu essen haben, kann auch die politische Agenda keine wirkliche Akzeptanz finden.

Obwohl ich mit dem Abstimmungsprozess unzufrieden bin, ist es schwierig, dem Präsidenten nicht zu vertrauen. Er wurde rechtmäßig gewählt und ist bei den Menschen viel beliebter als die Parteien und Parlamentsmitglieder. Putin ist ein berühmter Mann. Aber seine Arbeit könnte in einigen Aspekten effektiver sein – vor allem in der Wirtschaft.

Der Fall Nawalny hat uns aufgewühlt. Überall hört man widersprüchliche Aussagen und Hypothesen. Bis zum Abschluss der Untersuchung will ich das nicht bewerten. Ich hoffe natürlich auf die Kompetenz der deutschen Ärzte für Nawalnys Rehabilitation.

Der Westen war immer ein Partner für Russland. Vor allem zu Deutschland haben wir enge Beziehungen, angefangen mit Siemens im späten 19. Jahrhundert. Jetzt ist es aber für die Wirtschaft durch die Sanktionen etwas schwieriger geworden.

Die neue Generation wird sicher neue Anforderungen stellen. Aber Russland ist ein Land mit ‚einer unberechenbaren Vergangenheit’ umso mehr mit einer unberechenbaren Zukunft.“

Dieser Artikel wurde zuerst am 11 September 2020 auf fluter.de online veröffentlicht.