Das Neue Atomkraftwerk in Belarus und die Erinnerung an Tschernobyl

In den 29 Jahren seit der Unabhängigkeit des Landes wurde in Belarus keine Atomenergie genutzt. Erst am 7. November 2020, genau zum Jahrestag der Oktoberrevolution, wurde feierlich das erste Atomkraftwerk in Ostrovets nahe der litauischen Grenze eingeweiht.

Rosatom Ortsschild mit Reaktoren
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Atomkraftwerk in Ostrovets, Belarus

Radioaktivität – ein Randthema

Es ist Abend. Auf den Straßen der Stadt liegt Schnee, aber in manchen Fenstern schimmern die Lichter. Autos kommen fast nicht vor. Diese Stadt heißt Tschernobyl und befindet sich in der Sperrzone um den damaligen Katastrophenreaktor.

Sie wurde eingerichtet nachdem die sowjetische Führung einen Versuch in dem ukrainischen Atomkraftwerk durchführen ließ und der Reaktor dabei explodierte. Der Wind beförderte einen Großteil der radioaktiven Partikel der Explosion in Richtung Belarus. 35% davon gingen auf knapp einem Viertel des Territoriums von Belarus nieder. Später erklärten die Behörden diese Gebiete auf Basis angeblich strenger Messungen und Kontrollen wieder für sicher – was von Kritikern bezweifelt wird.

Ein Teil der Menschen wurde aus den gefährlichen Orten umgesiedelt, aber auf den geschädigten Territorien leben weiterhin über eine Millionen Menschen, wie das Katastrophenschutzministerium im Jahr 2020 nochmal bestätigte.

Dabei steht „Tschernobyl“ heute eher „am Rande des öffentlichen und wissenschaftlichen Interesses“, wie Ales Smaljantschuk, wissenschaftlicher Leiter des „Belarusischen Archivs mündlich überlieferter Geschichte“ in Minsk auf einer Tagung zu einem früheren Jahrestag der Katastrophe ausführte.

Selbst die Opfer haben die Katastrophe bis heute nicht richtig aufgearbeitet, vom Rest der Bevölkerung ganz zu schweigen – so schätzen es belarusische Historiker/innen ein.

Die Folgen der Katastrophe beeinflussen bis heute die Lebenswirklichkeit der Leute, aber „im sozialen und humanitären Gedächtnis herrscht wenig Verständnis dafür“, sagt die Soziologin und Koordinatorin der „Fliegenden Universität“ Tatjana Wodolaschskaja. Ein Versuch dies zu ändern stellen die jährlichen „Tschernobyler Märsche“ in Minsk dar, die aber von Jahr zu Jahr eher immer kleiner geworden sind.

Von Mythen umgeben sind zwei Schutzgebiete in der Katastrophenregion auf dem Territorium der Ukraine und von Belarus.

„Die Sperrzone, das ist ein mythologisierter Raum. Ein vergessenes und radioaktiv verseuchtes Territorium, ein Gebiet des unsichtbaren Todes“, schreibt im Internet Denis Wischnewski, Leiter der Abteilung Ökologie im Tschernobyler radio-ökologischen Schutzgebiet in der Ukraine. „Es ist eine Welt ohne Menschen“.

In dieser wilden Natur leben sowohl die üblichen als auch seltene Tiere wie Wölfe, Luchse, Bisons, Bären oder Przewalski-Pferde. „Der Zustand der Natur ist dort besser als in anderen Schutzgebieten“, sagt der Wissenschaftler des Instituts für experimentelle Botanik der belarusischen Akademie der Wissenschaften Arkadiy Skuratowitsch.

Hier fließt ein Fluss, den Menschen vor Ort wegen seiner Natürlichkeit auch „Amazonas“ nennen, der Fluss Pripjat, der in der Sperrzone um das ehemalige AKW mäandriert.

Vor sechs Jahren haben Organisationen in der Ukraine versucht, mehr über die Einzigartigkeit der Natur zu berichten, erklärt Denis Wischnewski. „Aber die Leute interessieren sich nur für die Mutanten“.

Wie teuer ist das neue Atomkraftwerk?

Für die Folgekosten der Havarie von Tschernobyl zahlt Belarus bis heute. Insgesamt geht man allein für den Zeitraum 1986 bis 2016 von Kosten in Höhe von 22-30 Milliarden US-Dollar aus. Der gesamte Schaden der Katastrophe wird mit 235 Milliarden US-Dollar beziffert, wie das Wirtschaftsinstitut der belarusischen Akademie der Wissenschaften zum 30. Jahrestag ermittelt hatte.

Vielleicht sind diese sehr hohen Zahlen der Grund, warum der belarusischen Führung der Umfang des russischen Kredits zum Bau der zwei neuen Reaktorblöcke in Höhe von 10 Milliarden US-Dollar nicht als ein so hoher Betrag erschien, als 2011 der Auftrag an die russischen Hersteller erteilt wurde.

Für die Entscheidung gab es eine Reihe von (Hinter-)Gründen. Belarus nutzte auch zu dieser Zeit bereits russische Kredite um die wirtschaftliche Entwicklung zu stimulieren. Laut einer Untersuchung der Zeitschrift „Bankanzeiger“ der Nationalbank übertraf das Schuldenwachstum zwischen 1998 und 2009 das inländische Wirtschaftswachstum. Im Juli 2009 betrug die Schuldenquote 31,5% des Bruttoinlandsproduktes, und mit über 50% Anteil war Russland der größte Gläubiger, gefolgt vom Internationalen Währungsfonds mit 24,4%.

„Für Belarus, das sich in einer Rezessionsphase befand, ermöglichten langfristige Schuldtitel, mehr Ressourcen für die heimische Wirtschaftsentwicklung zu sichern“, erklärt Irina Schuk, eine der Autorinnen der Untersuchung und Dozentin am Lehrstuhl für Weltwirtschaft der Belarusischen Wirtschaftsuniversität (BGEU).

Andere Gründe lassen sich nennen. „Niemand anderes als die Russische Föderation konnte faktisch vollständig ein solches Bauprojekt vorfinanzieren,“ sagt Tatjana Manjonok, Energie- und Chemieindustrieexpertin. „Es ist leicht nachvollziehbar: wenn eine Firma aus einem anderen Land den Zuschlag für den Bau bekommen hätte, so wären Probleme mit der Belieferung mit anderen Energieträgern wie Öl und Gas möglich gewesen, Beispiele dafür gab es bereits. Mit Russland streiten – das wäre ein ernsthaftes Problem.“

Der Kredit sollte 90% der Baukosten abdecken. Der erste von zwei Reaktorblöcken ging im November ans Netz. Aber wieviel das Projekt insgesamt gekostet hat, bleibt unbekannt. Es sei ein „kommerzielles Geheimnis“, wie Präsident Lukaschenko selbst erklärte.

Allerdings gibt es Daten des russischen Finanzministeriums. Am 1. September 2020, also noch zwei Monate vor der Inbetriebnahme, war mit 4,5 Milliarden US-Dollar in etwa die Hälfte der Kreditsumme abgerufen. Insgesamt sei die Verausgabung von 6 Milliarden US-Dollar bislang vorgesehen, wie aus einem Haushaltsvermerk zum Kredit hervorgeht. Weitere Kosten sind hier jedoch noch nicht berücksichtigt.

Das Kreditvolumen ist nach Einschätzung von Expert/innen außergewöhnlich groß für belarusische Verhältnisse. Der Direktor des russischen Instituts für Energiewirtschaft Bulat Nigmatulin, auch früherer Vizeminister für Atomenergie in Russland kommentiert:

„Wenn bei 3,3% Zinsen über 25 Jahre dann 13-14 Milliarden US-Dollar zurückgezahlt werden müssen, so sind es mindestens 500 Millionen pro Jahr, was eine exorbitante Belastung für die belarusische Volkswirtschaft darstellt. Schon für andere Kredittilgungen müssen jährlich 1,5 Milliarden bereitgestellt werden, und nun kommt noch eine halbe Milliarde drauf – eine schwere Last, die das eher arme Land zu einem ökonomischen Protektorat Russlands zu verwandeln droht.“

Belarus sollte eigentlich schon im April 2021 mit der Tilgung beginnen, die Fristen konnten jedoch kürzlich um zwei Jahre verschoben werden.

Wie nützlich ist dem Land der Atomstrom?

Inwiefern der Atomstrom für Belarus nützlich sein wird, das lässt sich laut Tatjana Manjonok vorerst noch nicht beurteilen.

„Zunächst gingen die Befürworter des neuen Atomkraftwerks von zwei Annahmen aus: Das AKW sollte dabei helfen, die Energieabhängigkeit von der Russischen Föderation zu verringern, zudem sollten Energieexporte erhöht werden.“

Wird das gelingen? Was die Energieabhängigkeit betrifft, ist das im Moment noch unbekannt. Die zwei Reaktorblöcke sollten ungefähr 4,5 Milliarden Kubikmeter Erdgas ersetzen können. Belarus verbraucht insgesamt ungefähr 20 Milliarden. Hierfür müssen wir nun erstmal ein Jahr abwarten, es wird sich zeigen.

Die zweite Frage, die nach den Exporten des Atomstroms, ist problematischer.

„Die baltischen Länder versuchen hohe Hürden für den Stromexport aus Belarus in die EU aufzubauen“, erläutert Tatjana. Sie erinnert auch an die kürzliche Resolution des Europaparlaments, die am 11. Februar 2021 das belarusische AKW als Risiko für die EU bewertete, weil es nicht den üblichen Sicherheitsstandards entspricht.

Wiederholt gibt es Meldungen über den Verkauf von Strom nach Litauen oder in die Ukraine, aber das löst das Exportproblem nicht grundsätzlich.

„Es besteht die Hoffnung auf den gemeinsamen Energiemarkt in der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft ab dem Jahr 2025. Theoretisch kann Belarus dann auch auf dem russischen Markt verkaufen, aber das würde dann eine Reform des Energiesystems bedeuten, die der heutigen Führung kaum gefallen kann“, sagt Tatjana. „Das ist ein geschlossener Kreis, und wie sollte hier der Ausweg sein? Ich denke nicht, dass die Führung das selbst schon weiß, obwohl sie öffentlich erklärt, das AKW produziere v.a. für das eigene Land.“

Mit dem Anschluss beider Reaktorblöcke entsteht ein Stromüberschuss im Land. Belarus verbraucht ungefähr 36-37 Milliarden Kilowattstunden (kW/h) pro Jahr, und die beiden Blöcke produzieren allein 42% dieser Menge.

Man versucht den Stromeinsatz zu erhöhen: eine Reihe von Plänen zur Erhöhung des Verbrauchs sind verabschiedet, Vergünstigungen für elektrisch beheizte Gebäude, Elektromobilität und anderes. Dafür werden aber nur ungefähr 400 Millionen kW/h benötigt, wie Tatjana Manjonok erklärt.

Ein anderes Beispiel ist das Wachstum des industriellen Verbrauchs, der bis 2025 2,7 Milliarden kW/h betragen soll. Aber auch das ist wenig, wenn die Blöcke doch 18,5 Milliarden kW/h erzeugen.

„Und diese Vorhaben können auch scheitern, wenn man die heutigen Risiken betrachtet“ ergänzt Tatjana.

Die Rede ist von der politischen und ökonomischen Situation im Land. Es betrifft nicht nur das Coronavirus und seine negativen Einflüsse auf die Wirtschaft, sondern auch westliche Sanktionen und die andauernde politische Krise im Land seit der Wahl im August 2020.

Die Energieversorger werden die Stromerzeugung aus inländischen Quellen ausbalancieren müssen. „Zwar erklärt die Regierung, dass die Erzeugungskapazitäten der großen Gaskraftwerke nicht angetastet werden, aber am Ende wird ihnen nichts anderes übrig bleiben“, schätzt Tatjana ein.

Die Veränderungen betreffen auch die erneuerbaren Energien, deren Entwicklung in den letzten Jahren teilweise unterstützt wurde. Die Atomenergie soll nun Vorrang im Stromnetz erhalten, und die Erneuerbaren sollen hinter ihr zurückstehen.

Was denken die Menschen über das AKW und die Radioaktivität?

Früher haben die Beamten zur Frage des Atomkraftwerks immer zunächst dargelegt, dass es zur Verringerung der Strompreise für Wirtschaft und Haushalte führen werde.

„Uns Menschen haben sie immer gesagt: Seien Sie mit dem AKW einverstanden, es wird ein Segen für Sie sein, wir werden den Strom billiger verkaufen können. Aber darüber spricht heute niemand mehr. Gerade zum Jahreswechsel sind die Preise wieder angehoben worden. Und die Preise werden weiter steigen“, sagt Nikolaj Ulasewitsch, ein Anwohner und Atomkraftgegner.

Das bestätigt Pavel Gorbunow, Experte vom Zentrum für Ökologische Lösungen und Koautor der Studie „Energie (R)Evolution für Belarus“ aus dem Jahr 2018 der Organisation „Ekodom“. Die Stromerzeugung in den Gaskraftwerken kostete im Zeitraum 2018 – 2020 4,01 Cent pro kW/h. Die Erzeugungskosten der AKW-Blöcke werden dagegen bei 9,9 – 13,2 Cent pro KW/h liegen – somit wären eher Strompreiserhöhungen zu erwarten.

Nun ist das AKW aber schon fertig und im Mai soll der Regelbetrieb starten. Nikolai Ulasewitsch wollte sich die Versprechungen der Behörden zunutze machen:

„Einige Leute wollten auf eine Stromheizung umsteigen, so auch ich, Die zuständige Stelle sagte uns, dass die vorhandene Leistung aber nicht für alle Interessierten ausreicht. Obwohl ich also einer der ersten war, hat es für mich schon nicht mehr gereicht. Und später haben sie sich überhaupt bei niemandem mehr gemeldet.“

Wenn die Befürworter des AKW über den ökonomischen Nutzen sprechen, so sprechen die Kritiker über die Sicherheitsrisiken. Die wichtigsten Kritikpunkte sind der ungeeignete Standort sowie die unzureichende Öffentlichkeitsbeteiligung auch in Bezug auf die Nachbarländer, in Verletzung der Aarhus-Konvention über den Zugang zu Umweltinformationen.

Der Reaktorbehälter wurde beim Antransport zweimal beschädigt. Wenn auf der Baustelle Arbeiter starben oder es andere Vorfälle gab, so wurde dies häufig nur mit Verzögerung bekannt gemacht. Außerdem hat der Bau zu Konflikten mit dem Nachbarn Litauen geführt, etwa wegen unzureichender Berücksichtigung der Resultate der Stress-Tests der Europäischen Gruppe der nationalen Atomaufsichtsbehörden (ENSREG).

Zuletzt, schon im Probebetrieb des Reaktors, kam es zu einigen technischen Pannen wie defekten Transformatoren, die in Brand geraten waren. „Als die vier Störfälle geschahen, aber daraus keine Konsequenzen gezogen wurden, gab es lokal sehr wohl eine Diskussion über die Sicherheit. Aber trotzdem haben die Leute das Gefühl, dass sie dabei nichts bewirken können. Das ist das entscheidende Problem der Menschen.“ Erklärt dazu der lokale Aktivist Nikolaj Ulasewitsch.

Die Staatsmedien diagnostizieren den Kritikern mitunter eine krankhafte Radiophobie, infolge der Erlebnisse nach der Tschernobyler Katastrophe. Die Diaspora im Ausland nennet es anders. Im Dezember 2020 haben sie fast 1000 Unterschriften gegen das AKW gesammelt und es als gefährliche Art der Befriedigung politischer Ambitionen des Präsidenten Alexander Lukaschenko gebrandmarkt.

Ein Teil der Zivilgesellschaft positionierte sich bereits 2009 gegen das AKW-Projekt, darunter die Organisation „Ekodom“ und die belarusische Grüne Partei, die die „Antiatomkampagne“ ins Leben riefen.

„Wir treten für eine Entwicklung ohne Atomkraft ein, denn wir halten die Atomenergie und die Produktion von Atomwaffen für eine inakzeptable Gefahr für die Menschheit“ – so ist es auf der Webseite formuliert.

Auf Initiative der Kampagne und anderer Partner wurden Runde Tische organisiert, zivilgesellschaftliche Expertisen zum AKW-Projekt und zu den Ergebnissen der Stresstests erarbeitet, und die jährlichen „Tschernobyler Märsche“ mitgestaltet.

„Es gibt verschiedene Meinungen zum AKW. Vor einiger Zeit waren einige Oppositionsparteien zwar gegen ein russisches AKW, hielten die Nutzung der Atomkraft im Grundsatz für Belarus aber richtig. Es ist uns gelungen, die Gefährlichkeit und Unzweckmäßigkeit dieses AKW-Projekts für unser Land aufzuzeigen – sie wollten dann mit der Losung ‚Erst Reformen – dann AKW‘ an der Demonstration teilnehmen.“ sagt Irina Sukhi, Vorsitzende der Organisation „Ekodom“.

„Das Hauptproblem bleibt aber, dass das AKW sowohl ökonomisch keinen Sinn macht als auch eine Gefahr für die Umwelt darstellt.“ Das unterstreicht Tatjana Novikova, die Koordinatorin der belarusischen Antiatomkampagne. „Das Land braucht das AKW nicht – es nützt nur einem Menschen und Russland“.

 

Übersetzung aus dem russischen Original von Robert Sperfeld.