Präsidentschaftswahl in Costa Rica: Der Sieg des Alphamanns

Wahlanalyse

Mit 53 Prozent der Stimmen hat Außenseiter Rodrigo Chaves die Stichwahl um die Präsidentschaft gewonnen – trotz Korruptionsvorwürfen, sexuellen Übergriffen und fehlenden Lösungsansätzen. Am 8. Mai übernimmt Chaves die Amtsgeschäfte.

Die Wahlen in Costa Rica waren geheim.
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Die Wahlen in Costa Rica waren geheim.

Die Bürger/innen Costa Ricas haben sich für einen Kandidaten entschieden, der – ähnlich wie Trump in den USA oder Bukele in El Salvador – versprochen hat, das von der Wirtschaftskrise gebeutelte Land wieder groß zu machen. Konkrete Pläne, wie dieser Wiederaufschwung stattfinden soll, hat Chaves nicht vorgelegt, auch fehlen ihm die für Reformen notwendigen Mehrheiten im Kongress. Gleichzeitig hat sich der neue Präsident bereits vor Amtsantritt zahlreiche Feind/innen gemacht und zur politischen Polarisierung beigetragen. Die costaricanische Demokratie steht vor einer Belastungsprobe.

Nach einem von Unsicherheit geprägten Ausgang des konfliktträchtigen Wahlkampfs fand in Costa Rica am Sonntag, 3. April, die Stichwahl um die Präsidentschaft statt. Dabei traten zwei in der Kritik stehende Kandidaten gegeneinander an, so dass die Wahl als Sackgasse wahrgenommen wurde. Aufrufe, das kleinere Übel zu wählen, ungültig zu stimmen, leere Wahlzettel abzugeben oder sich zu enthalten beherrschten den öffentlichen Diskurs vor dem Urnengang.

Der als Outsider geltende Kandidat Rodrigo Chaves von der Partei Sozialdemokratischer Fortschritt (PPSD) ging mit knapp 53 Prozent der Stimmen und mehrheitlicher Unterstützung der an den Küsten des Landes lebenden Menschen sowie der ärmsten Bevölkerungsgruppen als Sieger aus der Stichwahl hervor. 47 Prozent entfielen auf seinen Gegenkandidaten und Ex-Präsidenten, José María Figueres von der Partei der Nationalen Befreiung (PLN), der als Repräsentant des Status Quo gilt. Chaves hingegen kommt nicht aus einer Politikerfamilie wie Figueres, hat aber durchaus Erfahrungen in Politik und Wirtschaft, obwohl er sich zum Außenseiter stilisiert.

Costa Ricas Demokratie in der Krise

Die Wahl weist auf die Schattenseiten der costa-ricanischen Demokratie hin, die zwar nach wie vor über starke demokratische Institutionen verfügt, aber derzeit eine politische und ökonomische Krise durchläuft. Zwar verliefen die Wahlen nach Angaben von OAS-Beobachterinnen und Beobachtern friedlich, fair und frei, aber immerhin vier von zehn Costaricaner/innen gingen diesmal nicht zur Wahl. Drei Viertel sind nach wie vor der Ansicht, dass die Demokratie die beste aller Regierungsformen sei, aber nur ein Viertel ist mit dem Funktionieren der Demokratie zufrieden.

Drei Frauen suchen nach ihrer Registrierungsnummer bei den Wahlen in Costa Rica.
Drei Frauen suchen nach ihrer Registrierungsnummer bei den Wahlen in Costa Rica.

Die Wahl des konservativen Ökonomen Rodrigo Chaves, der sich trotz seiner langen Karriere in Wirtschaft und Politik zum Underdog stilisierte, erklärt sich einerseits aus der Erschöpfung und Fragmentierung des bisher von zwei Parteien dominierten Parteiensystems. Nach einer Umfrage der Universität von Costa Rica gaben vor der Wahl gut 58 Prozent der Bevölkerung an, dass die Persönlichkeit des Kandidaten und nicht die Parteizugehörigkeit entscheidend für die Wahlentscheidung seien. Ein klares Zeichen für die mangelnde Repräsentativität der gegenwärtigen Parteien.

Chaves profitierte von der Krise der Nationalen Befreiungspartei, der Partei seines politischen Gegners Figueres, und konnte sich mit Anti-System-Slogans und dem Versprechen a la Trump, Costa Rica wieder wohlhabend zu machen, bei den Wähler/innen durchsetzen – trotz gegen ihn vorliegender Vorwürfe und Sanktionen der Weltbank wegen sexueller Übergriffe, bei der er zuvor 27 Jahre tätig war. Zum anderen wurde Chaves als der bessere Kandidat angesehen, um die Wirtschaftskrise und wachsende Staatsverschuldung anzugehen. Die Wirtschaft des stark vom Tourismus abhängigen Landes hat in der Pandemie stark gelitten, das BIP zeigte den stärksten Einbruch seit 40 Jahren. Ob Chaves die hohen Erwartungen erfüllen kann ist mehr als unklar, seine Partei verfügt gerade einmal über 10 der 56 Sitze des Parlaments.

Überraschendes Ergebnis schon im ersten Wahlgang

Der erste Wahlgang am 6. Februar fand in einem wahlpolitisch untypischen Umfeld statt: Zum einen hatten noch nie zuvor so viele Parteien Kandidaturen für die Präsidentschaft und die gesetzgebende Versammlung eingereicht, und zum anderen waren noch nie so viele Menschen unentschieden – wenige Tage vor der Wahl immerhin 30 Prozent der Wahlberechtigten. Sicher waren sich viele Analyst/innen lediglich in der Einschätzung, dass keine der Kandidaturen auf ausreichend soliden Füßen stand, um schon im ersten Wahlgang einen Sieg einzufahren.

Bereits aus dem ersten Wahlgang ging Rodrigo Chaves überraschend gestärkt hervor: Mit knapp 17 Prozent übertraf er sämtliche Prognosen. Diese hatten eine Stichwahl zwischen José María Figueres und Fabricio Alvarado von der Partei Neue Republik (PNR) bzw. Lineth Saborio von der Sozialchristlichen Einheitspartei (PUSC) prophezeit. Fabricio Alvarado erhielt knapp 15 und Lineth Saborio 12 Prozent. José María Figueres belegte mit 26 Prozent erwartungsgemäß den ersten Platz. Die gegen ihn im Raum stehenden Vorwürfe der Bestechlichkeit spielten für viele Wähler/innen offenbar keine große Rolle. Aber auch Chaves schadeten Vorwürfe zu sexuellen Übergriffe gegen Frauen von der Weltbank und zu unklaren Strukturen seiner Wahlkampffinanzierung weder im ersten noch im zweiten Wahlgang. 

Flammende Reden und falsche Versprechungen

Chaves konnte die Bevölkerung mit seinem flammenden Diskurs in Begeisterung versetzen und Hoffnung schüren, dass mit ihm die lange verschleppten strukturellen Probleme des Landes gelöst werden. In offenbar tiefer Unkenntnis der institutionellen Staatsgrundlagen hat er dabei Versprechen gemacht, die nach der bestehenden Rechtsordnung gar nicht zulässig sind, so beispielsweise Volksabstimmungen abzuhalten. Bei etlichen seiner anvisierten Themen ist eine Volksbefragung gesetzlich untersagt. Hierzu gehören unter anderem die Gerichtsbarkeit oder die Befugnisse der Verfassungsrichter, Renten, Haushaltsthemen und Menschenrechte. All diese Fragen würden eine Verfassungsreform erfordern, die jedoch kaum als mögliches Szenario in Frage kommt, da Chaves‘ Partei über keine Mehrheit im Parlament verfügt und folglich zu Verhandlungen mit der Opposition gezwungen ist. Nicht zufällig hat Chaves unmittelbar nachdem er zum Wahlsieger erklärt worden war, eine Annäherung an die Nationalliberale Partei (PLN) gesucht. Gleichzeitig beansprucht Chaves eine zentrale Führungsrolle – und greift dabei auch die kritische Presse an, die er als „Diffamierungs-“ oder auch als „Schand-Medien“ bezeichnet. Die Tatsache, dass Chaves noch immer kein Regierungskabinett präsentieren konnte und derzeit Bewerbungen für über 1.000 Beamtenposten persönlich entgegennimmt zeigt auch die organisatorischen Mängel in seiner eigenen, erst vor knapp vier Jahren gegründeten Partei.

Keine klimapolitischen Vorschläge, aber Kampfansage gegen „Genderideologie“

2019 legte Costa Rica einen „Entkarbonisierungsplan“ auf, mit dem sich das Land auf Grundlage des Pariser Klimaabkommens bis 2050 zu einer kohlenstoffarmen Netto-Null-Wirtschaft verpflichtete. Dieser Plan muss nun auch die neuen Grundpfeiler berücksichtigen, die durch die kürzlich im Rahmen der UN-Klimakonferenz (COP26) beschlossenen Maßnahmen hinzugekommen sind. Chaves hat dazu bisher noch keinen konkreten Vorschlag gemacht. Er nimmt auch keine Stellung zum im derzeitigen Entkarbonisierungsplan anvisierten Stopp von Emissionen aus dem Verkehrssektor und dem Ziel ein Stadtbahnnetz im Großraum San José aufzubauen. An einer Erdölexploration zeigte er bisher wenig Interesse, einen klaren Standpunkt zu neoextraktivistischen Modellen nimmt er jedoch nicht ein. Gegenüber der Situation von Frauen zeigt sich Chaves ohne Empathie. Die sexuellen Übergriffe, wegen derer er von der Weltbank abgestraft wurde, bezeichnet er als falsch verstandenen „Humor“ und stellt sogar den Straftatbestand als solchen in Frage. In einem kürzlich veröffentlichten Auszug aus seinen Scheidungsdokumenten bezeichnete er Frauen als „langhaarige, aber geistig minderbemittelte Wesen“. Dass Chaves die Unterzeichnung einer vom Nationalen Fraueninstitut (INAMU) eingebrachten Verpflichtungserklärung zur Verteidigung der Frauenrechte mit dem Argument verweigert hat, darin werde ein Anreiz für Abtreibung und Aufweichung der Geschlechter geschaffen, zeigt, dass er allem Anschein nach keine Vorstellung des ungeheuren Ausmaßes geschlechtsspezifischer Gewalt im Land hat. Nach Daten des Observatoriums für geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen und den Zugang zu Recht und Justiz wurde 2020 die Zahl der Femizide auf 28 beziffert, und es wurden 341.382 Schutzanträge gestellt – durchschnittlich 186 pro Tag. In Chaves Regierungsprogramm findet dies mit keinem Wort Erwähnung. Nur kurz wird darin angeregt, die Beteiligung von Frauen am Arbeitsleben zu fördern.

Auch in Bezug auf die Forderungen der LGBTI+-Bevölkerung ergibt sich kein anderes Bild: Auf Stimmenfang in der christlich-konservativen Wählerschaft verwendete er den Ausdruck „Genderideologie“ als Zeichen seiner Ablehnung gegen die Inhalte des vom costa-ricanischen Bildungsministerium konzipierten „Forschungsprogramms zu ganzheitlicher Erfahrung und Sexualität“. Nach jahrzehntelangen Debatten und Widerständen aus konservativen und religiösen Kreisen wurde dieses Programm 2017 verabschiedet. Zu den Kernpunkten des Forschungsprogramms gehören unter anderem die Achtung von Menschenrechten, Diversitäten und Interkulturalitäten. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf der Verringerung von Kinder- und Jugendschwangerschaften. Für den Ökonomen Chaves sind derartige „Ideologien“ jedoch nicht mit den costa-ricanischen Werten vereinbar. Deshalb droht er auch mit Maßnahmen gegen das Bildungsministerium und der Absetzung des Obersten Bildungsrates. Überdies hat er eine Erklärung mit der Zusage an evangelikale Pastoren unterzeichnet, Dekrete zur In-Vitro-Fertilisation und zu therapeutischen Abtreibung auf den Prüfstand zu stellen.

Chaves trägt jetzt schon dazu bei, Konflikte zu verschärfen und Feindschaften zu schüren

Zusammenfassend zeichnet sich ein Szenario mit hohem Konfliktpotenzial ab. Das Fehlen einer klaren Richtung und eines Regierungskabinetts, sowie auch die zentrale Führungsrolle, mit der Chaves alles an sich zieht, geben Anlass zur Sorge. Die Legitimation männlicher Gewalt, die sich auf die explizite Verachtung von Frauen und LGBTI+ stützt, lässt einen kulturellen und institutionellen backlash beim Schutz der Menschenrechte von Minderheiten befürchten. Dass Chaves, bei 43 Prozent Wahlenthaltung, nur bei etwa 29 Prozent der Bevölkerung echte Unterstützung genießt, vermittelt das Bild einer Regierung, die ihre Amtsgeschäfte noch gar nicht übernommen hat, aber schon jetzt wenig repräsentativ für die Bevölkerung ist.

Alles in allem werden die kommenden vier Jahre wohl entscheidend für die Zukunft eines Landes sein, dessen Volkswirtschaft nach Angaben der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) derzeit den höchsten Ungleichheitsindex in der Einkommensverteilung aufweist und das einen erheblichen Anstieg der Drogenkriminalität zu verzeichnen hat. Chaves hat darauf keine Antworten.

Übersetzung aus dem Spanischen: Beate Engelhardt