Ich wünsche mir nichts, ich fordere

Analyse

Was die Briten können, können wir auch. Anlässlich des Europäischen Protesttags zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen vergleicht die Journalistin Amy Zayed den Umgang am Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderung in Deutschland und in Großbritannien.

Bunte Vektorgrafik: Behinderte Menschen produktive Arbeit im Büro, Freunde zusammen.

Als Deutschland als eines der letzten Länder 2009 die UN-Behindertenkonvention unterschrieb, war die Hoffnung bei vielen behinderten Menschen groß. Denn die Konvention schreibt die Teilhabe am gesellschaftlichen, Berufs- und Privatleben von Menschen mit Behinderungen vor. Leider haben wir uns in den letzten 13 Jahren nur langsam voran bewegt. Und auch wenn die Frage nervt, bleibt sie doch im Raum stehen: Warum eigentlich?

Zu 100 Prozent kann ich die Frage sicherlich nicht beantworten, aber ich kann versuchen die Probleme aufzuzeigen, die der Grund dafür sind, und ich kann die Lösungen, die teilweise auf der Hand liegen, teilweise aber erst ein gewisses Verständnis für die Sachlage brauchen, aufzeigen.

Ich bin selbst von Geburt an blind, lebe also seit ich denken kann mit einer sichtbaren Behinderung, und wenn ich ganz ehrlich sagen soll, ob und was mich an meiner Behinderung stört, dann muss ich sagen: Gar nichts an der Behinderung selbst, sondern an der Art, wie ich immer noch behindert werde. Vor allem im Berufsleben. Als junge blinde Journalistin einen Praktikumsplatz in Deutschland zu bekommen, war damals und ist leider bis heute, nicht gerade einfach. Bloß war man vielleicht damals geneigter einem die Wahrheit zu sagen: Sie sind blind. Das geht nicht! Ich hatte in meinem Fall unsagbar viel Glück, denn meine journalistische Laufbahn begann bei einem britischen Radiosender und Journalist*innen mit Behinderung sind in Großbritannien schon lange nichts mehr Neues. Und da komme ich schon zum ersten Problem:

Arbeitgeber*innen haben keine Berührungspunkte mit behinderten Menschen. Also haben sie ihr ganz klares Klischeebild von ihnen. Das Bild, was sie selbst von Medien, Literatur und Kultur vorgelebt bekommen. Behinderte Menschen sind dem Klischee nach: Eine Belastung, passiv, können entweder gar nichts oder sind unglaublich besonders und bewundernswert, weil sie ganz alleine in einen Bus steigen können und nicht „an ihrem unfassbar schweren Schicksal verzweifeln“. Und immer die Frage: Wie würde es mir als Nichtbehindertem ergehen, wenn ich plötzlich blind oder taub wäre, oder im Rollstuhl säße? Und leider entsteht dann aus diesen Klischeevorstellungen eine falsche Vorstellung des Nicht-auf-Augenhöhe-Seins. Man nimmt sich heraus zu wissen, was ein behinderter Mensch kann oder nicht kann. So habe ich es selbst in Vorstellungsgesprächen erlebt, dass man mich gefragt hat, ob ich denn meinen Lebenslauf gefälscht habe, denn schließlich könne ich das doch als Blinde alles gar nicht geschafft haben. Oder man hörte mir während des ganzen Vorstellungsgesprächs schlichtweg gar nicht richtig zu. Man hatte mich eingeladen, weil es Vorschrift war, nicht aber, weil man mir wirklich eine Chance geben wollte. Das ist Ableismus. Nichtbehinderte Menschen stellen sich über Behinderte, um ihnen zu sagen, was sie können und was nicht. Das ist nicht unbedingt immer böse Absicht, aber es entspringt aus veralteten Klischees und Barrieren in den Köpfen. Um diese abzubauen kommen wir zu Problem 2:

Und das sind ganz klar politische Strukturen: Wir haben in Deutschland in Unternehmen mit mehr als zwanzig Arbeitsplätzen eine Behindertenquote von fünf Prozent, aber die sogenannte Ausgleichsabgabe, die Unternehmen zahlen müssen, wenn sie diese fünf Prozent nicht erfüllen, ist so gering, dass sie schon fast lächerlich ist. Das Ergebnis ist dann, dass es in den Büros, Teams, Geschäften unter den Kolleg*innen gar keine Berührungspunkte gibt mit behinderten Menschen. Also gar keine Möglichkeit die Klischees abzubauen.

Wenn denn doch jemand Behindertes eingestellt wird, dann dauert es manchmal über ein halbes Jahr, bis dieser Mensch überhaupt anfangen kann zu arbeiten. Denn die Beantragung von Hilfsmitteln ist alles andere als unbürokratisch.

Auch wenn ein Betrieb sehr viel Geld vom Staat dafür bekommen kann, wenn er einen Menschen mit Behinderung einstellt, sogar so viel, dass die Agentur für Arbeit die Hälfte des Gehalts dieses Menschen zahlt, so ist es immer damit verbunden zu begründen, dass der behinderte Mensch weniger leistet als der Nichtbehinderte.

Ich denke, wir müssen endlich strukturell weg von dem Konzept, dass ein behinderter Mensch weniger kann oder weniger wert ist und hin dazu, dass jeder Mensch eine Begabung hat und diese auch nutzen darf und soll, wenn er es möchte und dafür auch anständig bezahlt werden soll und nicht als Bittsteller gilt, wenn er wie jede andere Mensch auch arbeiten will.

So ist es auch nicht verwunderlich, dass wir in Deutschland als einziges Land erwachsene Menschen für weniger als den Mindestlohn arbeiten lassen und das als Beschäftigungstherapie bezeichnen. Behindertenwerkstätten sind ein deutscher Sonderweg, zumindest in dieser Form. In Großbritannien gab es sie eine Zeit lang. Aber selbst dort galten die behinderten Menschen als Arbeitnehmende und wurden anständig bezahlt und hatten ganz normale arbeitsrechtlich abgesicherte Rechte und Pflichten.

Daher brauchen wir ganz dringend auch in Deutschland eine klare, politisch bindende Struktur, wie den Disability Act in Großbritannien, der uns gesetzlich verpflichtet, das Recht von behinderten Menschen an Teilhabe klar festzulegen. Etwas, das Barrierefreiheit am Arbeitsplatz reguliert, das nicht nur Kündigungsschutz beinhaltet, sondern schon beim Einstellungsprozess greift.

In Großbritannien sind öffentliche Einrichtungen von vornherein barrierefrei. Sprich, es muss kein Bildschirmausleseprogramm teuer beantragt werden, wenn sich ein blinder Mensch bewirbt. Dies ist direkt schon in der regulären IT vorinstalliert. Behinderte Menschen, gerade Jounalist*innen und Menschen in der Öffentlichkeit, sind dort viel präsenter, was ein klareres Bild nach außen schafft. Nichtbehinderte sehen einfach viel mehr behinderte Menschen in ihrem Umfeld. Als Kolleg*innen, aber auch als Menschen im Fernsehen, im Radio, als Berichterstatter*innen. Und auch wenn auch dort natürlich noch nicht alle Klischees abgebaut sind, habe ich persönlich den Eindruck, sie sind um Längen weniger als bei uns.

Wenn mich Leute fragen, was ich mir wünschen würde, damit Menschen mit Behinderung regulär auf dem 1. Arbeitsmarkt arbeiten können, ist meine Antwort immer: Ich wünsche mir so einige Dinge: Einen Sechser im Lotto, ein Interview mit US-Präsident Biden und Kamala Harris, aber wenn es um die Rechte behinderter Menschen geht, wünsche ich nichts. Ich fordere! Arbeiten ist ein Menschenrecht! Arbeiten bedeutet selbstbestimmt zu leben und den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen. Von niemandem abhängig zu sein! Arbeiten bedeutet in einem Land wie Deutschland auch anständig für die Arbeit bezahlt zu werden. Darum will ich nicht bitten, das will ich mir nicht wünschen! Das ist ein Menschenrecht, und kein Wunschkonzert. Von daher: Packen wir‘s an! Setzen wir endlich die UN-Behindertenrechtskonvention um. Was die Briten können, können wir auch.

Mehr Daten und Fakten zum Thema finden sich auch auf der entsprechenden Themenseite im neuen Sozialatlas: https://www.boell.de/de/2022/03/02/inklusion-mehr-miteinander


Veranstaltungstipp

Am 16. Mai 2022 laden wir herzlich ein zur Online-Diskussion:

Und jenseits der Werkstätten? Wie echte Inklusion am Arbeitsmarkt gelingen kann

mit Nils Dreyer, Raul Krauthausen, Corinna Rüffer und Amy Zayed