Bilder von den Ausläufen der Anfänge

Essay

In seinem Essay umreißt Jwan Tatar auf poetische Weise kurdische Identität in einem Syrien, in dem die Angst das verbindende Glied all seiner Bewohner*innen ist.

Collage - Betonmauer: Auf der einen Sete ein Soldat, auf der anderen Seite ein Bücherberg, eine männliche Statue und eine grüne Fliege.Qamischli im Nordosten Syriens an der Grenze zur Türkei.

Wie schon gestern, so auch heute, sagen die Leute. Werden Sätze wie dieser als Binsenweisheit abgetan, dann muss ich fast lachen. Menschen brauchen doch Binsenweisheiten, um durch den Alltag zu kommen. Sie schlüpfen durch sie hindurch, wie durch mürbe, leichte Mauern. Mauerwände wie die, die mein Großvater vor Jahrzehnten in unserem alten, bröckelnden Viertel gebaut hat. Aber meistens laufen sie bloß entlang daran. Ängstlich, etwas kaputt zu machen. Behutsam, damit sie bloß nicht über ihnen einstürzen. Obwohl sie doch gar nicht schwer sind.

Ich für meinen Teil halte mich lieber an meine Vorstellungskraft. Mir, einem von Tausenden von Menschen in Syrien, hilft dieses Auge dabei, zu sehen.

Der Anfang

An der Stadteinfahrt nach Amude im Norden Syriens werde ich jedes Mal in meine Kindheit katapultiert. In den Fängen der Statue, die in der Mitte des Kreisverkehrs auf einem Betonsockel thront, hängt für alle Zeiten meine Kindheit fest. Groß wie zehn hochgewachsene Männer, reckt der steinerne Mann seinen Arm in die Höhe. Das höllische Lächeln auf seinem Gesicht hat sich mir ins Gedächtnis gebrannt. Darin drückt sich Un-Würde aus, all derer, die zu ihm aufblicken müssen.

Als Kind und Jugendlicher habe ich viele Gesichter wie seines gesehen. In allen Städten, in denen ich je gewesen war, habe ich Steingesichter gesehen. Ob real oder in meiner Fantasie. Überall Statuen, Büsten, Ganzkörperdarstellungen und Gesichter über Gesichter, so dass es dem Betrachter erscheinen musste, als wäre sie, eins ums andere, das Werk desselben Bildhauers.

An den Ausläufen des ersten Anfangs

Ich hatte etwas auf dem Markt besorgt und befand mich heimwärts durch die von schauderhaften Statuen beschwerte Stadt. Auch wenn mein Körper noch klein und schmächtig war, eben ein Kinderkörper, erfasste ich geistig alles, was um mich herum geschah. Trotz meines jungen Alters verschlang ich jeden Tag die drei einzigen staatlichen Zeitungen, die unser Städtchen mit einem halben Tag Verzögerung über den zivilen Flugverkehr aus der syrischen Hauptstadt erreichten, und die den Bewohnern ihre Namen einschärften: Al-Thawra (übersetzt: die Revolution), al-Baath (wie die Baathpartei) und Tishreen (übersetzt: Oktober – ein Verweis auf den Oktoberkrieg). 

Als ich im einzigen Buchladen von Amude, der alle drei Zeitungen im Sortiment führte, nach den neuesten Ausgaben fragte, gab der Ladenbesitzer mir keine Antwort. Bloß mit den Augen bedeutete er mir, zum Fernsehgerät zu schauen, das an der Wand befestigt war. Ich folgte seinem Blick. Zwar war mir der Singsang des Koranrezitators beim Reinkommen offenbar entgangen, worauf der Buchhändler hinauswollte, verstand ich aber noch immer nicht. Als ich verständnislos den Kopf schüttelte, hat er sich zu mir gebeugt und geflüstert: „Hafiz al-Assad ist tot.“

Zuerst gefror mir das Blut in den Adern. Dann erstarrte der Rest von mir. Mir war, als würde die Angst mich mit Haut und Haar auffressen. Der Verkäufer sah es mir an und rückte, um die Situation zu überspielen, Ratgeberbücher in den Regalen zurecht, wie auch libanesische Boulevardblätter, die sich um halbnackte Stars und Skandale drehten. Dabei stand ihm die Angst ins Gesicht geschrieben, als höre er bereits das Surren der grünschillernden Gefängnisfliegen. Er wollte sie verscheuchen, und mich gleich dazu. Er hat es bitter bereut, diesen schweren, furchteinflößenden Satz je ausgesprochen zu haben.

Hafiz al-Assad ist tot.

An den Ausläufen des zweiten Anfangs 

Meine Mutter ist auf dem Land großgeworden. Viel Unterdrückung und Angst hat sie in ihrem Leben erfahren. Sie erzählte uns immer, wie ihr Vater, also mein Großvater, vor der türkischen Gendarmerie geflohen war. Wie viele andere Kurden war er vor der Tyrannei des Osmanenreichs geflüchtet. Die Ländereien, die er in der Türkei besessen hatte, musste er zurücklassen. In Syrien begann er ein neues Leben. Nach und nach wurde es ihm eine neue Heimat. Jene Frau vom Lande, die meine Mutter ist, erzählte uns von den fruchtbaren Gärten, die es in den Dörfern auf der syrischen Seite der Grenze gab – auf jenem weltverlassenen Fleckchen Erde, dem die Gnade üppiger Regenfälle reichlich beschert wurde. Meine Mutter kannte nur einen Führer, nur einen Präsidenten, und Polizisten waren für sie Schreckgespenster, die nachts aus dem Boden stiegen und am besten als Kinderschreck taugten. Wenn ihr Kindchen mal wieder vom Quatschkobold geritten war, konnte sie nämlich sagen: „Ich hole die Polizei, wenn du nicht gleich mit dem Unsinn aufhörst!“ Oder: „Still jetzt, sonst kommt die Polizei und nimmt dich mit!“ Polizisten waren für sie einfach Monster.

An jenem Nachmittag, als die Angst einen ersten Riss bekommen hatte, machte meine Mutter seelenruhig den großen Hof sauber, als ich nach Hause kam. Ich lief zu ihr hin und posaunte: „Mama, Hafiz al-Assad ist tot!“ Erschrocken fuhr sie zusammen, dann hastete sie auf mich zu, die zitternde Hand ausgestreckt, um sie mir schnell auf den Mund zu pressen, so wie man es tut, wenn man jemanden ersticken will: „Pscht! Nicht so laut, Junge!“

Die vielen Reisen der Anfänge

Glücklich sind die, die ohne Angst großwerden. Ohne Angst vor Bildern und Statuen eines einzigen Führers. Glücklich sind die, die in den Hauptadern ihrer Stadt nicht an unzähligen Einrichtungen des Sicherheitsapparats vorbeimüssen. Ewig verdammt sind diejenigen, denen es nicht erspart bleibt, jene Einrichtungen aus der Nähe zu sehen. Die Narbe bleibt für immer, man bekommt sie von der Seele nicht weg. Es sind Gebäude wie Festungen, in denen Schreibtischtäter sitzen und mit großer Kunstfertigkeit Anschuldigungen konstruieren, mit denen sie die Geheimdienstler auf die Hetzjagd schicken. Ein Mensch habe eine kurdische Identität. Ein Mensch lese in seiner Muttersprache – sein letztes bisschen Würde –, ein Mensch singe in einer Sprache, die ihren Sprechern doch längst hätte ausgetrieben gehört. 

Meine Generation ist aufgewachsen mit Geschichten über grausamste Folter, die sich in den Gefängnissen des Führers abspielten. Vor dieser letzten Konsequenz fürchteten wir uns, also schwiegen wir, oder wir rannten schnurstracks jedem beliebigen Hirngespinst in die Arme, sobald es uns einen Hauch von Halt vermittelte. Doch die Erniedrigung nahm kein Ende. Selbst dann nicht, als der junge Mann, der der Sohn des Führers war, an dessen Stelle trat. Die Angst hatte Wurzeln geschlagen, sie wohnte und wucherte in der Seele. Er war der Sohn des Führers, sein Name war der Anfang und das Ende von allem, und alles, was dem einen gehört hatte, gehörte nun ihm.

Die Geschichte

Angst verschwinde nicht, heißt es. Höchstens schlummert sie eine Weilchen. Wenn sie aufwacht, tut sie es gemächlich. Du kannst noch kurz träumen, die Angst sei fort. Dabei war sie nie weg. Sie wohnt in dir drinnen, hat sich dort den schönsten Platz ausgesucht: Deinen Verstand. Wie eine Königin thront sie darin, räkelt sich auf dem Kanapee, manchmal döst sie ein wenig vor sich hin. Doch wann immer sie in der Laune ist, wacht sie auf.

So hat die Angst all die Jahre verbracht. Sie erzählt Geschichten. Diese bestehen aus zahllosen Ästen, die sich durchaus unterscheiden mögen, aber ihr Ursprung ist immer derselbe.

Die Angst zwingt dich, dich zu arrangieren. Du musst dich ihr ausliefern, bedingungslos. Es wird sich anfühlen, als fehle dir etwas Ureigenes – wenn du sie einmal nicht spürst. Du brauchst sie, du brauchst sie jeden Tag. Du stützt dich auf sie, ergeben und voller Zuversicht. An einer Straßensperre entspringt sie dem Khakigrün der Polizeiuniform und kriecht auf dich zu. Bewirbst du dich um einen Studienplatz oder auf eine staatliche Stelle, und brauchst du ein Führungszeugnis dazu, lugt plötzlich ihr Kopf hervor. Ist auf dem Wisch zwischen all den Stempeln vermerkt, dass du „Keine Vorstrafen“ begangen hast, bist du vorerst freigestellt von deiner Angst vor den Folterkammern. Du giltst jetzt offiziell als loyal zur Baathpartei, zum einzigen Führer, seinen Foltergefängnissen und Statuen in allen Winkeln des Landes. So läuft das: Man muss eben ohne Würde leben, man weiß ja nicht einmal, was das ist. Ein Synonym für Gefängniszelle? Für Folter, Mord und alltägliche Erniedrigung? Du lebst, also bist du würdelos.

Du bist würdelos, wenn du dich während einer Busfahrt in die syrische Hauptstadt vor deinem eigenen Namen fürchtest. Wenn der Polizist dich bei der Ausweiskontrolle ohrfeigt, beleidigt und auffordert, ihm zu erklären, was dein kurdischer Name auf Arabisch bedeutet – nur um dich dafür auszulachen, vor den Augen der angstvollen Passagiere. Wehe aber, einer der Mitreisenden sollte versuchen, sich bei ihm anzubiedern, in dem er mitlacht und feixt. Dann fängt auch er sich vom Polizisten eine Ohrfeige ein. Damit zwischen den Leuten der Hass gut gedeiht.

Die Geschichten von Würde und Angst sind eng miteinander verwebt. An der Vergangenheit entlang erzählen sie die Zukunft. Gut möglich, dass die Zukunft anders möglich wäre, doch sie ist Gefangene – der Vergangenheit, ihrer Schrecken und Ängste.

Kreisend kehrt die Zeit an ihren Ausgangspunkt zurück. Dass die Geschichte sich wiederholt, ist richtig. Dabei nimmt die Angst verschiedene Gestalten an. Mal kommt sie in Gestalt eines Krieges vor, mal tritt sie als Besatzung auf. Aber die Angst bleibt immer sie selbst. Während ich das schreibe, stemme ich mich, so gut es mir gelingt, gegen die sich stets erneuernde Kraft: Angst.

Die Tür zur Würde ist angelehnt

Für diejenigen, die wie ich noch in Syrien leben, überlagert sich im Alltag Vergangenes und Gegenwärtiges. Es ist, als würde unsere Vergangenheit auf unsere Gegenwart projiziert werden, wie ein Film. Dabei könnte der Unterschied zwischen beiden Zeiten deutlicher nicht sein: Bis vor kurzem – mir kommt es vor, als war es gestern – musste ich noch vor meiner Muttersprache fliehen und, wie viele andere Kurd*innen auch, in einer anderen Sprache Deckung suchen. Bis wir beschlossen, dass es egal ist. Fliehen oder nicht fliehen, die Zeiten ändern sich ohnehin immerzu, und alles kehrt schließlich an seinen Ausgangspunkt zurück. Blätter fallen von den Bäumen, verrotten und werden zu Erde, aus der neue Bäume wachsen, und so weiter und so fort.

Wenn ich jetzt die Augen schließe, dann sehe ich das weite Land, das sich nach Norden ins Endlose zieht, bis an den klapperigen Zaun heran, der die türkische Grenze markiert. Vor dem Krieg spielten hier Kinder Fußball. Ihre zarten Füßchen wirbelten den Staub auf, während sie dem Lederball nachjagten, wobei die türkischen Soldaten nicht schlecht staunten über derlei Wendigkeit. Später wurde die Gegend zum Schmuggeln genutzt. Zum Schmuggeln von Menschen, die es in die weite Welt zog, auf der Flucht vor der Un-Würde, vor der täglichen Erniedrigung. Doch wie zu alten Zeiten drängten türkische Soldaten sie in die Un-Würde zurück.

Würde, jetzt!

Mit den letzten Soldaten des Regimes verschwanden an den Straßensperren auch das Angebrüllt- und Gedemütigtwerden. Die kurdischen Truppen, die ihren Platz einnahmen, taten das genaue Gegenteil von Assads Armee. Sie wollten alle Welt wissen lassen: „Wir sind hier um euch zu schützen, und eure Würde auch.“

Um die sechzig Jahre alt, in einer khakifarbenen Uniform und ausgestattet mit einer Kalaschnikow, die seine einzige Waffe ist, eilt der kurdische Soldat zu dir. Er fragt dich nach deinem Ausweis, liest deinen kurdischen Namen und gibt dir mit einem Lächeln den Ausweis zurück. Es ist der selbe Ausweis mit dem selben Namen, aufgrund dessen dich der syrische Polizist beschimpft und erniedrigt hatte. Dasselbe Stück laminiertes Papier, auf dem neben den Namen deiner Eltern auch deren frühere Familiennamen stehen. Die Namen von Familien, die das Schicksal verraten hat, und die nun auf einem Fleckchen Erde leben, das sich höchstens als bizarr beschreiben ließe. Bei vielen Demonstrationen hielten die Protestierenden ihre Personalausweise in die Höhe, als Zeichen ihrer Würde als Bürger. Später desertierten immer mehr Soldaten von Assads Verbrecherarmee, so nannten sie sie – diese Tat dokumentierten sie häufig in Form von kurzen Videos, in denen sie ihren Ausweis in die Kamera hielten. Im Ausland wird dieses Dokument vor allem eingesetzt, um Mitleid zu erheischen und das Seelenleid seines Inhabers zu belegen, wie um zu sagen: „Ihr wisst, was es heißt, einen solchen Ausweis zu haben. So helft mir doch!“

Gedächtnis

In meinen Träumen höre ich Syrer*innen Parolen von Würde skandieren. Auch im Wachzustand sehe ich oft Menschenmassen dafür demonstrieren. Suche ich diese Würde dann aber in meiner Erinnerung, so kann ich nichts finden. In der Gegenwart finde ich sie aber auch nicht. Wie auch? Für die Syrer*innen folgt ein Exil auf das nächste, und wer heute noch im Land lebt, findet kaum genug zu essen.

Sind diese Parolen womöglich in der Vergangenheit gefangen? Diese Frage stelle ich mir jeden Tag, und ich bleibe mir eine Antwort schuldig. 

In meinem Alltag hier in Syrien bekomme ich das Wort Würde nur noch selten zu hören. Dabei konnte man noch vor wenigen Jahren keine Nachrichtensendung anschauen, ohne dass im Ticker am unteren Bildschirmrand Eilmeldungen unter dem Titel Syrien, Land der Würde vorbeizogen. Heute ist davon nichts mehr übrig. Die Syrer*innen haben alle Hände voll damit zu tun, irgendwie über die Runden zu kommen. Würde bedeutet ihnen höchstens, dass sie nicht hungern oder frieren müssen. Dass die eigenen Kinder von dieser ansteckenden Krankheit verschont bleiben, die immer mehr Menschen veranlasst, Essbares in Müllcontainern zu suchen. Würde bedeutet, dass einen der Vermieter nicht auf die Straße setzt. Würde bedeutet, sich nicht aufs Meer wagen zu müssen, um im Magen eines Walfisches zu verenden.

Raubfische gibt es in Syrien viele, in der Politik wie in der Armee. Die haben erst die Menschenwürde und dann den ganzen Menschen verschlungen. Der Sicherheitsapparat spricht die Syrer*innen weiterhin als Tiere an, und seine Handlanger sind noch längst nicht müde geworden, sie zu demütigen, körperlich und seelisch. Das ist das Los der Menschen in Syrien. Nicht etwa, weil sie schwach wären. Nein. Sondern weil die Praxis der Entmenschlichung eine tief verwurzelte Tradition im Herrschaftsapparat ist, die von Generation zu Generation vererbt wird.

Nicht mal eine Nummer 

Sie haben die Toten durchnummeriert, von eins bis hundert. Dann waren sie unschlüssig, wen sie zuerst begraben sollten. Manch einer hatte sich bloß tot gestellt, weil auch er eine Nummer werden wollte. Andere sprangen nach jedem Tod zur Stelle, um die Särge zu tragen. Wieder andere überrumpelten die Militärs an den Straßensperren, indem sie, nach Jahren des geduckten Gehens, auf und davon rannten. Die Toten hatten ihr Leben damit verbracht, bei Militärkontrollen und überall sonst auch ihre Ausweise zu zücken. Und immer waren sie Nummern gewesen, sonst nichts. Weder Messer fand man bei ihnen, noch Munition, noch Pistolen. Alles, was sie bei sich trugen, waren ausgedruckte Anträge für ein Visum und Reservierungsbestätigungen für billige Hotels. Sie sagten: „Man hat uns die Kinder genommen und sie dem hungrigen Meer zum Fraß vorgeworfen.“

Vielleicht wird es geschehen, wenn ich gerade nicht hinsehe. Vielleicht geschieht es aber auch, wenn ich mich ganz traurig stelle, damit man mir endlich auch so eine Nummer gibt, mich auch nummeriert! Dann holen sie auch für mich diesen bescheuerten Stift hervor und malen mir damit vier Ziffern auf die Stirn, jede in ein Kästchen, so wie bei den anderen. All jenen, die die ganze Welt, mich eingeschlossen, nackt gesehen hat, als Leichen, aufgehäuft in Foltergefängnissen, während ihr Blut über den Asphalt rann. Sie flickten den Riss mit ihren Herzen, machten die Tür zu und starben.

In meiner Vorstellung sehe ich sie als Straßenreiniger, mit roten, zerschlissenen Mützen. Sie kauen herum auf der Trägheit der vergangenen Nacht und klopfen sich die Dunkelheit aus den Augen. Sie frühstücken im Schatten eines nichtvorhandenen Baumes auf dem Hof eines nichtvorhandenen Hauses. Dort küssen sie ihre Kinder ab, die zu spät gekommen sind und behalten dabei Gebäude im Blick, die ihre Seelen überragen. Dieses Streben zum Himmel schnürt ihnen die Kehlen zu. In ihren verdreckten Kleidern geben sie ihre Ausweise beim Direktor ab. „Was sollen wir mit diesem laminierten Papier?“, wollen sie wissen. „Die Zeichen darauf gehören uns nicht. Wir sind Geister, wir sind jetzt frei. Das reicht uns. Wir fließen noch immer durch die Adern des Lebens.“ Sie hoffen, dass die Geschichte eines Tages Gerechtigkeit walten lässt. Dass sie ihnen in der Fantasie luxuriöse Zimmer einrichtet und das ihnen gegebene Versprechen einlöst. Plötzlich fallen ihnen die zerrissenen Bücher auf, die vor den Türen liegen. Da liegen auch zerbrochene Stifte und Fotos von Gräbern und Tupperware. „Seelen eingesperrt in Plastiktüten, derart fest zugeschnürt, dass der Gestank nicht entweicht“, vermutet man später unter der beißenden Morgensonne. Einer von ihnen singt voll Kummer. Von einem halbnassen Blatt Papier liest der den Text ab: „Meine Kinder sind im Ausland, meine Kinder sind in Büchern.“

Heutige Lesart 

In meinen jungen Jahren, die ja im Grunde noch gar nicht vorbei sind, habe ich ein Gedicht von Riyad al-Saleh al-Hussein gelesen. Es handelt von Syrien und dort heisst es: O unglückliches Syrien, wie ein Knochen zwischen Hundezähnen. Dieses Syrien, in dem wir lebten und das wir uns vorstellten, haben wir nie zu Gesicht bekommen. Aber den Hund haben wir gesehen. Viele Hunde. Hunde, die reglos auf dem Bürgersteig herumlagen und den Fußgängern träge und verständnislos nachblickten und Hunde, die ihre Reißzähne mitten hinein in die Hoffnung schlugen, die Kinder, Frauen und Alte bissen. Ihr Bellen hat den nahenden Krieg angekündigt. 

Vor mir auf dem Tisch liegt mein Personalausweis. Vielleicht sollte ich meinem Sohn, der noch ein Baby ist, ja sagen: „Nimm ihn, Kleiner. Werfe ihn den Hunden zum Fraß vor. Lass ihn in einen Brunnenschacht fallen. Eure Generation wird schon noch herausfinden, dass wir weit, weit von unserer Würde abgekommen sind, dass uns selbst der Alltag entglitten ist. Diese Nummer unter dem Adler da, sie hat uns verraten. Unter dem Wappen des Staates, in dem wir jetzt Fremde sind, falls wir es nicht schon immer waren. Nimm ihn nur, den Ausweis, heb ihn für Deine Kinder auf. Dann erzähle ihnen, wozu er gut war: Weder half er, an einen Kanten Brot zu kommen, noch brachte er einen Schluck Medizin.“


Autor: Jwan Tatar (*1984 in Amude, Syrien) ist ein kurdisch-syrischer Lyriker und Übersetzer. Er lebt in Syrien. Er hat bereits zahlreiche Schreibstipendien und Preise erhalten, u.a. 2022 den Mediterranean Poetry Prize sowie 2010 den Preis des zweiten Forums für Prosalyrik in Kairo. Durch das Goethe-Institut und Ettijahat Independent Culture erhielt er je ein Schreibstipendium für seinen Prosaband ila al-`alam dur (deutsch: Augen zur Flagge!)

Übersetzung aus dem Arabischen: Mirko Vogel und Sandra Hetzl. Mirko Vogel, Jahrgang 1983, studierte Mathematik, Arabistik und Konferenzdolmetschen in Aleppo, Beirut, Berlin und Leipzig. Er arbeitet er als freiberuflicher Übersetzer und Dolmetscher und lebt mit drei Kindern in Frankfurt. Außerdem ist er ist Mitbegründer von Mahara, einem Dolmetsch- und Übersetzungskollektiv.

Kuration: Sandra Hetzl (*1980 in München) übersetzt literarische Texte aus dem Arabischen, u.a. von Rasha Abbas, Mohammad Al Attar, Kadhem Khanjar, Bushra al-Maktari, Aref Hamza, Aboud Saeed, Assaf Alassaf und Raif Badawi, und manchmal schreibt sie auch. Sie hat einen Master in Visual Culture Studies von der Universität der Künste in Berlin, ist Gründerin des Literaturkollektivs 10/11  für zeitgenössische arabische Literatur und des Mini-Literaturfestivals Downtown Spandau Medina.


Dieser Beitrag ist Teil unserer Serie „Blick zurück nach vorn“. Anlässlich von zehn Jahren Revolution in Nordafrika und Westasien schildern die Autor/innen dabei aus verschiedensten Kontexten, was sie hoffen, wovon sie träumen, was sie sich fragen und woran sie zweifeln. In ihren literarischen Essays wird deutlich, wie wichtig die persönlichen Auseinandersetzungen sind, um politische Alternativen zu entwickeln, und was jenseits der großen Ziele erreicht wurde.

Mit dem anhaltenden Kampf gegen autoritäre Regime, für Menschenwürde und politische Reformen beschäftigen wir uns darüber hinaus in multimedialen Projekten: In unserer digitalen scroll-story „Aufgeben hat keine Zukunft stellen wir drei Aktivist/innen aus Ägypten, Tunesien und Syrien vor, die zeigen, dass die Revolutionen weitergehen.