Wahlen in Israel: Zurück auf Los

Interview

Wieder steht Israel vor Wahlen, wieder wird von einer Schicksalswahl gesprochen. Ein Interview mit Zehava Gal-On, der Vorsitzenden der israelischen Meretz-Partei, über die anstehenden Wahlen, die Herausforderungen für Demokratie und Menschenrechte in Israel sowie ihre eigene Motivation, sich weiterhin politisch zu engagieren.

Straßenszene
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Straßenszene in Tel Aviv: In Israel wird zum fünften Mal innerhalb von vier Jahren gewählt.

(Anmerkungen der Redaktion in Klammern*)

Es sind die 5. Wahlen in weniger als vier Jahren. Die Hoffnung, dass die heterogene „Koalition des Wandels“, angeführt von Ministerpräsident Naftali Bennett und dem alternierenden Ministerpräsidenten und Außenminister Yair Lapid, Israel aus der Krise führen könne, währte nur rund ein Jahr. Zu groß waren die Konflikte innerhalb der heterogenen Koalition, der insgesamt acht Parteien aus dem linken und rechten Spektrum, sowie eine arabische Partei angehörten. Und so stehen sich wie bereits 2021 nun wieder die Anhänger und Gegner des ehemaligen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu gegenüber.

Die linksliberale Meretz-Partei hatte sich im letzten Jahr der Koalition von Bennett und Lapid angeschlossen. Nach rund zwanzig Jahren in der Opposition übernahm die Partei erstmals wieder Regierungsverantwortung. Die Kompromisse, die Meretz in der Regierung eingehen musste, stellten die Partei vor eine Zerreißprobe. In dieser Situation entschied sich die ehemalige Vorsitzende Zehava Gal-On erneut zur Kandidatur um den Parteivorsitz. Mit Erfolg: Sie setzte sich gegen (den ehemaligen Generalmajor*) der israelischen Armee Yair Golan durch und führt die Partei nun in die am 1. November anstehende Wahl.

Anlässlich der bevorstehenden Wahlen traf sich die Heinrich-Böll-Stiftung Tel Aviv zu einem Gespräch mit Zehava Gal-On. Die 1956 geborene Gal-On wurde 1999 erstmals in die Knesset gewählt und war von 2012-2018 Vorsitzende ihrer Partei. 2018 verabschiedete sie sich zunächst von der Parteipolitik. 2019 gründete sie das „Zulat-Institut“ für Gleichstellung und Menschenrechte, um dem zunehmend rechten Diskurs im öffentlichen Leben entgegenzutreten. Erst kürzlich entschied sie sich, in die Politik zurückzukehren und wurde als Vorsitzende der Meretz-Partei wiedergewählt. Gal-On äußert sich immer wieder mit Nachdruck gegen die Besatzung, engagiert sich für Gleichstellung und Menschenrechte, ist Publizistin und häufige Diskussionsteilnehmerin in israelischen Medien.

Heinrich-Böll-Stiftung Tel Aviv: Nach fünf Jahren Auszeit sind Sie nun wieder Vorsitzende der Meretz-Partei. Was hat Sie zur Rückkehr in die Politik bewegt?

Zehava Gal-On: Ich habe Meretz 16 Jahre als Abgeordnete im Parlament vertreten, sechs Jahre davon als Parteivorsitzende. Im März 2018 habe ich mein Amt niedergelegt, um aus der Zivilgesellschaft heraus auf die Politik einzuwirken. Zu diesem Zweck gründete ich das Zulat-Institut, das eine fortschrittliche Politik der Gleichstellung und der Menschenrechte verfolgt. Seit meinem Rückzug aus der Politik habe ich neben meiner Tätigkeit für Zulat eine wöchentliche, viel beachtete Kolumne für die Tageszeitung Haaretz geschrieben, bin im Fernsehen aufgetreten, war auf Twitter aktiv und habe Meretz bei sämtlichen Wahlen unterstützt.

Nach dem Scheitern der als „Regierung des Wandels“ angekündigten Koalition und damit auch dem Scheitern der großen Hoffnungen, die in sie gesetzt worden waren, schien mir keine andere Wahl zu bleiben, als wieder in die Parteipolitik zu gehen. Zudem durchlitt Meretz eine innerparteiliche Krise nach dem Ausscheiden von gleich drei wichtigen Minister/innen: (der Umweltministerin*) Tamar Zandberg, (dem arabisch-israelischen Minister für ‚Regionale Kooperation‘*) Issawi Frej und von (Parteivorstand*) Nitzan Horowitz. Umfragen zufolge lief Meretz Gefahr, die Sperrklausel (von 3,25%*) für den Eintritt in die Knesset nicht zu überspringen. Ein solches Scheitern von Meretz hätte eine Rückkehr von Netanjahu an die Macht mit der Bildung eines Netanjahu-Blocks mit (rechtsextremen*) Kahanisten mehr als wahrscheinlich gemacht.

Laut derzeitigen Umfragen kann Meretz unter meinem Vorsitz auf sechs oder mehr Mandate kommen. Ich bringe die Stammwähler*innen zurück, die zu anderen Parteien abgewandert waren. Ich bringe die Linken wieder nach Hause zurück. Deshalb habe ich mich bei den Vorwahlen von Meretz zur Wahl gestellt und rufe nun die linken Wähler*innen auf, für Meretz zu stimmen. Nicht etwa um strategisch die Partei zu retten, sondern weil Meretz ihre Stimmen verdient, die notwendig sind, um erneut einen demokratischen israelischen Block unter Yair Lapid bilden zu können.

Seit 23 Jahren sind Sie Teil der israelischen Politik. Welche zentralen Veränderungen hat es in dieser Zeit gegeben?

Lassen Sie mich auf zwei wesentliche Bereiche verweisen, auf die Gleichstellung der Geschlechter und den Aufstieg der politischen Mitte.

Zweifellos haben Frauen in den letzten drei Jahrzehnten einen weiten Weg hin zur Gleichstellung zurückgelegt. Gleichstellungsgesetze wurden verabschiedet, die Repräsentanz von Frauen in verschiedenen Parteien erhöht, Frauenhäuser für Opfer von häuslicher Gewalt errichtet, das Bewusstsein für frauenfeindliche Werbung ist gestiegen. Sexuelle Ausbeutung, geschlechtsspezifische Ungleichheit und Diskriminierung, das Engagement für die Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt und die Vertretung von Frauen in der Politik sowie ein dramatischer Wandel in der Hochschulbildung sind Themen des öffentlichen Diskurses geworden. Trotz solch bedeutender Veränderungen werden Frauen aber noch immer ermordet, geschlagen, vergewaltigt und belästigt- einfach, weil sie Frauen sind. Von der „Sexindustrie“ werden sie ausgebeutet und bei Scheidungsverfahren von Rabbinatsgerichten diskriminiert. Im Israel des Jahres 2022 dominiert eine egalitäre Rhetorik, doch existieren diskriminierende Strukturen weiterhin, offenkundig oder verdeckt. Dazu gehört die patriarchale Auslegung religiöser Gesetze von entscheidenden Akteuren und die Vorherrschaft der Ultrareligiösen im israelischen Leben sowie der Militärdienst.[1] Zudem sind in Israel Frauen noch immer diejenigen, die sich vor allem um Kinder und Familie kümmern. All dies schafft eine ungleiche Realität. Für die geschlechtliche Diskriminierung in all diesen Bereichen sind große Teile der Gesellschaft allerdings immer noch blind. Eine der Herausforderungen, vor denen wir nach wie vor stehen, ist es, eine Repräsentanz von Frauen aus ganz diversen sozio-ökonomischen und ethnischen Sektoren der israelischen Gesellschaft im Parlament sicherzustellen.

Die zweite Entwicklung betrifft die politische Mitte, die aus dem Wunsch heraus entstand, sich in die Komfortzone des politischen Konsens zurückzuziehen, ohne als rechts oder links abgestempelt zu werden. Doch nützten die Bestrebungen der politischen Mitte, die extreme Rechte zufriedenzustellen, letztlich nichts. Als Benjamin Netanjahu in den letzten Jahren mit Hilfe von rechten Organisationen und rechtsgerichteten Medien gegen Menschenrechtsorganisationen vorging, beschloss die politische Mitte aus eigenen opportunistischen Bedürfnissen, sich diesen Angriffen anzuschließen. Die politische Mitte wollte ihrer Wählerschaft unbedingt zeigen, dass sie nicht zu linken Organisationen wie „Breaking the Silence“ oder „B‘Tselem“ gehört, die es wagen, öffentlich von Besatzung zu sprechen. Sie startete eine Hetzkampagne gegen den „New Israel Fund“ und Vertreter von „Peace Now“, die als „ausländische Agenten“ bezeichnet wurden. Das politische Zentrum begriff nicht, dass es durch ihren Anschluss an die Hetzkampagne der Rechten gegen Menschenrechtsorganisationen und Linke die extreme Rechte nicht nur salonfähig gemacht, sondern sich selbst den Boden unter den Füßen weggezogen hat.

Im vergangenen Jahrzehnt hatte sich die politische Mitte an den von Netanyahu geführten Regierungen beteiligt. Erst im letzten Jahr hat sie sich bewusst vom rechten Spektrum abgewendet und mit linken Parteien eine „Regierung des Wandels“ begründet .

Was ist die derzeit bedeutendste Herausforderung für die israelische Demokratie? Wie lassen sich die ständig neuen Wahldurchgänge der letzten Jahre stoppen?

Die letzten Jahre waren für die israelische Demokratie verheerend. Vier Wahldurchgänge. Und nun zum fünften Mal Wahlen. Netanjahu ist mit der Koalitionsbildung gescheitert. Das ist die gute Nachricht. Nach dem fünften Wahldurchgang liegt die aktuelle Herausforderung weiterhin darin, die israelische Demokratie von innen heraus wieder zu erneuern. Wir sind mitten in diesem Prozess. Im letzten Jahr war Netanjahu mit seinen Gerichtsprozessen und wahlloser Hetze beschäftigt. Während die Regierung arbeitete und Maßnahmen vorantrieb, begannen Abgeordnete der Opposition, die politische Linke vehement anzugreifen. Die Atmosphäre wurde unangenehmer. Um ständige neue Wahlrunden zu stoppen, bedarf es der Bildung eines demokratischen israelischen Blocks, dem auch Vertreter der arabischen Parteien angehören, damit Verfechter von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie öffentlich und wortgewandt gegen diejenigen angehen können, die zur „Zerstörung“ des Obersten Gerichts aufrufen, die „Bleichmittel über Staatsanwälte ausgießen“ oder diese gleich „ermorden“ wollen.[2] Und all das, um Netanjahu vor einer drohenden Verurteilung in seinen Korruptionsprozessen zu schützen. Um eine Rückkehr dieser gefährlichen Personen, die die Besatzung in Annexion umwandeln und die demokratische Gewaltenteilung im Land ändern wollen, in Schlüsselpositionen der Regierung zu verhindern, muss der demokratische Block sich neu bilden.

Zum linken Spektrum in Israel – Wie sieht die Lage zur Zeit aus?

In den letzten Jahren wurde das linke Lager in Israel stark gebeutelt. Es muss nun wieder auf die Beine kommen und mit Mut für die Werte kämpfen, an die es glaubt. Ohne Angst vor den Rechten oder der politischen Mitte muss es eigene Standpunkte klarmachen, selbst wenn sie im Land derzeit nicht beliebt sind. Es muss für Gleichberechtigung der Bürger/innen auf allen Ebenen, für eine gerechte Gesellschaft eintreten. Es muss ein Ende der israelischen Besatzung und der Kontrolle über Millionen Palästinenser*innen fordern. Es muss für eine sozialdemokratische Wirtschaftsordnung kämpfen und den arabischen Bürger*innen Israels und ihren Vertreter*innen im Parlament zur Seite stehen sowie Organisationen der Zivilgesellschaft den Rücken stärken, die die Politik der Regierung kritisieren.

Hat es in der Zeit, während der Sie in der Politik sind, im Hinblick auf die Einhaltung von Menschenrechten in Israel (positive wie negative) Veränderungen gegeben? Falls ja, welche?

Wenn ich das israelische Parlament aus der Perspektive der letzten zehn Jahre betrachte, so sieht der Zustand der israelischen Legislative düster aus. Immer wieder, in einer langen Liste von Themen, hat die Knesset ihre zentrale Pflicht verletzt, die im Schutz der Bürgerinnen und in der Vertretung der Bürger*innen als Souveräne der Demokratie, besteht. Das Parlament hat grundlegende demokratische Rechte wie Meinungsfreiheit, das Recht auf Gleichstellung und Religionsfreiheit nicht geschützt. Stattdessen wurden eine Reihe gefährlicher, rassistischer, diskriminierender, invasiver und antidemokratischer Gesetze erlassen, die Ausdruck einer Tyrannei der Mehrheit in der israelischen Demokratie sind.

Es sind dieselben politischen Akteure, die einerseits versuchen, den sogenannten (als ‚links‘ verstandenen*) „Aktivismus“ des Obersten Gerichtshofs zu bekämpfen und ihn damit von seiner Aufgabe, Menschenrechte zu schützen, abzuhalten und die andererseits demokratiegefährdende Initiativen und Gesetze entwerfen. Diese Abgeordneten haben den Zusammenhang zwischen Menschenrechten und einer Demokratie und ihren Werten nicht verinnerlicht. Sie haben keinen Rahmen definiert, in dem Menschenrechte unter Umständen beschnitten werden dürften und haben keinerlei Ressourcen zum Schutz von Menschenrechten bereitgestellt. Der Angriff von Likud-Mitgliedern auf den Obersten Gerichtshof und die Versuche, die Macht des Obersten Gerichts zu beschränken und Menschenrechte in Israel zu verletzen, führten dazu, dass das Vertrauen der Öffentlichkeit in Gerichte und ihre Rechtsprechung stark beeinträchtigt wurde.

Auf der positiven Seite sind in den letzten Jahrzehnten eine Reihe zivilrechtlicher Organisationen wie das Zulat-Institut für Gleichstellung und Menschenrechte entstanden, die versuchen, Einfluss auf Entscheidungsträger*innen zu nehmen, rechtliche Reformen voranzutreiben und Gesetze zu erlassen, die den Schutz von Menschenrechten stärken.

Mit welchen Themen wird sich Meretz in der kommenden Legislaturperiode befassen?

Meretz ist eine progressive Partei, die ihre Positionen nicht verwässern darf. Meretz muss Teil der nächsten Regierung sein, ihre Werte einbringen und gemeinsam mit anderen Parteien die israelische Demokratie schützen. Meretz engagiert sich für den Zusammenschluss von jüdischen und arabischen Kräften gegen korrupte messianisch-kahanistische Kräfte, die der Rechtsstaatlichkeit schaden.

Meretz wird sich auch weiterhin für ein Ende der Besatzung und eine politische Lösung mit den Palästinensern einsetzen, gegen die horrenden Lebenshaltungskosten in Israel angehen, die steigenden Wohnungs- und Nahrungsmittelpreise sowie die Monopole und Kartelle, die diese verursachen, bekämpfen.

Meretz steht für religiösen Pluralismus und eine freie Gesellschaft, für Frauenrechte, für Rechte der LGBTQI-Community, für ein besseres Gesundheitswesen, für einen grundlegenden Wandel der Energieversorgung, für dringend notwendige Pläne zur Bewältigung der Klimakrise. All unsere Kämpfe hängen voneinander ab und sind aufeinander bezogen.

Vielen Dank, dass Sie so kurz vor den Wahlen Zeit für unsere Fragen gehabt haben.

Vielen Dank.


[1]Anm. d. Red.: Der für alle verpflichtende Dienst in der Armee verschafft Männern im Vergleich zu Frauen aufgrund der unterschiedlichen Positionen, die für sie traditionell vorgesehen sind trotz einiger Anpassungen in den letzten 20 Jahren immer noch einen Vorteil auf dem Arbeitsmarkt.

[2]Anm. d. Red.: Diese Ausdrücke sind Beispiele für einen teilweise eskalierenden Diskurs in Israel in den letzten Monaten, in denen einige Knessetabgeordnete der Opposition das israelische Rechtssystem, das ihrer Ansicht nach „zu links“ ist, angreifen.