Antisemitismus oder: Die Angst vor der vieldeutigen jüdischen Identität

Analyse

Hinter der Kritik an Israel stecken oft alte antisemitische Muster. Sie äußern sich nicht nur in rechtem, linkem und islamistischem Judenhass. Auch in der Mitte der Gesellschaft wirken sie unbewusst weiter.

Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin

7. Oktober 2023

Wo enden legitime Einwände gegen tatsächliche oder vermeintliche Verfehlungen der israelischen Regierungspolitik, und wo beginnt die affektive oder absichtsvolle Stimmungsmache gegen Juden und ihren Staat? Wo schlägt „Israelkritik“ in Antisemitismus um? Ausgelöst durch das grausame Massaker der Hamas an Zivilisten in Israel und der militärischen Reaktion Israels zur Verteidigung seiner Bürger, haben diese Fragen zusätzlich an kontroverser Schärfe gewonnen. Es sind Fragen, die geradewegs zu den blinden Flecken und Abgründen der westlichen Zivilisation führen. Ihre Beantwortung beginnt mit dem Eingeständnis, dass selbst ein mustergültiger Demokrat nicht gegen stereotype Projektionsbilder immun ist, die sich an „den Juden“ festmachen. Und sie setzt die Einsicht voraus, dass das Wissen über das Judentum und die ideellen und historischen Grundlagen des Staates Israel in unserer vermeintlich so aufgeklärten und von den Verirrungen der düsteren Vergangenheit geläuterten modernen Gesellschaft weit geringer und viel weniger tief verankert ist, als es die offizielle Erinnerungs- und Geschichtsaufarbeitungskultur suggeriert.

Das gilt nicht etwa nur für die „Stammtische“, sondern nicht weniger für die sogenannten gebildeten Schichten. Dieses Wissen wird nach wie vor von Klischees und Stereotypen überlagert, die sich dann als besonders schwer zu identifizieren erweisen und gegen die oft gerade dann besonders schwer zu argumentieren ist, wenn sie im guten Gewissen bester moralischer Absichten geäußert werden.

Schon bei den scheinbar einfachsten Fragen bricht in Gesprächen über Israel oft heftige Verwirrung aus. Was ist „das Judentum“ überhaupt, was macht seine Identität aus? Ist es „eine Religionsgemeinschaft“ wie eine ebenso gängige wie klischeehafte Wendung lautet? Tatsächlich gibt es auch unter den Juden zahlreiche Atheisten und Agnostiker, und sie hören damit doch nicht auf, Juden zu sein. Ist es vielleicht eine Nation? Offenbar nicht; man kann als Jude sehr wohl ein hundertprozentiger, patriotischer Amerikaner, Franzose oder Australier sein und ist damit doch nicht weniger ein Jude, als es ein Israeli ist. Bilden die Juden vielleicht „ein Volk“, eine ethnische oder kulturelle Gemeinschaft? In Israel strömen Juden aus aller Welt zusammen, deren kulturelle Traditionen zum Teil grundverschieden und deren lebensweltliche Konflikte untereinander daher so heftig sind, wie sie in einer offenen, multiethnischen Gesellschaft nur sein können.

Und worauf gründet sich dann der Staat Israel? Auf Religion? Auf Abstammung? Auf Erinnerung an eine gemeinsame Geschichte? Auf die säkularen Werte der Aufklärung und die demokratischen Traditionen der bürgerlichen Revolution? Auf sozialistische Ideale, wie sie der frühe Zionismus hochgehalten hat? Auf das westliche Prinzip der Willensnation? Alle diese Elemente spielen eine Rolle, doch keines definiert das Selbstverständnis Israels hinreichend. Darüber, welche dieser Elemente mehr und welche weniger bestimmend sein sollen, finden in Israel fortlaufend erbitterte Debatten statt.

Diese offene Identitätsfrage ist es, die am Judentum seit jeher verwirrt und herausfordert: dass seine Essenz nicht eindeutig, nicht abschließend definierbar ist. Und dass Israel, das seine Staatlichkeit auf der Basis solcher Uneindeutigkeit behauptet, damit auch die homogenen Identitätsmuster anderer Nationen in Frage stellt. Die Angst vor Auflösung und „Zersetzung“, die durch das Judentum, dieses Urmuster einer heterogenen Identität, ausgelöst wird, war von jeher der Nährboden für das antisemitische Stereotyp.

Dabei ist der Antisemitismus ein doppelter Versuch, sich von dieser unterschwellig bohrenden Beunruhigung zu entlasten. Einerseits betrachtet der Antisemit die jüdische Vieldeutigkeit mit Argwohn und Hass. Ist es nicht der ewig unintegrierbare Jude, fragt sich der Antisemit, der die Bildung einer homogenen Volksgemeinschaft verhindert; ist er es nicht, der durch seinen Anspruch, in dieser Gemeinschaft gleiche Rechte zu genießen, ohne vollständig dazuzugehören, das verwirrende individualistische Prinzip in die geschlossene Gemeinschaft trägt?

Andererseits jedoch ist der Antisemit überzeugt, dass diese Inhomogenität nur eine perfide Täuschung sei, dass es sich beim Judentum in Wahrheit um eine im Geheimen verschworene uniforme Gemeinschaft handele, die diese Homogenität anderen Völkern missgönne und sie daher gezielt zerstören wolle. So projiziert der Antisemitismus die eigene Homogenitätssehnsucht auf das ungreifbare Prinzip „Jude“. Das so erzeugte Zerrbild des Juden ruft er dann zum Kronzeugen für die Legitimität der eigenen Gleichschaltungs- und Säuberungsgelüste auf.

Im „klassischen“ Antisemitismus des späten 19. Jahrhunderts geschah dies unter dem Vorzeichen pseudowissenschaftlicher Rassentheorien. Nach der Diskreditierung der Rassenideologie durch die nationalsozialistische Ausrottungspolitik musste sich aber auch der ideologische Antisemitismus „modernisieren“. Die Vordenker der französischen „Nouvelle Droite“ etwa, die seit den späten 1960er Jahren an einer „Reformation“ des rechtsextremen Gedankenarsenals arbeiteten und aus deren Ideologemen heute die Hauptströmungen der europäische radikalen Rechten schöpfen, traten sogar ausdrücklich als „Freunde“ und Bewunderer der Juden auf. Israel stellten sie als Vorbild eines ethnisch fundierten Staates hin und die Juden als ein homogenes Volk, das über Jahrhunderte hinweg seine „Reinheit“ bewahrt habe. So konnten die Rechtsnationalisten ihre antisemitischen Zersetzungsfantasien über die Verunreinigung völkischer Identität in der Moderne unter Berufung auf das angebliche Vorbild des Judentums weiterverfolgen – das sie zu einer gegen das Gift der Multiethnizität immunen „Volksgemeinschaft“ umgedeutet hatten.

Auf dieser Umdeutung fußt heute der Versuch rechtsnationaler, von Antisemitismus durchtränkter Parteien wie die AfD, sich als besonders eifrige Unterstützer Israels zu profilieren – von dem sie irrigerweise annehmen, es stehe im Krieg gegen „den Islam“, und das sie daher als Vorposten bei der Verteidigung des „christlichen Abendlands“ betrachten. In Wahrheit existiert in Israel eine Religionsvielfalt und -freiheit wie in kaum einem anderen Land der Welt. Unglücklicherweise wird die ideologische Verzerrung der israelischen Realität durch europäische völkische Theoretiker heute jedoch auch von Teilen der israelischen nationalen Rechten absorbiert. Auf der Basis eines gemeinsamen ethnisch-nationalistischen Staatsverständnisses kam es von dieser Seite zu einer Annäherung an semiautoritäre Regierungen wie der Viktor Orbans und an das autoritäre Regime Wladimir Putins.

Es ist erschreckend, dass in der gegenwärtigen Epoche der Transformation der Nationalstaaten in supranationale Gebilde mit ethnisch heterogenen Staatsvölkern, die überkommenen verschwörungsmythologischen Phantasmen des Antisemitismus wieder massiv wachgerufen werden – so im Biotop der Corona-Leugner und Impfgegner, die in der Virus-Pandemie nichts als eine Geheimoperation im Verborgenen agierender „Eliten“ erkennen wollen. In ihren Reihen mischen sich völkisch-nationalistische Irrationalisten mit esoterischen Lebensreformmystikern unterschiedlicher Spielarten – eine Kombination, die an zivilisationskritische Bewegungen des frühen 20. Jahrhunderts erinnert, als in einer Art antiliberaler Ursuppe deutschtümelnd-rassistische, sozialromantisch-anarchistische und freireligiös-schwärmerische Strömungen noch nicht deutlich geschieden waren.

Was verallgemeinernd und tendenziell verharmlosend als „Rechtspopulismus“ bezeichnet wird, ist nicht zuletzt Ausdruck kollektiver Verunsicherung angesichts neuester, in vielerlei Hinsicht unwägbarer Umbrüche und Veränderungsprozesse. Es scheint fast zwangsläufig, dass im Zuge der dadurch ausgelösten Fluchtbewegung in altes Homogenitätsdenken die überkommene Verdachtsstruktur gegen den undurchschaubaren, nicht fassbaren „Juden“ reaktiviert wird.

Freilich existiert der Antisemitismus als geschlossenes, ideologisch verhärtetes Welterklärungsmodell im Westen nur noch im äußersten extremistischen Spektrum, im rechtsradikalen und neonazistischen ebenso wie – aktuell am gefährlichsten – im islamistischen Milieu. Versatzstücke, die der antisemitischen Tradition entstammen, flottieren aber frei und sind weithin, bis in die ehrbare politische Mitte, bei Alt und Jung, oft unterschwellig wirksam. Etwa das Klischee vom angeblichen Selbstverständnis der Juden als einem „auserwählten Volk“ – das vom antisemitischen Ressentiment fälschlicherweise so ausgelegt wird, als verbinde sich damit die Herabsetzung anderer Völker als minderwertig. Woraus die Schlussfolgerung gezogen wird, das Judentum sei ja schon von seinem Ursprung her „rassistisch“. Und Israel exekutiere diesen „Rassismus“ heute an den Palästinensern. Wobei hierzulande die Kritik am Terrorismus der Hamas sowie an der unterdrückerischen und korrupten Herrschaftspraxis der palästinensischen Führung in den zurückliegenden Jahren mit ungleich geringerem Eifer betrieben wurde als die am jüdischen Staat.

Von links wird verstärkt der Antirassismus und die defizitäre Aufarbeitung der europäischen kolonialistischen Vergangenheit ins Feld geführt, um unterschwellige Affekte gegen die angebliche Vorzugsbehandlung von Israel und den Juden unter dem Vorzeichen der Holocaust-Erinnerung zu schüren. Diese Bestrebungen, den Juden ihre vermeintliche Sonderrolle als Opfer des ultimativen Verbrechens streitig zu machen, beschränkt sich dabei nicht auf die extreme Linke. Auch in der linksliberalen Mitte wurden zuletzt die Stimmen lauter, die eine „einseitige“ Fixierung auf den Kampf gegen den Antisemitismus und auf das Holocaust-Gedenken kritisieren – und diese implizit dafür verantwortlich machen, dass dem Problem der Geschichte und der Gegenwart des Rassismus, ob gegen Schwarze oder Muslime, nicht die gebotene Aufmerksamkeit geschenkt werde. Zurecht erkennen Beobachter wie der Essayist Thierry Chervel darin eine subtile Holocaust-Relativierung von links.

Deutsche Fallstricke

In Deutschland weist das Sprechen über Israel nach wie vor seine besonderen Fallstricke auf. So impliziert die Rede von der „besonderen Verantwortung“ des heutigen demokratischen Deutschland für den jüdischen Staat unterschwellig, das Land der Täter, das aus seiner unheilvollen Geschichte die richtigen Lehren gezogen zu haben glaubt, besäße auch eine besondere Verpflichtung, den jüdischen Staat zur Ordnung zu rufen, wenn er seinerseits auf Irrwege zu geraten droht.

Andererseits erinnert die hierzulande häufig zu hörende Ermahnung, „gerade in Deutschland“ und „als Deutscher“ dürfe man dieses oder jenes nicht über Juden und Israel sagen, an die Haltung eines furchtsamen Hausvaters, der den Streit in der Familie mit dem Hinweis ersticken will, was denn die Nachbarn denken sollen. Sie suggeriert damit untergründig, dass die israelfreundliche Haltung Deutschlands gar nicht authentisch sei – dass man sich vielmehr über den jüdischen Staat anders äußern würde, wäre man nicht durch historische Schuld belastet. So reizen diese Beschwichtigungsversuche ungewollt erst recht die Lust latenter Antisemiten, ihrem antijüdischen Ressentiment freien Lauf zu lassen.

Israel gegen alle Angriffe auf sein Existenzrecht und auf das Lebensrecht seiner Bürger vorbehaltlos zu verteidigen, müsste für freiheitsliebende Deutsche – nicht weniger als für Amerikaner, Franzosen oder Briten – schon deshalb eine Selbstverständlichkeit sein, weil es sich bei Israel um eine Demokratie mit westlichen rechtsstaatlichen, pluralistischen Standards handelt, und weil der Angriff auf die israelische Bevölkerung somit mittelbar auch ein Angriff auf uns selbst ist. Dass die israelische Demokratie heute ähnlichen inneren Gefahren ausgesetzt ist wie die vieler anderer westlicher Länder sollte uns in dieser Solidarität unter Demokraten noch bestärken. Herausforderungen wie die bedrohlich wachsende politisch-gesellschaftliche Polarisierung und Bestrebungen neoautoritärer Strömungen, den Rechtsstaat auszuhebeln, die auch in Israel massiv zu beobachten sind, betreffen alle demokratischen Nationen, und können nur von ihnen gemeinsam gemeistert werden.

In diesem Bewusstsein kann man Israel kritisieren wie jedes andere befreundete Land. Einigermaßen qualifizierte Kenntnisse der realen Verhältnisse sowie der Zwänge und Nöte des jüdischen Staats dürften der Qualität solcher Kritik freilich nicht zum Nachteil gereichen.

So sehr sich die deutsche Gesellschaft auch rühmen mag, ihre Vergangenheit aufgearbeitet zu haben – immer wieder stößt man auf eklatante Lücken in der kollektiven Erinnerung und auf mehr oder weniger subtile Formen der Verdrängung. Sie finden sich aufseiten der politischen Rechten ebenso sehr wie der Linken.

So gefällt man sich im konservativen Spektrum angesichts aktueller antisemitischer Krawalldemonstrationen mit muslimischem Hintergrund neuerdings darin, von einem „importierten Antisemitismus“ zu sprechen – womit suggeriert werden soll, in Deutschland sei der Antisemitismus bereits überwunden gewesen, bevor man zu viele Fremde ins Land gelassen habe. Doch nicht nur, dass das Gros derjenigen, die aktuell auf deutschen Straßen ihrem Judenhass Luft machen, deutsche Staatsbürger respektive hier geborene oder aufgewachsene Angehörige der zweiten oder dritten Einwanderergeneration sind – auch der islamistische Antisemitismus, wie er uns bis heute entgegentritt, steht in einem engen Bezug zur europäischen und insbesondere der deutschen Geschichte.

Zwar gibt es zweifellos eine lange Tradition originär islamischer Judenfeindschaft. Doch zur Herausbildung eines eliminatorischen Antisemitismus islamistischer Prägung kam es erst, als der politische Islam in den 1920er und 1930er Jahre ideologische Anleihen bei dem europäischen Faschismus und insbesondere dem deutschen Nationalsozialismus nahm. Die Historiker Jeffrey Herf („Nazi Propaganda for the Arab World”, 2009)und Matthias Küntzel („Nazis und der Nahe Osten. Wie der islamische Antisemitismus entstand“, 2019) haben gezeigt, welch prägenden und nachhaltigen Einfluss die speziell an die arabische Welt gerichtete antisemitische NS-Kriegspropaganda auf den radikalen Islam ausgeübt hat.

Wenn wir heute von Judenhass reden, der – wesentlich mittels arabischer, iranischer und türkischer Propagandanetzwerke – nach Deutschland hineingetragen wird, sollten wir also eher von einem „reimportierten“ statt von einem „importierten“ Antisemitismus sprechen. Auch in seiner islamistischen Variante ist der Antisemitismus ein Erbe der deutschen Vergangenheit, das wir nicht einfach beiseiteschieben können. Dasselbe gilt aber auch für die linke Spielart der Judenfeindschaft, die viel zu lange unterschätzt und heruntergespielt wurde.

Eine Art Arbeitsteilung beim Antisemitismus

Dass sich die berühmte Philosophin Judith Butler und zahlreiche andere prominente westliche Linksintellektuelle gegenüber der  massenmörderischen Hamas – um es gelinde zu sagen – ambivalent positionieren, ist schockierend. Wirklich überrascht sein kann davon jedoch nur, wer Antisemitismus noch immer ausschließlich auf der politischen Rechten verortet. In Wahrheit jedoch ist Judenfeindschaft, die sich heute vor allem in der obsessiven Verdammung Israels äußert, in der linken Ideologiegeschichte tief verankert.
Sie geht bereits auf die Blütezeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert zurück. Denn nicht nur Vertreter der feudalen und klerikalen Reaktion, auch bedeutende Aufklärer wie Voltaire hegten heftige antijüdische Ressentiments – freilich aus dem umgekehrten Motiv wie die Verteidiger der alten Ordnung. Aufseiten der Gegenaufklärung ging der traditionelle christliche Antijudaismus nahtlos in die Anklage über, die Juden seien als „zersetzendes“, wurzelloses Element für die Auflösung der „natürlichen“ hierarchischen Ordnung der Gesellschaft verantwortlich. Aufklärer wie Voltaire hingegen bezichtigten das Judentum, starrsinnig an einem archaischen Gottesglauben festzuhalten und damit eine Quelle des antiaufklärerischen Obskurantismus zu sein.

Es zeichnete sich damit eine Art „Arbeitsteilung“ in Sachen Judenfeindschaft ab: Der Rechten galt das Judentum forthin als Urheber und Motor der verhassten aufklärerischen Moderne, vielen Linken hingegen ein Hort der den historischen Fortschritt blockierenden Antimoderne. Dabei haben die Juden ihre staatsbürgerliche Gleichstellung im Zuge der Französischen Revolution zweifellos dem Geist der Aufklärung zu verdanken. Doch vielfach wurde die Gewährung dieser Gleichstellung mit der Erwartung verbunden, nach ihrer Befreiung aus dem Ghetto würden sich die Juden über kurz oder lang von ihrer jahrtausendealten religiösen und kulturellen Identität verabschieden.
Dass dies nicht geschah, führte zu verstärkten Aversionen gegen den jüdischen „Partikularismus“ auch im „fortschrittlichen“, linken Lager. Die erste rassenantisemitische Organisation in Deutschland – die „Antisemitenliga“ – wurde 1879 von einem Radikaldemokraten der äußersten Linken gegründet, dem Publizisten Wilhelm Marr. Der französische Frühsozialist Pierre-Joseph Proudhon hatte schon Jahre zuvor sogar die physische Ausrottung der Juden propagiert. Ein derartiger eliminatorischer Antisemitismus lag Karl Marx zwar fern. Doch in seiner Abhandlung „Zur Judenfrage“ (1843) setzte er das Judentum mit dem Kapital gleich und schlussfolgerte, mit der Aufhebung der Kapitalherrschaft werde sich auch das Judentum auflösen.

Die Assoziation von Juden und Geldwirtschaft machte die Linke anfällig für die antisemitische Wahnvorstellung, hinter den Machenschaften des „internationalen Finanzkapitals“ steckten jüdische Drahtzieher. Nach der Gründung des Sowjetstaats kam der Verdacht hinzu, die Juden fungierten als wurzellose Agenten des ausländischen Klassenfeinds, denen es an Loyalität gegenüber dem sozialistischen Vaterland und der in ihm angeblich herrschenden proletarischen Klasse fehle. Die letzte von Stalin geplante große Säuberung sollte die Juden wegen ihres vermeintlich zersetzenden „Kosmopolitismus“ treffen.
Hatte die Sowjetunion der Gründung des Staates Israel 1948 zunächst positiv gegenübergestanden, weil sie in ihm einen potenziellen „antikolonialistischen“ Verbündeten vornehmlich gegen das britische Empire vermutete, änderte sich dies schlagartig, als sich der jüdische Staat den westlichen Demokratien zuwandte und der aufkommende arabische Nationalismus den Kommunisten als lukrativerer Alliierter gegen den „US-Imperialismus“ erschien. Als dessen „Speerspitze“ im Nahen Osten wurde nun Israel denunziert – was mit heftigen antisemitischen Verfolgungen im Ostblock verbunden war.
Diese fielen in der DDR zwar weniger offen und drastisch aus als in den „sozialistischen Bruderländern“ wie der Tschechoslowakei, wo in einem Schauprozess 1952 elf meist jüdische Parteifunktionäre als „trotzkistisch-titoistisch-zionistische Verschwörer“ zum Tode verurteilt und anschließend hingerichtet wurden. Dafür tat sich das SED-Regime jedoch mit besonderem Eifer bei der Bekämpfung Israels hervor – des Staats, der den Juden nach dem Holocaust Schutz und Zuflucht garantierte.

Die Unterstützung von besonders radikal israelfeindlichen arabischen Regimes wie denen Syriens und des Irak sowie verschiedener palästinensischer Terrororganisationen durch die DDR umfasste logistische Hilfestellung, Ausrüstung und Ausbildung von Militär und Geheimdiensten. Die SED-Führung störte dabei nicht, dass arabische Regimes, die Israel auslöschen wollten, keinen Hehl aus ihrer Bewunderung für Hitler und die NS-Judenvernichtung machten – und Syrien Alois Brunner, dem nach Adolf Eichmann international meist gesuchten SS-Judenmörder, Unterschlupf gewährte. In ihr vorgeblich „antinazistisches“ Weltbild eingepasst wurde dies alles von den Sowjets und ihren Ostberliner Satrapen, indem sie den Zionismus kurzerhand zu einer Form des „Rassismus“ und „Faschismus“ erklärten.>

Doch nicht nur moskautreue Kommunisten, auch große Teile der aus der Achtundsechziger-Bewegung hervorgegangenen radikalen Linken machten sich das Feindbild Israels als dem „imperialistischen“ Stachel im Fleisch der arabischen Welt zu eigen. Ihre enge Allianz mit palästinensischen „Befreiungsorganisationen“ führte deutsche Linksterroristen dazu, in den 1970er Jahren gezielt Anschläge auf jüdische Einrichtungen und Menschen zu verüben. Das gute Gewissen, dass sich diese angeblichen „Antifaschisten“ dabei machten, bezogen sie aus der Legende, ein Linker könne per definitionem kein Antisemit sein.
 

Heutige „postkoloniale“ Linke wie Judith Butler setzen diese verhängnisvolle Tradition fort. Indem sie das wahllose Töten von israelischen Zivilisten durch die Hamas zwar nicht gutheißen, aber doch in den Kontext eines legitimen „palästinensischen Widerstands“ stellen und damit relativieren, liefern sie nichts weniger als eine indirekte ideologische Legitimation für Judenmord. Das Hamas-Pogrom vom 7. Oktober 2023, die größte antijüdische Mordaktion seit der NS-„Endlösung“, hat Abgründe des Antisemitismus aufgerissen – von denen sich jetzt zeigt, dass sie so tief und breit sind wie eh und je.