Türkische Frauen nach dem Erdbeben: Verlorene Sicherheit in neuer Heimat

Hintergrund

Mit dem verheerenden Erdbeben in der Türkei und Syrien vor einem Jahr verloren viele Tausende Frauen nicht nur ihr Haus, sondern auch Schutz- und Freiheitsräume. Die Wohnungsbaupolitik in der Türkei droht diesen Verlust zu zementieren.

Mit diesem Artikel beginnt das Büro Istanbul der Heinrich-Böll-Stiftung eine kleine Reihe von Artikeln zum ersten Jahrestag des Erdbebens in der Türkei und Syrien vom 6. Februar 2023 in Zusammenarbeit mit Bianet.

Nach den Erdbeben vom 6. Februar 2023 kündigte die staatliche Wohnungsbaubehörde Toplu Konut İdaresi Başkanlığı (TOKI) an, dass etwa 20 Kilometer außerhalb des Stadtzentrums von Diyarbakir 6.887 Häuser für Menschen zu bauen, deren Häuser durch das Erbeben zerstört oder aus Sicherheitsgründen nicht mehr bewohnbar sind.

Ein klassisches TOKI-Haus ist mehrere Stockwerke hoch, bietet Platz für hunderte Menschen und steht - wie kaum sonst etwas in der Türkei -, für die Modernisierung und Urbanisierung des Landes. Sie versprechen moderne Apartments, Zentralheizung, fließend Wasser. Hunderttausende dieser Häuser schossen in den letzten Jahren im ganzen Land aus dem Boden. Die Baubehörde behauptet, dass die neuen Wohnhäuser außerhalb der Stadt unter Berücksichtigung der kulturellen, soziologischen und demografischen Gegebenheiten der Bevölkerung aus Diyarbakir gebaut würden. Sowohl Experten als auch Teile der Bevölkerung glauben nicht, dass das stimmt.

TOKI-Häuser: Verlust der Zwischen-Räume

Die Soziologin Mihriban İlbaş vom türkischen Frauenstaatsverband beschäftigt sich mit den Auswirkungen der TOKI-Häuser auf das Alltagsleben von Frauen. Zunächst stellt sie fest: Die vom Erdbeben betroffenen Frauen tragen eine große Last des Umsiedlungsprozesses und bekommen die sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen besonders hart zu spüren. Sie müssen aus den Vierteln wegziehen, in denen sie geboren oder aufgewachsen sind, die sie kennen, und wo sie Teil der Gesellschaft sind.

Dazu kommen genderspezifische Auswirkungen. Die Bevölkerung in der Region Dyarbakır ist mehrheitlich kurdisch, lebt in großen Familien und traditionellen bis konservativen sozialen Strukturen.Ein Umzug in ein TOKI-Gebäude bedeute für viele Frauen in konservativen Regionen eine Einengung, denn ihr soziales Leben und ihre Beziehungen zu Gleichaltrigen und Freunden würden erheblich beeinträchtigt, erklärt İlbaş.

In der Studie, „Die Straße im Haus, das Haus in der Straße“, befassen sich Funda Şenol Cantek, Çağla Ünlütürk Ulutaş und Sermin Çakmak, damit, wie sich Frauen in konservativen Regionen im Kleinen Freiräume schaffen. "Die Türschwelle, der Balkon, die Umgebung des Hauses oder die Fensterfront sind Zwischenräume; dort kann die von der patriarchalen und konservativen Kultur auferlegte Kontrolle des weiblichen Körpers im Rahmen der Privatsphäre teilweise gelockert werden. Geprägt von patriarchalen und religiösen Normen und der Armut, spielt sich der Alltag der Frauen in solchen Räumen ab, die Möglichkeiten des Innen- und Außenlebens bieten", erläutert die Studie. Diese Zwischen-Räume gibt es in den TOKI-Gebäuden nicht mehr. Die Männer sind dagegen nicht an die eigene Wohnung gebunden. Für ihre Bedürfnisse gibt es Restaurants und Cafés. Männer leben selbstverständlich vor der Haustür, können sich im öffentlichen Raum bewegen. Darüber hinaus unterscheide sich die Anonymität der TOKİ-Häuser von den vertrauten Vierteln, in denen sich die Bewohner kennen. Dort bestehe ein sozialer Zusammenhalt, der Frauen Sicherheit und gesellschaftliche Teilnahme ermögliche, so İlbaş. Zudem fehle es in den TOKI-Gebäuden an Sicherheitsmaßnahmen, so dass sich die Frauen unsicher fühlen.

Schlechte Erfahrungen

Das Misstrauen der mehrheitlich kurdischen Bürger Diyarbakirs gegenüber der Bauoffensive der türkischen Regierung ist groß. Der Grund: Es ist nicht die erste Umsiedlungsaktion, die die Kurd:innen jetzt nach dem Erbeben erleben. 2015 scheiterte der Friedensprozess zwischen der auch in Deutschland verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der Regierung von Recep Tayyip Erdoğan. In Diyarbakirs Altstadt erhoben sich kurdische Rebellen gegen den türkischen Staat und erklärten ihre Viertel zu „autonomen Zonen“. Es brachen schwere Kämpfe aus, wie immer wieder in den letzten Jahrzehnten. Hunderte Menschen wurden getötet, Tausende wurden vertrieben.

Hamide Ayaz lebte damals in Diyarbakirs Altstadt und spricht über die Odyssee der ständigen Umsiedelungen. Ihr Stadtviertel Sur wurde durch die Kämpfe besonders schwer beschädigt. „Als ich ein Kind war, zogen wir nach Sur, nachdem unser Heimatdorf niedergebrannt wurde“, sagt Hamide Ayaz. „Ich habe dort geheiratet und dort meine Kinder zur Welt gebracht“. In ihrer Freizeit ging sie ans Tigris-Ufer zum „Atmen“, wie sie sagt, oder in die Hevsel-Gärten, eine fruchtbare Region am Rande Diyarbakirs, die seit 2013 auf der UNESCO-Welterbe-Liste steht. Nach den Kämpfen und dem klaren Sieg des türkischen Militärs wurden tausende Menschen umgesiedelt. Die Altstadt wurde verstaatlicht, abgerissen und mit Neubauten und Parks bestückt. Auch Hamide Ayaz musste gehen. Ihrer Familie gelang es, ein Haus am Stadtrand von Diyarbakir zu kaufen. Sie verschuldeten sich, aber Hamide lebte sich, wie damals in Sur, in der neuen Umgebung ein und integrierte sich in die Nachbarschaftsgemeinde. Doch auch dieses Zuhause ist nun nicht mehr. Das Erbeben vom 6. Februar beschädigte ihr Haus, sie musste es verlassen. Und anders als früher fehlen die Mittel für einen Neuanfang. Und so wartet, wie tausende Menschen mit ihr, auch Hamide Ayaz auf die Fertigstellung eines TOKI-Hauses außerhalb Diyarbakirs.

Fortsetzung der Traumata

Viele der Häuser, die beim Erdbeben beschädigt oder zerstört wurden, waren nach den Zwangsumsiedlungen der Kurd:innen aus den Dörfern in den 1990-er Jahren hochgezogen worden. Auch das waren TOKI-Gebäude, wie Selma Aslan, Co-Vorsitzende der Architektenkammer von Dyarbakır, erläutert. Alle von TOKİ im Rahmen der Stadtumgestaltung vor und nach dem Erdbeben errichteten Bauwerke liegen außerhalb der Stadt „TOKİ betrifft alle, Frauen, Kinder, ältere Menschen, Männer – eigentlich alle Vertriebenen. Angesichts der Bedingungen in den kurdischen Städten erlebten diese Menschen ein Trauma nach dem anderen. Wir können sagen, dass TOKİ-Häuser eine andere Form von Traumata sind.“


Eine vorherige Fassung dieses Artikels erschien im türkischen Newsportal Bianet im Rahmen eines Projekts mit Reporter Ohne Grenzen und der Universität Oslo.
Bearbeitung: Leon Koss und Dawid Bartelt (verantw.).