Der American Dream im Jahr 2010

Die Glaubwürdigkeit des "American Dream" leidet, seit Reiche immer reicher und die Chancen der Ärmeren, es zu etwas zu bringen durch strukturelle Veränderungen immer geringer wurden. Foto: Jeremy Brooks Dieses Bild steht unter einer Creative Commons Lizenz.

21. Oktober 2010
Von Belinda Cooper
Der Amerikanische Traum findet in aller Welt Widerhall. Mein Vater verwirklichte ihn, wie viele andere Einwanderer auch. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam er mit so gut wie nichts in den USA an, hatte mit Diskriminierung und schweren Zeiten zu kämpfen, und konnte sich dennoch in einem schlecht bezahlten aber sicheren Job nach oben arbeiten, ein Haus und ein Auto kaufen, seine Kinder aufs College schicken und mit einer anständigen Rente in den Ruhestand gehen.

Zwar ist der Ausdruck „Amerikanischer Traum“ recht neu, die Vorstellung, man könne es aus eigener Kraft zu etwas bringen, hat in den USA aber eine lange Tradition. Die Hoffnung, man könne aufsteigen, seines eigenen Glückes Schmied sein, ist eine in allen Teilen der amerikanischen Bevölkerung tief verwurzelte Vorstellung. Lebt dieser Traum heute unter der Regierung von Barack Obama noch fort?


Glaubwürdigkeit verloren

Die Wirtschaftskrise der vergangenen Jahre hat sich sehr stark auf die soziale Mobilität in den USA ausgewirkt. Und das sowohl im Hinblick auf die Fakten, wie auch im Hinblick darauf, wie Amerikaner diese Fakten wahrnehmen. Veränderungen, die seit spätestens den 1980er Jahren stattfinden, beispielsweise die immer größer werdende, dramatische Kluft zwischen Spitzen- und Geringverdienern, hat die Krise besonders deutlich hervortreten lassen. Zwar versucht Obama, eine Reihe von Maßnahmen umzusetzen, durch die der Amerikanische Traum wieder an Glaubwürdigkeit gewinnen mag, kurzfristig kann er jedoch an der Situation nichts ändern.

Natürlich haben US-Amerikaner, im Vergleich zu Europäern, ein ganz anderes Konzept davon, wofür eine Regierung da ist und wie es um das Verhältnis zwischen Individuum und Regierung bestellt ist. Der Regierung zu misstrauen und ganz auf die Anstrengung des Einzelnen zu setzen, ist ein grundlegendes amerikanisches Prinzip. Angesichts von Problemen, rufen Amerikaner in der Regel nicht nach dem Staat, sondern geben unzureichenden individuellen Anstrengungen die Schuld. Dahinter steht die Annahme, jeder müsse für sich das Beste aus den in den USA vorhandenen Möglichkeiten machen. Diese Auffassung wird häufig in Bezug auf andere vertreten, das heißt, Armut wird oft als Folge von Faulheit oder von anderen kulturellen Faktoren und nicht als Folge struktureller Ungleichheiten aufgefasst. Jedoch wenden US-Amerikaner dieses Prinzip auch in einem überraschenden Ausmaß auf sich selbst an, wie unlogisch das für Außenstehende auch immer zu sein scheint.

Diese Sicht auf den Staat kann widersprüchlich, kann verlogen sein: Bestimmte Regierungsgelder, beispielsweise Social Security, Medicare (Krankenversicherung für Alte) und Programme für ehemalige Militärangehörige, werden in einem Maße als gegeben angesehen, dass mancher vergisst, dass es sich dabei um Regierungsgelder handelt. Dies zeigte sich, als in der Diskussion über die Reform der Krankenversicherung als Demonstranten älteren Semesters medienwirksam von der Regierung forderten „ihre Finger von Medicare zu lassen“. Und Bundesstaaten, die, wie Alaska, besonders lautstark betonen, sie könnten sehr gut für sich selbst sorgen, sind nicht selten Empfänger ungewöhnlich hoher Regierungszuschüsse. Trotz dieser Einschränkungen ist die grundlegende Vorstellung, jeder müsse in erster Linie für sich selbst sorgen, weitverbreitet und ein fester Teil dessen, was die USA ausmacht.


Mittlere und untere Schichten steigen ab

Der Abschwung hat die Diskussion über die Rolle des Staates – und damit auch die über den Amerikanischen Traum – stark und in oft widersprüchlicher Weise beeinflusst. Die simple Faustregel, die besonders nach Ende des Zweiten Weltkriegs starke Verbreitung fand, nämlich dass eine gute Ausbildung und harte Arbeit es jeder Generation möglich machen, besser zu leben als die vorhergehende und so auch Arbeiter in den Genuss einer Mittelstandsexistenz kommen können, funktioniert für gebürtige US-Amerikaner heute nicht mehr. Die mittleren und unteren Schichten befinden sich seit Jahren auf dem absteigenden Ast, eine Entwicklung, die spätestens unter Ronald Reagan begann, als Zuschüsse gekürzt, Eingriffe in den Markt zurückgenommen und Steuern für Wohlhabende zusammengestrichen wurden. Diese Verschiebungen haben nicht nur dazu geführt, dass die Reichen reicher wurden, durch strukturelle Veränderungen wurden auch die Chancen der Ärmeren, es zu etwas zu bringen, geringer.

Die festen Jobs fürs Leben, mit denen man eine ganze Familie ernähren kann, sind rar geworden. Nach dem produzierenden Gewerbe hat auch die Dienstleistungsbranche mehr und mehr Jobs ins Ausland verlagert. Das Bildungswesen hat unter Mittelkürzungen stark gelitten, und die Kosten für einen höheren Abschluss, in der Regel die Voraussetzung dafür, es zu etwas zu bringen, haben sich enorm erhöht. Besonders stark hat sich dies auf die Minderheiten ausgewirkt. Heute sind zwei berufstätige Elternteile die Regel. Die Möglichkeit, arbeiten zu können, war sicher ein großer Fortschritt für Frauen. Dass es jedoch heute unabdingbar ist, über zwei Einkommen zu verfügen, ist für viele Familien eine große Belastung. Untersuchungen haben gezeigt: Einige europäische Staaten haben inzwischen die USA in Sachen sozialer Mobilität überholt.

Zwar sind diese Entwicklungen nicht neu, aber die aktuelle Wirtschaftskrise dürfte nicht nur die Realitäten verändert haben, sondern auch die Art und Weise, wie sie wahrgenommen werden. Viele US-Amerikaner mussten erfahren, dass die üblichen Wege des Aufstiegs heute nicht mehr funktionieren, dass es oft nicht mehr möglich ist, in die Mittelschicht aufzusteigen oder Teil der Mittelschicht zu bleiben. Heute kämpfen viele US-Bürger, sieht man von den Allerreichsten ab, in erster Linie ums Überleben. Viel Raum für Träume bleibt da nicht. Die Hoffnung auf eine bessere Zukunft, die so lange den Aufstieg der USA befeuert hat, ist heute Mangelware.


Protest, damit der Amerikanische Traum wieder möglich wird

Dieser Mangel an Hoffnung gehört zu den Ursachen der Wut, die sich in der Tea-Party-Bewegung ausdrückt. Diese Wut hat etwas spezifisch Amerikanisches. Einerseits wollen Amerikaner, dass die Regierung etwas tut, ihnen hilft, der Wirtschaft unter die Arme greift und Arbeitsplätze schafft – das heißt, dass die Regierung Maßnahmen trifft, die eine Art von Amerikanischem Traum wieder möglich machen. Andererseits hat aber das traditionelle Misstrauen gegen alles, was die Regierung tut, dazu geführt, dass sich viel Wut gegen solche Maßnahmen richtet, mit denen die Regierung von Barack Obama versucht, die Krise abzufedern. Neben den Stützungsmaßnahmen für die Finanzbranche, die am meisten beachtet werden und gegen die sich der größte Protest richtet, hat die Regierung auch ein Konjunkturpaket verabschiedet, durch das dringend notwendige Infrastruktur langfristig repariert bzw. ausgebaut wird, sie hat die Vergabe von Studienkrediten neu geregelt und, mit der Reform der Krankenversicherung, versucht, die hohen Ausgaben, die diese für Menschen mittleren und geringen Einkommens bedeutet, in den Griff zu bekommen. Dennoch und widersprüchlicherweise bleibt die Regierung das Ziel von lautstarken Protesten (die, zugegeben, finanziell wie ideologisch von gewissen Interessengruppen gefördert werden). Dass die Regierung von Barack Obama auf diese Proteste keine klare Antwort findet, könnte weitere Amerikaner den Glauben an staatliche Lösungen verlieren, sie in Apathie versinken lassen. Wie sich dies auf die im Herbst anstehenden Kongresswahlen auswirken wird, bleibt abzuwarten.

Unter allen Amerikanern sind es immer noch die Einwanderer, die vom Amerikanischen Traum am meisten profitieren. Für Menschen, die vor wirtschaftlicher Not oder politischer Verfolgung fliehen, bieten die USA immer noch viele Möglichkeiten und eröffnen die Chance, es zu etwas zu bringen. Harte Arbeit kann sich hier immer noch auszahlen. Das mag ein Grund dafür sein, warum sich derzeit viel Wut gegen Einwanderer, speziell gegen Mexikaner richtet. In dem Maße, in dem US-Amerikaner den Glauben an ihren eigenen Amerikanischen Traum verlieren, machen sie dafür diejenigen zum Sündenbock, die von ihm nach wie vor profitieren.

Aus dem Englischen übersetzt von Bernd Herrmann.
(Dank geht an Jeremiah Riemer)

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Die Autorin Belinda Cooper ist Senior Fellow beim World Policy Institute. Sie ist dort unter anderem für die Themen Geschichte und Frauenrechte zuständig.

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