Vom multikulturellen Klassenzimmer zum multikulturellen Lehrerzimmer

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Podium: Christine Lüders, Cem Özdemir, Martin Spiewak, Yasemin Karakasoglu, Viola Georgi
Mehr Pädagoginnen und Pädagogen mit Migrationshintergrund – inzwischen rufen nicht nur Soziologie und Bildungsforschung danach, auch die Bundesregierung hat diesen Satz in ihr neues Integrationsprogramm mit aufgenommen. Die Rechnung scheint einfach: Gibt es mehr Lehrerinnen und Lehrer mit ausländischen Wurzeln, funktioniert auch die Integration besser. Denn die machte bisher vor allem vor den Türen der Schule halt. Gerade einmal ein bis zwei Prozent aller Lehrenden haben eine Zuwanderungsgeschichte in ihrer Biografie. Unter den Schülerinnen und Schülern sowie in der Gesamtbevölkerung stellt diese Gruppe aber mittlerweile ein Fünftel.

Doch warum unterrichten so wenige Pädagoginnen und Pädagogen mit Migrationshintergrund an deutschen Schulen? Wie beschreiben diese wenigen ihren Bildungsweg hin zum Lehrerberuf? Und kann eine Erhöhung dieser Gruppe wirklich als Allheilmittel für eine erfolgreiche Integrationspolitik dienen?

Es sind drängende Fragen, die sich Vertreterinnen und Vertreter aus Forschung, Politik und Bildungspraxis am 24. September auf der Konferenz „Vom multikulturellen Klassenzimmer zum multikulturellen Lehrerzimmer – Potentiale und Grenzen internationaler Schulentwicklung“ in der Heinrich-Böll-Stiftung stellten. Anlass der ganztägigen Konferenz waren erste Ergebnisse der aktuellen Studie „Lehrende mit Migrationshintergrund in Deutschland“, ein Forschungsprojekt der Freien Universität Berlin (FU), das gemeinsam von der Hertie-Stiftung und der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius gefördert wird.

Ziel müsse es sein, den Bildungserfolg von Migrantinnen und Migranten zu sichern, sagte Viola Georgi, FU-Professorin und Leiterin des Forschungsteams der Studie, und legte damit zugleich das Diskursfeld der Veranstaltung fest. Georgis einleitende Analyse des deutschen Bildungssystems fiel düster aus: Sie diagnostizierte eine diskriminierende Selektion in deutschen Klassenzimmern und einen immensen Erwartungsdruck, der auf den wenigen Lehrenden mit Migrationshintergrund laste – eine Bestandsaufnahme, der die Konferenzteilnehmer aus Wissenschaft, Politik und Bildungspraxis in den anschließenden Podiumsgesprächen nur zustimmen konnten.

Große Unbekannte

Die Studie „Lehrende mit Migrationshintergrund in Deutschland: Eine empirische Untersuchung zu Bildungsbiographien, professionellem Selbstverständnis und schulischer Integration“, die im Frühjahr 2011 im Verlag Waxmann erscheint, stößt in eine Forschungslücke. Obwohl die Schieflage im deutschen Bildungssystem hinsichtlich von Migranten längst bekannt ist, existieren in Deutschland bisher kaum wissenschaftliche Arbeiten dazu. Anders im angelsächsischen Raum: Wie auch die Referentinnen und Referenten aus Kanada und Großbritannien zu berichten wussten, gibt es dort zahlreiche Studien zur Repräsentation von „minority teachers“, ihren Aufstiegsbiografien und ihrer Rolle als mögliche Vorbilder und „change agents“, die Vorurteile gegenüber Minderheiten abbauen und Rassismus an der Schule bekämpfen können.

Viola Georgi und ihr Forscherinnenteam, bestehend aus Lisanne Ackermann und Nurten Karakaş, haben einige dieser offenen Fragen nun aufgenommen. Sie erhoben bei 200 Lehrenden mit Migrationshintergrund Daten zu ihren Berufsbiografien und Motivationen, zu ihrem Verhältnis zu Schülerinnen, Schülern und Eltern sowie ihrem professionellen Selbstverständnis. Mit 60 von ihnen führten sie darüber hinaus vertiefende qualitative Interviews. Eine Befragung einer Kontrollgruppe von rein deutschen Lehrerinnen und Lehrern (oder bio-deutschen, wie Cem Özdemir provokant in die Debatte warf) fehlt bislang leider. Ebenso die Perspektive von Kindern und Eltern auf Lehrende nichtdeutscher Herkunft.

Überforderte Vorbilder

Die Studie liefert jedoch sehr interessante, teilweise auch widersprüchliche Ergebnisse. Das wichtigste vielleicht: Die meisten befragten Lehrkräfte sehen sich durchaus in einer besonderen Mittlerrolle bzw. Vorbildrolle für Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund, die aus ihrer geteilten Erfahrung sowie sprachlich-kulturellen Gemeinsamkeiten erwächst. So gaben knapp 68 Prozent der Befragten an, dass ihr Migrationshintergrund für Kinder nichtdeutscher Herkunft von großer Bedeutung sei. Gleichzeitig tun sich viele dieser Lehrkräfte mit ihrer daraus resultierenden Mentor- und Vorbildrolle schwer. Viele fühlen sich davon überfordert.

Denn ihre Vorbildfunktion besteht nicht nur gegenüber Schülerinnen und Schülern, sondern auch gegenüber dem deutschen Lehrerkollegium, das sie gerne als „Kulturübersetzer“ gebraucht, wie der Düsseldorfer Studienrat mit italienischen Wurzeln, Luigi Giunta, im Podiumsgespräch „Lehrende mit besonderer Rolle?“ kritisierte. „Wir wollen nicht in eine Nische gedrängt werden und immer nur Feuerlöscher sein“, sagte Giunta. „Ziel muss sein, dass die Schule gemeinsam Initiativen entwickelt, und alle Lehrer dazu beitragen, wie Schüler mit Zuwanderungsgeschichte integriert werden können.“

Undankbare Sozialarbeiterrolle

Yasemin Karakaşoğlu, Professorin für interkulturelle Bildung an der Universität Bremen, warnte junge Lehrkräfte mit Migrationshintergrund geradezu davor, diese „Sozialarbeiterrolle“ an ihren Schulen zu übernehmen. „Dieser Aspekt der Lehrerarbeit ist nicht besonders prestigeträchtig“, sagte die Expertin und erteilte damit auch indirekt der Forderung eine Absage, nun alleine auf die Rekrutierung von Lehramtsstudierenden mit Migrationshintergrund zu setzen. Bestimmtes Personal für bestimmte Problemgruppen einzusetzen, hält sie für den falschen Weg. Vielmehr müsse die interkulturelle Kompetenz bei allen Lehrenden gefördert werden. Dies sei eine universitäre Aufgabe bei der Lehrerausbildung.

Ganz ähnlich argumentierte auch Ursula Neumann von der Universität Hamburg gegen eine besondere Aufgabe der Kulturübersetzung für migrantische Pädagoginnen und Pädagogen. „Diese Sicht ist problematisch, weil sie andere Lehrer von ihrer Pflicht sich um alle Kinder zu kümmern befreit“, sagte die Professorin für vergleichende Erziehungswissenschaften. Integration werde erst gelingen, wenn sie als ganz normale Lehrkräfte wahrgenommen werden. Alle Pädagoginnen und Pädagogen müssten auf eine Arbeit in multikulturellen Kontexten vorbereitet werden.

Einsprachige Mehrsprachigkeit

Neumann wies auch auf den zweiten großen Widerspruch hin, den die Studie aufzeigt. Obwohl Lehrende mit Migrationshintergrund für gelebte sprachliche Vielfalt stehen, nutzen sie ihre Muttersprache im Unterricht nur selten. Auch die Forscherinnen der Studie waren nach eigenen Aussagen von diesem eindeutigen Ergebnis überrascht: Nur ein Viertel der Lehrkräfte setzt ihre Mehrsprachigkeit im Unterricht ein. Die große Mehrheit tut diese nur außerhalb der Schulstunde, etwa in der Pause, in Konfliktsituationen oder beim Elterngespräch. „Du musst in der Schule schon Deutsch mit mir sprechen“ sei ein gängiger Apell an Schülerinnen und Schüler, so Georgi.

Vertane Chancen

Neumann erklärte dieses Ergebnis mit dem in Deutschland historisch tief verwurzelten „monolinguistischen Habitus“. „Mehrsprachigkeit wird immer noch als erhöhte Anforderung an Kinder gesehen“, sagte sie. Die Angst vor mehreren Sprachen gleichzeitig sei jedoch nicht begründet. Auch migrantischen Lehrenden gelinge es nicht, diesen Habitus zu verändern, wie die Studie zeige: Sie deuten ihre eigene Mehrsprachigkeit als persönliche Angelegenheit, nicht als etwas, das Schule bereichert und allen Kindern nutzt.

Glücklich trotz Diskriminierung

Wie wichtig mehrsprachliche Kompetenz oder zumindest das Interesse für Fremdsprachen ist, betonte Fadime Kartal, eine Berliner Referendarin, auch noch in einem anderen Zusammenhang: Viele deutsche Kolleginnen und Kollegen bemühten sich nicht, den Namen ihrer ausländischen Schülerinnen und Schüler korrekt auszusprechen. Für sie ist es eine Frage mangelnden Respekts, für die Kinder jedoch oft schon der Anfang von Diskriminierung.

Ein erschreckendes Ergebnis der Studie ist nämlich auch: Rund 30 Prozent der Befragten haben in ihrer eigenen Schulzeit selbst benachteiligende oder diskriminierende Erfahrungen gemacht. Noch bedenklicher ist jedoch, dass rund 23 Prozent im Referendariat und 22 Prozent im täglichen Schulalltag mit Diskriminierung oder sogar offenen Rassismus zu kämpfen haben. Diese Zahlen stehen dabei in Kontrast zur hohen Berufszufriedenheit von migrantischen Lehrerinnen und Lehrern: Rund 70 Prozent der in der Studie Befragten fühlen sich sehr wohl in ihrem Beruf und wollen ihn nicht wechseln.

Ganz normale Lehrkräfte

Der Aussage, „Mein Austausch im Kollegium ist sehr gut“ stimmten so 72 Prozent zu. Gleichzeitig berichten sie in den qualitativen Interviews häufig davon, im Lehrerzimmer zurechtgewiesen zu werden, etwa wenn sie türkisch sprechen. Auch die Pädagoginnen und Pädagogen, die an der Podiumsdiskussion teilnahmen, bestätigten derartige Erfahrungen. Saraya Gomis, Gesamtschullehrerin aus Hannover, beschrieb das Referendariat als „schlimmste Zeit ihres Lebens“, da sie oft diskriminiert wurde. Heute würden zwar alle im Kollegium Aufrufe gegen Rassismus theoretisch unterschreiben. „Viele schmücken sich sogar gerne mit meinem Exotenstatus und als multikulturelle Schule. Gleichzeitig ist für sie aber klar, dass ich jedes afrikanische Thema übernehme.“ Gomis größter Wunsch ist es, endlich als ganz normale Lehrerin gesehen zu werden.

Statt Botschafter von Multikulturalität werden migrantische Lehrkräfte oft Zielscheibe von Diskriminierung“, fasste auch Yasemin Karakaşoğlu von der Uni Bremen ihre Forschungen zusammen. In der Konsequenz heißt das: Statt wie erhofft als „change agents“ für Minderheiten in der Schule zu wirken, sind viele selbst Opfer und fühlen sich handlungsunfähig. Einen konkreten Vorschlag, wie der strukturellen Diskriminierung in Lehrer- und Klassenzimmern entgegnet werden könne, machte die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, Christine Lüders. Sie wolle sich für Beschwerdestellen bei den Kultusministerien einsetzen. „Bisher gibt es die in Unternehmen, nicht aber in der Schule.“

In kanadischen und britischen Lehrerzimmern ein ähnliches Bild

Die Konferenz wagte auch einen Blick in die Lehrerzimmer Großbritanniens und Kanadas um einen Vergleich zu ermöglichen. Zwar gibt es in diesen Ländern mehr sogenannte „minority teachers“ als in Deutschland, aber sowohl die Debatten als auch viele der Herausforderungen dort ähneln denen in Deutschland doch so weit, dass sich Warren Crichlow von der York University in Toronto auf der Konferenz fast „wie zu Hause fühlte“. Linda Hargreaves und Olwen McNamara berichteten, dass in Großbritannien insbesondere Diskriminierungserfahrungen und geringere Aufstiegsmöglichkeiten für Lehrerinnen und Lehrer mit Migrationshintergrund ein äußerst hartnäckiges Problem darstellen.

Kein bildungspolitisches Allheilmittel

Ob „change agent“, Vorbild, Sprachvermittler oder im ganz großen Entwurf gar Allheilmittel für Problemschulen wie die viel zitierte Rütli-Schule - die Studie sowie auch die Debattenbeiträge räumten gehörig mit einigen allzu großen Hoffnungen auf: Vielmehr lag das Fazit im Einerseits-Andererseits: Ja, es ruhen berechtigte bildungspolitische Hoffnungen auf Lehrenden mit Migrationshintergrund, weil sie sich besonders für den Bildungserfolg von Migrantinnen und Migranten in der Schule engagieren. Aber sie dürfen nicht mit Erwartungen überfrachtet werden. Ja, die Förderung von ausländischen Lehrerinnen und Lehrern, wie sie bereits im vorgestellten Horizonte-Programm der Hertie-Stiftung und dem Schülercampus der ZEIT-Stiftung geschieht, ist ein unverzichtbarer Baustein interkultureller Schulentwicklung. Aber sie darf keine isolierte bildungspolitische Maßnahme bleiben.

Netzwerke unterstützen Lehrende mit Migrationshintergrund

Wichtige Unterstützungsleistungen für Lehramtsstudierende und Lehrende mit Migrationshintergrund bieten die Netzwerkinitiativen von und für Lehrende mit Zuwanderungsgeschichte, die an einigen Orten in Deutschland entstanden sind. Auf der Konferenz stellten die Netzwerke aus Berlin, Hamburg, Nordrhein-Westfalen und Stuttgart ihre Arbeit vor, die in der Regel von der Ermutigung von Schülerinnen, Schülern und Eltern zum Ergreifen des Lehrerberufs bis hin zur Unterstützung und Begleitung von Studierenden und Lehrkräften reicht.

Integration verändert alle

Was also folgt aus den neuen Erkenntnissen der Studie? Geht es nach den Forscherinnen, sowie nach Neumann und Karakaşoğlu, sind daraus als erstes Konsequenzen für die Lehreraus- und Weiterbildung zu ziehen: „Die Schule und ihre Akteure müssen besser auf den Umgang mit Heterogenität vorbereitet werden“, sagte Georgi. Interkulturelle Trainingsseminare für Lehrkräfte, wie sie Karakaşoğlu vorschlug, dürften dabei aber nicht vermeintliche kulturelle Besonderheiten erklären und somit den Ruf eines „Ausländerscheins“ haben. Vielmehr hätten sie die Aufgabe, zur Selbstreflexion über „kulturelle Identitätskonzepte“ anzuregen. Auch müssten mehr multiperspektivische Ansätze ins Curriculum und Lehrmaterial mit einfließen. „Warum nicht nur Faust, sondern auch die Karawanserei lesen?“, fragte Georgi.

Den Blick weg von der Schule hin zu den Herausforderungen für die Gesamtgesellschaft lenkte Musa Özdemir, Haupt- und Realschullehrer in Berlin. „Die Zukunft ist die multikulturelle Gesellschaft“, sagte er. Die vermeintliche Mehrheitsgesellschaft müsse das endlich begreifen. Bisher lege das unpassende Wort Integration nur nahe, dass sich eine Seite verändere.

Nein zur Quote

Die Abendveranstaltung unter der Moderation des Zeit-Redakteurs für Bildung, Martin Spiewak, griff noch einmal viele der in den Panels diskutierten Punkte auf. Am intensivsten beschäftigten sich die Podiumsteilnehmerinnen und Teilnehmer Georgi, Karakaşoğlu, Lüders und der Bündnis 90/Die Grünen- Vorsitzende Cem Özdemir mit der Frage, ob eine Quote zur Erhöhung der Lehrenden mit Migrationshintergrund sinnvoll sei. Cem Özdemir plädierte für eine politische Steuerung, sprach sich aber gegen Zwangsmaßnahmen aus. „Politik kann werben, dass mehr Menschen mit Migrationshintergrund den Lehrerberuf ergreifen“, sagte er. Auch könne er sich ein Punktesystem wie in den USA vorstellen, dass migrantische Lehrkräfte bei gleicher Qualifikation bevorzugt eingestellt werden. „Mit einer starren Quote tue ich mir aber schwer“, so Özdemir. Darüber hinaus sei sie – gerade vor der Erfahrung der gescheiterten Schulreform in Hamburg – politisch nicht durchsetzbar. Für durchsetzbar hielt er jedoch, die Klassenstärke und finanzielle Ausstattung je nach sozialen Bedingungen in den Stadtteilen zu variieren. Auch müsse die Sprachvermittlung möglichst früh ansetzen, ggf. auch durch die Einführung einer Kindergartenpflicht.

Ja zu mehr Ressourcen

Auch Karakaşoğlu wandte sich gegen eine Quote und schlug stattdessen vor, Lehrerstellen gezielter nach bestimmten Sprachgruppen, die an einer Schule gebraucht werden, auszuschreiben. Vehement widersprach sie auch einem Vorschlag, Schulen mit hohen und niedrigen Migrantenanteil besser zu durchmischen. „Wir müssen Schule so finanzieren, dass sie funktioniert. Denn wir können uns die Mischung nicht aussuchen“, sagte sie. Um den Bildungserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund zu sichern, nannte sie konkrete Vorschläge wie eine bessere personelle Ausstattung, individualisiertes Lernen, Team Teaching im Klassenzimmer und Leseförderung mit Unterstützung von Studierenden.

Auch wenn die meisten Diskutierenden eine Quote ablehnten - einig waren sie sich doch: Schulen brauchen mehr Lehrende mit Migrationshintergrund, alleine schon aus Gründen der Chancengleichheit. Falsch wäre nur zu glauben, sie könnten alle Probleme lösen.

 

 
 

Tagungsdokumentation

Vom multikulturellen Klassenzimmer zum multikulturellen Lehrerzimmer

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