Literaturnobelpreis für Heinrich Böll

Sie befinden sich in "Kapitel 6: Der »Notstand« der Demokratie (1967 - 1972)".

Begründung der Schwedischen Akademie für die Verleihung des Nobelpreises an Heinrich Böll, 1972

Der diesjährige Nobelpreisträger für Literatur debütierte 1949. Eine Auswahlbibliographie vom Januar 1972 mit Werken von und über Heinrich Böll umfaßt etwa vierzig von ihm selbst verfaßte Arbeiten [...] Den Abschluß bildet sein nicht nur dem Umfang nach gewichtigstes Werk, der bedeutende, im vorigen Jahr erschienene Roman »Gruppenbild mit Dame«. Diese überaus reichhaltige Produktion ist ein begehrtes Objekt für Kommentatoren geworden: Wenige zeitgenössische Autoren dürften allseitiger und methodischer unter die Lupe genommen worden sein als Heinrich Böll. Es liegt auf der Hand, daß die Ansichten über ihn auseinandergehen, nicht so sehr, was seine Stellung in der modernen deutschsprachigen Literatur betrifft, als vielmehr darüber, wo man die konstanten Züge seines Schaffens findet bzw. wie die Hauptlinien seiner Entwicklung verlaufen. Der Grund hierfür liegt vielleicht in Bölls Arbeitsweise; fast jedesmal, wenn etwas Neues abgeschlossen vorliegt, ändert er Technik und Perspektive. Seine überreiche Dichtung ist voller Überraschungen.

Diese Fähigkeit, sich ständig zu variieren, ist aber nicht in erster Linie gemeint, wenn die Schwedische Akademie in ihrer Begründung für die diesjährige Entscheidung ausspricht, daß Bölls Dichtung im Bereich der deutschen Literatur erneuernd gewirkt hat. Sie zielt auch nicht auf jene Art von literarischer Erneuerung, die darin besteht, daß die Dichtung alte Formen aufgibt und neue Ausdrucksweisen erprobt. [...] Für Formenexperimente hat er weniger Interesse und Neigung gezeigt als manche andere von den Autoren, die in seinem eigenen Land oder im Ausland der heutigen Literatur ihr Gepräge geben.

Und doch hat er einmal geäußert: »Ich brauche wenig Wirklichkeit«, ein beachtenswerter Satz aus der Feder eines Schriftstellers, den man für einen realistischen Schriftsteller hält und der sich vielleicht selbst so versteht. Die Wirklichkeit, die er so wenig braucht, ist die des klassischen Romans im 19. Jahrhundert, jene Wirklichkeit, die nach minuziösem Detailstudium naturgetreu wiedergegeben wird. Böll ist überaus geschickt in der Handhabung dieser Methode, aber wenn er sie benutzt, handelt es sich um Ironie: Endlos ist die Zahl der überflüssigen Details, und die Komik kann zu einer Kraftprobe an Ausdauer werden, manchmal auch für den weniger beharrlichen Leser. Aber gerade der Ulk, der mit dieser pflichtbewußten Registrierungstechnik getrieben wird, zeigt, in wie geringem Maße Böll einer solchen Wirklichkeit bedarf. Zu seiner Meisterschaft gehört gerade seine Fähigkeit, mit sparsamen, mitunter nur angedeuteten Konturen sein Milieu und dessen Figuren lebendig werden zu lassen.

Aber es gibt eine andere Wirklichkeit, der Bölls Dichtung ständig bedarf: Jenen Hintergrund, vor dem sich sein Dasein abzeichnet, die Lebensluft, die seine Generation atmen mußte, das Erbe, das sie anzutreten hatte. Diese Wirklichkeit ist das immer wiederkehrende, haargenau beobachtete Motiv seines gesamten Schaffens, vom ersten Anfang an bis zu dem bereits erwähnten Meisterwerk »Gruppenbild mit Dame«, das die Krönung seines bisherigen Oeuvres bedeutet. Seinen eigentlichen Durchbruch erreichte Böll in den Jahren 1953, 1954 und 1955 mit drei rasch nacheinander veröffentlichten Romanen: »Und sagte kein einziges Wort«, »Haus ohne Hüter« und »Das Brot der frühen Jahre«. Obwohl der Verfasser dies wahrscheinlich nicht beabsichtigt hat, könnte man mit diesen drei Buchtitel jene Wirklichkeit umreißen, die er so beharrlich und mit solcher Kraft gestaltet.

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