Schemenhaft

 

Von René Böll

Von René Böll

Wer ein Buch, einen Roman oder auch einen Band mit Gedichten oder Essays aus dem Regal nimmt, um ihn zu lesen, wird in aller Regel davon überzeugt sein, das, was er nun lesen werde, sei so, wie er es jetzt in der Hand hält, von vornherein auch so geschrieben worden – der erste Satz, das erste Kapitel … das ganze Buch. Der Leser kennt nur den abgeschlossenen Roman, der in seiner Form unabänderlich erscheint, der anscheinend nicht anders hätte geschrieben werden können. Allein die Erfahrung, die man jederzeit beim Niederschreiben eines Briefes selber machen kann, die nämlich, ihn zwei oder dreimal zu beginnen, bis dann mit dem vierten Anlauf der richtige Einstieg gefunden ist, kann einen rasch eines Besseren belehren.

Aber: Wie entsteht ein Roman, wie viel an Geschriebenem, wie viel an Ideen und Personen bleibt »unterwegs« auf der Strecke? Wie erlangt er seine endgültige Form? Ist, wenn er endet, wie er endet, dies die einzig mögliche Form. Der Roman hätte ja auch ganz anders enden können! Wie wird geschrieben, wie wird das Schreiben vorbereitet, durchgeführt, zu Ende gebracht?
Neben umfangreichen Recherchen, Vorstufen, Skizzen, Ideen gehörte für meinen Vater dazu, sich an einer bestimmten Stelle des Arbeitsprozesses ein Schema oder einen Grundriss des geplanten Romans in Farbe anzufertigen. So wie es für den Maler ausreicht, eine kleine Skizze zu machen, um das fertige Bild vor sich zu sehen, so war es für meinen Vater ein wichtiger Schritt, ein Moment des Innehaltens während des Schreibens, einen farbigen Plan des geplanten Werks anzufertigen, um das Werk »auf einen Blick« sehen zu können.
Die Komposition wurde so deutlicher. Der feste Punkt, dessen jedes Kunstwerk bedarf, ohne den die Komposition auseinanderbricht, wurde im Bild greifbarer, wurde ansichtig – deutlicher als im Fluss der Schrift erfassbar. Ganz wichtig auch und unbedingt hinzugehörend der Aspekt, dass zu dieser Arbeit auch die Freude am Umgang mit Farbe und Pinsel gehörte.
Der Roman erhielt durch diese Übersicht- oder Strukturskizzen Konturen; Unstimmigkeiten in der Komposition wurden klarer, konnten korrigiert werden. Wenn auch damit noch nicht ausformuliert, wurde Fehlendes »sichtbar«, konnten Lücken mit »Fleisch« ausgefüllt werden. Die Ausarbeitung der Pläne stand für einen Moment des Innehaltens, des Verharrens, der Prüfung, die jedes Kunstwerk benötigt, auch der Prüfung – zuweilen ganz pragmatisch auch der Überprüfung, ob beispielsweise die Lebensalter der jeweiligen Protagonisten zu den jeweiligen Zeiten, zu denen der Roman spielt, auch stimmen.
Um all dies zu tun, war ein Farbkasten der Marke „Pelikan“ ständiger Begleiter – ob auf dem Schreibtisch oder auf den Reisen. Am Anfang war es ein einfacher Schülerkasten dieser bis heute  gängigen Marke mit 12 Näpfchen, später das zweilagige Modell mit 24 Näpfchen. Später, als Geschenk der Söhne, ein professioneller Aquarellkasten der Marke „Schmincke“, mit dem z.B. der Plan für »Gruppenbild mit Dame« ausgeführt wurde. Genutzt wurden daneben auch Buntstifte und – leider, denn ihre Spuren werden bald verschwunden sein – auch Filzstifte, gegen die der befreundete Künstler HAP Grieshaber so wetterte.
Wie wichtig diese Pläne für meinen Vater im Arbeitsprozess waren, mag ein Vorfall während der Arbeit an den »Frauen vor Flußlandschaft« zeigen. Es hatte geregnet, das Fenster im Arbeitszimmer in Langenbroich stand offen, keiner war im Raum, dann war es passiert: die Strukturskizze war vom Regenwasser so stark beschädigt worden, dass sie für die Arbeit kaum mehr genutzt werden konnte. Um zu retten, was zu retten war, habe ich meinem entsprechend dem Verlust etwas verzweifelten Vater den Vorschlag gemacht, die verwaschenen, kaum noch sichtbaren Strukturen des Plans mittels einer von mir benutzten transparenten, beschreib- bzw. bemalbaren, auf einer Seite aufgerauten Graphikerfolie durchzupausen und so wieder herzustellen.
Während der Arbeit wurden die Pläne mit Heftzwecken an die Wand geheftet, blieben hängen und – nochmals leider – vergilbten aufgrund des einfachen Papiers rasch. Später drängte ich meinen Vater dazu, sie zu rahmen. Nicht nur aus konservatorischen Gründen. Mein Vorschlag entsprach einem Wunsch von uns allen, die ansonsten »unsichtbare« Entstehung von Literatur an irgendeiner Stille »sichtbar« und damit uns in einem winzigen Ausschnitt »erlebbar« machen zu können. Die Arbeit eines Malers hat man vor Augen, betrachtet man ein Bild, das man an der Wand befestigt. Was »sieht« man von der Arbeit eines Schriftstellers – abgesehen einmal davon, dass man irgendwann ein gedrucktes Buch in der Hand hält?

Zur Kunst gehört das Spontane, die Bereitschaft zu kürzen oder auch der Verzicht gerade auch auf die so gelungen scheinende Stelle, das Gnadenlose und die Kälte der eigenen Arbeit gegenüber, das Reduzieren und Sublimieren genauso wie der quasi rauschhafte Zustand bei der Arbeit, das kühle Konstruieren und Planen, eine Mischung aus Intuition und Kalkül. Dies alles gehört in den Umkreis der Pläne, die einen Moment dieses Prozesses festhalten – einen Augenblick, denn noch in den Druckfahnen wurden Änderungen vorgenommen, Änderungen, die teilweise auch von meiner Mutter angeregt wurden, die als Korrektor und Lektor für meinen Vater die wohl wichtigste Person war. Vor allen in den frühen Arbeiten findet sich die von ihr, der ehemaligen Lehrerin, an den Rand vieler Manuskripte angebrachte Stilanmerkung »de trop«, was so viel bedeutete wie: »zuviel« – also: kürzen, straffen.

© René Böll / Alle Rechte vorbehalten