ANC: 100 Jahre und kein bisschen weise?

Wahlplakat des ANC für die Kommunalwahlen am 18. Mai 2011. Bild: warrenski Lizenz: Creative Commons BY-SA 2.0 Original: flickr.

19. Januar 2012
Richard Dowden
Er hat eine der größten politischen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts hervorgebracht. Er hat eine brutale, auf die Farbe der Haut gegründete Diktatur in die Knie gezwungen und dem Land stattdessen die liberalste Verfassung geschenkt, die die Welt je gesehen hat. Sein Erkennungslied, eine ergreifendes Kirchenlied, ist heute die Nationalhymne. Seit er 1994 an die Macht gekommen ist, geben ihm bei den Wahlen rund zwei Drittel aller Bürger ihrer Stimme. Und trotzdem muss man sich die Frage stellen: Was ist bloß passiert mit dem südafrikanischen African National Congress?

Über Erfolg oder Misserfolg des neuen Südafrika entscheidet das Wettrennen zwischen den Erwartungen und Hoffnungen einer jungen und wachsenden Bevölkerung und der Fähigkeit der Regierung, genügend Arbeitsplätze zu schaffen und öffentliche Dienstleistungen bereitzustellen. Die Südafrikaner sind lange Zeit geduldig gewesen, aber jetzt sieht es so aus, als würde der regierende ANC dieses Rennen verlieren. Die Bevölkerung, die derzeit auf 50 Millionen Einwohner geschätzt wird, ist seit der ANC 1994 an die Macht kam um zehn Prozent gewachsen. Das Durchschnittsalter liegt bei 25 Jahren. Weil so viele Südafrikaner zu jung sind, um die Apartheid noch aus eigener Erfahrung zu kennen, funktioniert es nicht mehr, der Vergangenheit die Schuld in die Schuhe zu schieben. Die Arbeitslosigkeit liegt offiziell bei 25 Prozent, dürfte in Wahrheit aber eher das Doppelte betragen, die Wirtschaft wächst nur langsam. 2011 hat zum ersten Mal eine gut organisierte Oppositionspartei bei Wahlen nennenswerte Stimmanteile erzielt. Und seit dem Abgang der alten, von Nelson Mandela geführten Garde eilt dem ANC zusehends der Ruf der Korruption und der Inkompetenz voraus.

Der ANC, der am 8. Januar 2012 seinen 100. Geburtstag gefeiert hat, ist die älteste politische Organisation Südafrikas und zwei Jahre älter als die National Party, die dem Land die Apartheid aufgezwungen hat. Gegründet wurde er als South African National Congress (SANNC) von Afrikanern aus der städtischen Mittelschicht und Chiefs. Ziel war es, die Interessen der Schwarzen nach dem Ende des Burenkriegs zu schützen und zu fördern – einem Krieg, bei dem der Frieden zwischen den Buren und Briten um den Preis der Eigentums- und Stimmrechte der schwarzen Bevölkerung erkauft wurde. In dieser frühen Phase kam es der Führung des ANC mehr darauf an, ihre eigenen Rechte zu schützen, als die Massen zu vertreten.

Ziemlich bald aber wurde der ANC mit einer Frage konfrontiert, an der sich seine gesamte Geschichte hindurch die Geister scheiden sollten. Sollte er sich damit begnügen, innerhalb des existierenden politischen Systems für die Rechte der Schwarzen zu kämpfen? Oder sollte er für ein gerechteres politisches und ökonomisches System insgesamt kämpfen? Nach der Bildung einer Allianz mit der South African Communist Party (SACP) im Jahr 1953 entschloss sich die Partei für Letzteres und wurde zum Protegé der Sowjetunion und des kommunistischen Blocks. Der ANC, der sich in seiner Sprache nun zusehends der marxistischen Rhetorik Moskaus annährte, schrieb sich die Zerschlagung des Apartheidstaates und des Kapitalismus aufs Banner. Als er 1960 verboten wurde, wurden seine Anführer inhaftiert oder flohen ins Exil, dennoch blieb er in den Köpfen der schwarzen Südafrikaner als ein Symbol der Hoffnung und des Widerstands lebendig.

Der Fall der Berliner Mauer war für den ANC ein Schock. Viele seine Mitglieder hatten an ihre eigene Rhetorik geglaubt und empfanden die dramatischen Ereignisse als einen Sieg der Verbündeten der südafrikanischen Regierung. Tatsächlich verhielt es sich genau andersherum. Frei von der kommunistischen Bedrohung, konnten Großbritannien und die USA dem Apartheidregime ihre Unterstützung entziehen. Lassen Sie Nelson Mandela frei und nehmen Sie Verhandlungen auf, so lautete 1989 die Botschaft der britischen Premierministerin Thatcher an den neu gewählten südafrikanischen Präsidenten F.W. De Klerk. Die ANC-Hardliner im Exil reagierten ungläubig. Dieses Szenario stand nicht in ihrem Drehbuch, laut dem Umkonto we Sizwe, der militärische Arm des ANC, den Apartheidstaat stürzen sollte. (In Wahrheit war der „Speer der Nation“ die am wenigsten effektive Guerillabewegung im südlichen Afrika.)

In der von Streiks und Straßenschlachten geprägten realen Welt Südafrikas hatte sich unterdessen unter der schwarzen Bevölkerung eine eigene Führung herausgebildet – Männer und Frauen, die sich besser mit Verhandlungen und Realpolitik auskannten und wussten, wie Südafrika funktioniert. So war es auch keine Überraschung, dass der frühere Bergarbeiterführer Cyril Ramaphosa als Chefstratege die Verhandlungen mit der Regierung führte. Aber obwohl diese Leute aus der inneren Führung wohl eine engere Verbindung zu den Menschen hatten, wurde sie im Laufe der Zeit von den aus dem Exil zurückkehrenden ANC-Vertretern ins Abseits gedrängt, die sich mit dem Kleingedruckten der ANC-Verfassung besser auskannten.

So setzte sich Thabo Mbeki, der ANC-Außenminister im Exil, gegen Ramaphosa durch, der Mandelas erste Wahl im Kampf um seine Nachfolge gewesen war. Mbeki war ein Intellektueller, der sich im Umgang mit normalen Menschen schwer tat und der vor allem ein großes Projekt vorantrieb: Er wollte das ökonomische Interesse aller Bürger am neuen Südafrika stärken, indem er ihnen Anteile an allen südafrikanischen Unternehmen gab und Jobs für die schwarzen Bevölkerung schaffen ließ.

So wie Mbekis Politik des Black Economic Empowerment (BEE) schließlich umgesetzt wurde, trug sie allerdings weniger dazu bei, einfache Bürgerinnen und Bürger durch Jobs und unternehmerische Tätigkeit an der Wirtschaft zu beteiligen als ANC-Größen kostenlose Anteile an Großunternehmen zu bescheren. Die große Menge der ANC-Anhänger wurde stattdessen mit Wohlfahrtsleistungen abgefertigt. Die südafrikanische Wirtschaft spielte bei BEE mit und überließ einer kleinen, mit dem ANC verbandelten Elite einige die Geschäfte nicht beeinträchtigende Beteiligungen. Selbst die Kommunistische Partei machte bei dem Spiel mit. Damit hatte sich das „big business“ politische Rückendeckung verschafft, gleichzeitig wurde das Tor zur Korruption auf landesweiter Ebene weit aufgestoßen. Eine kleine Clique von Ministern und hochrangigen ANC-Funktionären wurde praktisch über Nacht zu Multimillionären, und etliche davon stellten ihren neuen Reichtum auf eine Art und Weise zur Schau, die ihren ehemaligen Genossen bitter aufstieß. Heute ist Südafrika ein Archipel befestigter Inseln des Luxus in einem Meer der Armut. Die große Mehrheit der Südafrikaner sitzt sozusagen in Rettungsbooten und erhält Unterstützung von der öffentlichen Wohlfahrt, hat aber nach wie vor keinen Anteil an der dynamischen Ökonomie des Landes.
Der ANC selbst ist in verschiedene Cliquen zersplittert. Alle wichtigen Entscheidungen werden im Geheimen getroffen, so auch der Beschluss von 1999, für umgerechnet über 3,5 Milliarden Euro hochmoderne Waffensysteme zu kaufen. Dieses als „Arms Deal“ an die Öffentlichkeit gelangte Geschäft, bescherte dem ANC und mehreren seiner führenden Mitglieder zwar viel Geld, war in der Sache aber völlig unsinnig. Bis heute sind viele der damals gekauften millionenteuren Kampfflugzeuge noch nicht einmal in der Luft gewesen. Andrew Feinstein, der als Parlamentarier die verdeckten Geldflüsse im Zusammenhang mit dem Waffendeal aufzudecken versuchte, sagt, dass der ANC damals seinen moralischen Kompass verloren habe.

Doch vielleicht ist der ANC bloß zu seinen ursprünglichen Wurzeln zurückgekehrt und versteht sich jetzt wieder als Organisation einer kleinen Elite der Besitzenden, die vor allem ihre eigenen Interessen zu beschützen und befördern suchen. Dass sich an der Misere des ANC in absehbarer Zeit etwas ändert, ist eher unwahrscheinlich. Vergangenen November berichtete Willie Hofmeyr, der langjährige Leiter der mit Korruptionsfragen befassten Special Investigation Unit, an das Parlament, dass  dem Land durch Korruption, Nachlässigkeit und Inkompetenz im öffentlichen Dienst jährlich ein Schaden von drei und vier Milliarden Pfund (3,6  bis 4,8 Milliarden Euro) entsteht, ohne dass die Verantwortlichen groß zur Rechenschaft gezogen würden. „Die südafrikanischen Gesetze und Vorschriften sind gut“, erklärte der Leiter des Sonderermittlungsausschusses, „nur gibt es offenkundig praktisch keinerlei Konsequenzen, wenn sie gebrochen werden.“ Wenig später wurde Hofmeyr entlassen. Und aus Angst vor weiteren negativen Presseberichten und Kommentaren ließ die Regierung Ende November 2011 gleich noch ein Gesetz mit dem wohl klingenden Namen Protection of State Information Bill verabschieden – ein Gesetz, nach dem Journalisten, die als vertraulich eingestufte Dokumente der Regierung veröffentlichen, der Spionage beschuldigt und zu einer Freiheitsstrafe von bis zu 25 Jahren verurteilt werden können.

18 Jahre, nachdem der ANC in Südafrika an die Macht kam, ist die Ungleichheit so hoch wie kaum einem anderen Land, und die Kluft scheint sich noch zu vergrößern. 10 Prozent der Bevölkerung haben immer noch keinen Zugang zu sauberem Wasser, 20 Prozent keinen zu Strom. Und wer darf die umgerechnet knapp zehn Millionen Euro berappen, die die Party zum 100. Geburtstag des ANC diese Woche kosten wird? Der südafrikanische Steuerzahler natürlich.

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Bei diesem Artikel handelt es sich um die deutsche Übersetzung von „After Mandela. At 100, the African National Congress looks distinctly unattractive“, der am 7. Januar in der britischen Zeitschrift The Spectator abgedruckt wurde.
 
Bild: Leopard Förlag Lizenz: Alle Rechte vorbehalten.

Richard Dowden

Richard Dowden hat als Lehrer in Uganda und später als Journalist u.a. für den „Economist“ gearbeitet. Seit 2002 ist er Direktor der Royal African Society, die selbst mehr als 100 Jahre alt ist. Sein Buch Africa, Altered States, Ordinary Miracles, erschien 2008 im Londoner Verlag Portobello Books. 

Dossier

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