Citizen 2.0: Gesellschaftliche Teilhabe im Netz kein Selbstläufer

(v.l.n.r.) Sophie Scholz, Jan Engelmann,  Stefan Münker, Tanja Carstensen

3. Mai 2010
Von Torsten Arndt

Von Torsten Arndt

Die demokratischen Potenziale des Internets stehen mehr denn je auf dem Prüfstand. Während sich dezidierte Netzskeptiker um Datensicherheit, Piraterie und kognitive Überforderung sorgen, betonen politische Aktivisten und wissenschaftliche Beobachter häufig den deliberativen Mehrwert im digitalen Raum. In der dritten Ausgabe der Reihe „demokratie heute“ versuchten ein Philosoph, eine Umweltpsychologin und eine Soziologin, den sich vollziehenden Strukturwandel der Öffentlichkeit an erfolgreichen Projekten festzumachen.

Seitdem das Internet sich zum "Web 2.0" entwickelt hat, keimt die Hoffnung, dass die neuen sozialen Netzwerke nicht nur zu wirtschaftlichen und Unterhaltungszwecken, sondern auch zu einer Neubelebung der Bürgergesellschaft genutzt werden. Das Demokratie fördernde Potenzial der neuen Partizipationsmöglichkeiten wurde auch während der Podiumsdiskussion "Citizen 2.0. - Wie beeinflusst das Netz die demokratische Öffentlichkeit?" am 27. April 2010 nicht angezweifelt. Trotzdem entwickelte sich eine intensive Diskussion um die Frage, wie tiefgreifend die digitale Netzkultur Gesellschaft und politisches System tatsächlich umwälzen wird.


Digitale Öffentlichkeit gibt es auch offline


Ausgangspunkt der Veranstaltung waren zehn Thesen, die Stefan Münker, Kulturredakteur beim ZDF und Dozent am Institut für Medienwissenschaften der Universität Basel, in seinem Buch "Emergenz digitaler Öffentlichkeiten. Die Sozialen Medien im Web 2.0" aufgestellt hat. Nach Münkers einführendem Vortrag konzentrierte sich die Debatte in einem ersten Schwerpunkt auf die Frage, was "digitale Öffentlichkeit" unter den Bedingungen des Web 2.0 eigentlich sei. Münker betonte, dass es sich keineswegs um eine Art Gegenöffentlichkeit zur "realen Welt" handele. Der Begriff "digitale Öffentlichkeit" beziehe sich vielmehr auf die zunehmende gegenseitige Durchdringung von Gesellschaft und Internet. Die neue Qualität des Web 2.0 sei nicht im technologischen Fortschritt, sondern im innovativen sozialen Gebrauch der neuen Kommunikationsmöglichkeiten zu finden. Plattformen wie Wikipedia, Facebook, Twitter und YouTube seien erst durch das interaktive Zusammenspiel ihrer Nutzer relevant geworden. Die neuen Netzwerke gemeinschaftlich produzierender Akteure hätten zum ersten Mal das "Ideal eines partizipatorischen Mediengebrauchs" realisiert, so Münker. Dies sei der wahre Grund für die Faszination des Web 2.0. Wikipedia ist Münker zufolge das vielleicht beste Beispiel, um die Wechselwirkung von Web 2.0 und Gesellschaft zu illustrieren. Der globale Erfolg der kollektiv betriebenen Online-Enzyklopädie zeige, dass die etablierten Vorstellungen von Experten- und Laienwissen zunehmend hinterfragt werden.



Gesellschaftliche Teilhabe im Internet ist kein Selbstläufer

Die Soziologin Tanja Carstensen, die das Projekt "Subjektkonstruktionen und digitale Kultur" an der TU Hamburg-Harburg leitet, stimmte Münker in weiten Teilen zu. Anstatt das Internet immer wieder als externen Einfluss auf unser Leben zu betrachten, sei es heute viel spannender zu fragen, wie wir das Netz selbst durch aktiven Gebrauch verändern, so Carstensen. Allerdings müsse auch gefragt werden, wer die neuen Partizipationsmöglichkeiten tatsächlich nutze. Eine Umfrage von 2008 habe ergeben, dass ein Drittel der Deutschen das Internet nach wie vor meide. Von den anderen zwei Dritteln würden nur 13 Prozent aktiv am Web 2.0 teilnehmen. Carstensen gab an, dass drei ihrer eigenen empirischen Forschungsprojekte diesen ernüchternden Befund bestätigt hätten. Die Untersuchungen hätten ergeben, dass es in feministischen Netzwerken, unter Erwerbslosen und selbst unter den sogenannten "Digital Natives" der 15- bis 30-Jährigen immer noch überraschend wenige intensive Nutzer der neuen sozialen Netzwerke gebe.

Auch Sophie Scholz, Umweltpsychologin und Leiterin des "Socialbar"-Projekts, machte darauf aufmerksam, dass Nutzungsprofile häufig kaum den demokratischen Idealen der Internetkultur entsprechen. Die aktivsten Teilnehmer am Web 2.0 hätten in der Regel einen relativ hohen Bildungsgrad. Scholz schlussfolgerte, dass zu viele Menschen nicht gelernt hätten, ihr Recht auf demokratische Teilhabe aktiv wahrzunehmen. Dieser Mangel sei aber nicht durch das Netz, sondern nur durch strukturelle Reformen im Bildungswesen zu beheben. Demokratie müsse an der Schule nicht nur vermittelt, sondern auch eingeübt und praktiziert werden. Der immer noch vorherrschende Frontalunterricht könne dies nicht leisten.

Stefan Münker widersprach weder Tanja Carstensen noch Sophie Scholz, er bestand jedoch darauf, dass die eingeschränkte Partizipation im Netz die Realität der Gesellschaft widerspiegele. Gewöhnlich sei es nur eine Minderheit von 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung, die sich gesellschaftlich aktiv engagiere. Deshalb sei es falsch, das Web 2.0 mit zu hohen Erwartungen zu überfrachten, so Münker.

Wieviel Demokratie findet künftig im Internet statt?

Die angeregte Teilnahme des Publikums an der Diskussion über das demokratische Potential des Web 2.0 bestätigte, dass die von Moderator Jan Engelmann angesprochene Vision einer "elektronischen Agora", die den demokratischen Willensbildungsprozess schneller, inklusiver und bürgernäher gestalten soll, nichts an Attraktivität eingebüßt hat. Die Ablösung der bestehenden Verbände- und Parteiendemokratie durch neue internetgestützte Entscheidungsprozesse erschien in vielen Wortmeldungen nicht nur als Utopie, sondern als ein realistisches Ziel. Die "Open Government"-Initiative der Obama-Regierung in den USA und die erfolgreichen Online-Petitionen beim Deutschen Bundestag wurden als vorzeigbare Schritte in die richtige Richtung interpretiert.

Widerspruch kam zum einen aus dem Publikum selbst. Ein Teilnehmer kritisierte "nölende Netzaktivisten", die sich zu sehr darauf konzentrierten, über Politik zu reden und nur wenig vom "Politik machen" verstünden. Die neuen sozialen Netzbewegungen seien zu kurzlebig, um politische Mehrheiten zu organisieren und Entscheidungen durchzusetzen. Jan Engelmann griff die Kritik auf und erinnerte an die Debatte um den Umweltgipfel in Kopenhagen, die auch im Internet sehr intensiv geführt worden sei, ohne eine politische Entscheidung zu erzwingen. 

Stefan Münker wollte diesen Einwand so nicht gelten lassen und bestand darauf, dass die Flüchtigkeit des neuen sozialen Aktivismus nicht nur negative Folgen habe. Dies gelte z.B. für nutzerfreundliche Online-Spendensysteme. Tanja Carstensen und Sophie Scholz stimmten Münker zu und ergänzten, dass die Dynamik des Web 2.0 durchaus den flexiblen Lebenswelten und wechselnden politischen Interessen heutiger Aktivisten entspreche und deren Engagement oft erst ermögliche.
Alle drei Podiumsgäste warnten zugleich vor allzu großem Optimismus hinsichtlich der Möglichkeiten des Internet-Aktivismus. Stefan Münkers Position kam in den letzten beiden Thesen seines einleitenden Vortrags zum Ausdruck. Das Netz sei zweifellos ein "Medium der Demokratisierung", wie der erfolgreiche Wahlkampf Barack Obamas und die "Twitter-Revolution" im Iran noch einmal eindrücklich bestätigt hätten. Das Internet dürfe aber nicht als "Medium zur Realisierung demokratischer Utopien" missverstanden werden. Politische Entscheidungsprozesse basierten in Deutschland auf dem Grundgesetz und fänden immer noch außerhalb des Internets statt. Das Web 2.0 sei ein Teil der Gesellschaft und könne politische Entwicklungen erfolgreich anstoßen, mehr aber auch nicht. Angesichts des begrenzten Internet-Engagements eines Großteils der Bevölkerung sei z.B. eine Grundgesetzänderung per Online-Petition auch in Zukunft für ihn kaum vorstellbar, so Münker.

Tanja Carstensen und Sophie Scholz sprachen sich ebenfalls gegen eine Überschätzung der politischen Wirksamkeit digitaler Netzwerke aus. Eine Analyse des demokratischen Potenzials der Netzkultur sei am überzeugendsten, wenn das Web 2.0 als Werkzeug politischer Organisationen betrachtet werde, so Carstensen. Scholz gestand zu, dass der Erfolg der Online-Petitionen keineswegs zu verachten sei, da er die Parteien dazu zwinge, auch zu unliebsamen Themen offen politisch Stellung zu beziehen. Ein verstärkter politischer Druck könne allerdings nur durch eine enge Verknüpfung virtueller Kampagnen mit der Mobilisierung von Aktivisten in der "realen Welt" aufgebaut werden. So könnten z.B. Sympathisanten einer Online-Kampagne anhand ihrer Postleitzahlen aufgefordert werden, sich direkt an ihre Bundestagsabgeordneten zu wenden. NGOs, die das Web 2.0 effektiv für ihre Zwecke nutzen wollen, müssen Scholz zufolge allerdings bereit sein, zeitlich wie finanziell in Technik und Personal zu investieren.