Die Grünen im Fünf-Parteien-System: neue Risiken, neue Funktionen!

25. März 2008
Von Helmut Wiesenthal

Von Helmut Wiesenthal

Hätte die SPD im Bund und in Hessen über etwas mehr Professionalität verfügt, wäre dem deutschen Politikverbraucher bald ein Vergleichstest geboten: Was schnurrt besser? Eine "Nur-die-Sachthemen-zählen!"-Koalition skeptischer Hamburger oder eine "Wir-gehören-zusammen!"-Koalition emphatischer Anti-Köche? Das hätte, wie unschwer zu bemerken, ein Lackmustest auf den Profilkern der Grünen werden können. Man würde außerdem, was Hessen angeht, mit einem Blick prüfen können, ob das, was als Durchsetzungserfolg bei wichtigen Themen gilt, z.B. die Ersetzung von Studiengebühren durch erneuerbare Energien, auch mit Erfolgen in der Landesentwicklung korrespondiert, die derartige Errungenschaften finanzierbar machen.

Die hessisch-pfälzischen Politbasteleien scheinen uns von solchen Erfahrungen zu verschonen. Doch selbst, wenn es in Hamburg klappt (was manche für den GAU grüner Identitätspolitik halten mögen), scheint wenig Klarheit für die Zukunft gewonnen. Womöglich sehen wir dann einen Scherbenhaufen urgrüner Gefühle: "Was da in Hamburg passiert, ist ja irgendwie hinnehmbar, aber nicht übertragbar und keinesfalls ein Modell für den Bund." Hessen dagegen, das hätte ein Test mit Ausstrahlungseffekt werden können, wenn das Traumteam Beck-Ypsilanti etwas eleganter agiert und die Binsenweisheit beachtet hätte: Je innovativer dein Koalitionskonzept und je dünner deine Koalitionsmehrheit, desto mehr Telefonate brauchst du mit den Freundinnen in deiner Fraktion.

Das Koalitionskarussell und die Vorteile eines wissens- wie werthaltigen Parteienprofils

Aber man sollte von den Besonderheiten und Zufälligkeiten der hanseatischen und der hessischen Konstellation abstrahieren, wenn man das eigentliche Novum - nämlich die Möglichkeiten und Zwänge des Fünf-Parteien-Systems - erkunden will. Ralf Fücks hat deutlich gemacht, dass FDP und Grüne durch den Verlust ihres quasi-natürlichen Dauerpartners zu schmerzhafter Umbesinnung genötigt sind: Gibt es neben den vielen Differenzen zwischen FDP und Grünen nicht auch Gemeinsamkeiten, die es rechtfertigen, sich zu nüchterner Kooperation mit SPD oder CDU zu treffen? Es gibt sie, aber es gibt auch Gemeinsamkeiten mit der „Linken“ – und dem Anschein nach mehr als sie Grüne mit FDP und CDU teilen. Das zeigt allein schon das Ausbleiben einer kritischen Debatte über die Bündnispräferenz der hessischen Grünen.

Noch zwei andere Punkte im Fücks-Papier verdienen, unterstrichen zu werden: Erstens, im Fünf-Parteien-System lässt sich das Parteiprofil nicht mehr über die Koalitionspräferenz definieren. Zweitens, in einer Koalition mit SPD und „Linken“ werden die Grünen nicht viel Grund zur Freude haben. Beide Punkte laufen auf eine harte Zwangsbedingung hinaus, der die Grünen um den Preis ihres Überlebens genügen müssen: Die Erarbeitung und Kultivierung eines ebenso wissens- wie werthaltigen Profils, das ihnen gestattet, künftige Partnerwahlen allein an den möglichen, d.h. gewollten und realistisch kalkulierten, Politikergebnissen auszurichten. Denn sowohl als Steigbügelhalter für die Gysi-Bisky-Laffy-Riege als auch als Stützrad einer CDU-FDP- oder SPD-FDP-Koalition laufen sie Gefahr, an akuter Unauffälligkeit zu erkranken – und das nicht erst gegen Ende der Legislaturperiode, sondern schon in den Koalitionsverhandlungen. Das Risiko wird im ersten Fall noch dadurch gesteigert, dass man leicht der Annahme erliegt, es gäbe allemal genügend Gemeinsamkeiten, zumindest zwischen SPD und Grünen. Näheres können hierzu die Berliner Grünen berichten. In den beiden anderen Fällen bestünde der Reiz der Gefahr in dem Zwang, die unterschiedlichen Koalitionen als Quintessenz des einen eigenen Prioritätenkatalogs darzustellen.

Funktionspartei – um der grünen Themen und Ziele willen

Soviel zu den parteitaktischen Erwägungen. Nun gibt es einem verbreiteten Vorurteil zufolge aber auch eine inhaltliche Dimension des Parteienwettbewerbs. Die „grüne Sache“ hat von ihm nicht schlecht profitiert, da es heute kaum mehr nötig ist, über das Warum und Wie von Umweltschutz und Energieseinsparung aufzuklären. Die Grünen mögen das aber mit gemischten Gefühlen sehen, weil sie in demselben Prozess an Originalität und zugeschriebener Unverzichtbarkeit verloren haben. Beileibe nicht alles, aber doch soviel, dass man sich um die verbliebene Restmenge Sorgen machen muss. Wenn sie in der Wahrnehmung der Wählerschaft nicht zur Funktionspartei im Sinne der Regierungsbildung absinken wollen, müssen sie sich nolens volens aufraffen, ihr Profil als Funktionspartei im Sinne wohldefinierter Ziele klarer zu machen.

Meine Hoffnung ist, dass sich die Grünen immer noch darauf verstehen, die gravierendsten Zukunftsprobleme der Gesellschaft nüchterner und schärfer in den Blick zu nehmen und den politischen Handlungsbedarf unverblümter zu benennen als es andere vermögen. Das haben sie in der Vergangenheit auf Gebieten wie Umwelt, Energie und Ernährung mit gutem Erfolg verstanden. Mindestens ebenso dringend und wichtig ist diese Aufgabe heute bei dem Großthema Sozialpolitik und soziale Sicherheit. Das ist eine Thematik, die in allen Parteien kontrovers behandelt wird, weil ideologische Traditionen, sachliche Aspekte und kurzfristige Prioritäten ein scheinbar unauflösliches Gemenge abgeben. Während die SPD im Wettlauf mit der „Linken“ wieder zur Position eines zukunftsblinden Linkskonservatismus gefunden hat und CDU/CSU zwischen marktradikalen und sozialfürsorgerischen Ansätzen oszillieren, können die Grünen aus ihrer - von den Ideologien des 19. Jahrhunderts unbelasteten Position heraus - den entscheidenden Beitrag zur Erhaltung eines inklusiven Sozialstaats leisten.

Nach dem kurzen Realitätsschub, den die Debatte über die Agenda 2010 in die Sozialpolitik gebracht hat, ist das im Parteiensystem vorherrschende Verständnis sozialpolitischer Aufgaben auf das Niveau der 80er Jahre zurückgefallen. Die Mindestlohndebatte - an sich wichtig und überfällig - wird geführt, als ginge es nur um die Kompensation von Wahlstimmenverlusten ohne Rücksicht auf eine vernünftige Balance von fairem Mindestentgelt und unverkürzter Arbeitsnachfrage. Als ob es nicht die Aufstocker-Option beim dem Arbeitslosengeld II und immer noch über drei Millionen Arbeitslose gäbe, denen ein Job im Niedriglohnsektor nicht automatisch als unzumutbar gilt. Die gleiche Problemvergessenheit ist derzeit in Sachen Rentenerhöhung und Pflegereform festzustellen. Aber um die konkreten Politikoptionen geht es hier gar nicht. Entscheidend ist vielmehr die Rückkehr zu einer Herangehensweise, die die ganze Gesellschaft und vor allem die Jüngeren, die Ausgeschlossenen und benachteiligte Gruppen in den Blick nimmt, und dabei die Dringlichkeit nachhaltiger Problemlösungen vermittelt.

Die Mentalität der Krisendiagnosen und Notstandsmaßnahmen überwinden

Es ist heute höchste Zeit, sich einen Begriff von dem zu machen, was uns nach der momentanen Erholungsphase des Wirtschaftswachstums und der Staatsfinanzen blühen wird. Da die neuen Industrieländer (China, Indien, Brasilien und viele andere mehr) erst am Anfang und nicht etwa am Ende ihres phänomenalen Aufstiegs stehen, befinden sich die „alten“ Industrieländer wie unseres zur Zeit am Ende eines noch relativ günstigen Möglichkeitsraums der gesellschaftlichen Selbstgestaltung. Mit der Einebnung der Leistungskluft und dem absehbaren Führungswechsel zwischen den neuen und den alten Industrieregionen werden die Gestaltungsspielräume bei uns aber erheblich schrumpfen. Der Übergang wird zusätzlich von den Auswirkungen der amerikanischen Kreditkrise - die ihren Höhepunkt noch vor sich hat -  sowie von stetig steigenden Energiepreisen begleitet sein. Deshalb ist es realistisch anzunehmen, dass nur in den nächsten fünf bis zehn Jahren – bei hinreichend verbreitetem Problembewusstsein – noch Innovationen an unseren Institutionen möglich sein werden, ohne dass alle guten Absichten in einer politischen Tagesordnung versickern, die nur von Krisendiagnosen und Notstandsmaßnahmen bestimmt ist.

Der akute Linkskonservatismus vermittelt ein Bild, in dem sich alle Probleme mit erhöhten Ausgabenprogrammen „lösen“ und negative Rückwirkungen mittels Ge- und Verboten beherrschen lassen. Das falsche Versprechen einer Wiederbelebung der 70er Jahre per Haushaltsentscheidung soll von der Einsicht ablenken, dass ein grundlegender Wandel der sozialpolitischen Prioritäten ansteht: von der Besitzstände garantierenden Versorgung zu einer differenzierten Palette von sozialen Investitionen, die die Bürger motivieren, aktivieren und qualifizieren, damit sie besser befähigt werden, den Eigenbeitrag zu ihrer persönlichen Wohlfahrt zu schultern.

Neue Sozialpolitik – ein grünes Thema mit großem Koalitionspotenzial

Während die alte „Linke“ nach dem Kollaps des realen Sozialismus Solidaritätsappelle vorzugsweise in eigennütziger Absicht - nämlich zur Wahrung von Insider- und Organisationsvorteilen – produzierte, hat sie die Suche nach realistischen Antworten auf den demographischen Wandel, die Deindustrialisierung, den Übergang zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft, die Ausdifferenzierung von Erwerbs- und Beschäftigungsformen sowie generell die Wettbewerbsbedingungen der neuen Globalökonomie schlicht versäumt. Was uns bevorsteht, wenn sich nichts ändert, ist eine alternde Gesellschaft, in der immer mehr alte Menschen die alten Rezepte beschwören und den Verlust der „guten alten Zeit“ beklagen. Wer wollte das aushalten?

Wenn überhaupt eine Partei in der Lage ist, den Komplex „Neue Sozialpolitik“ zu popularisieren und sich zum Katalysator einschlägiger gesellschaftlicher Debatten zu machen, dann sind es die Grünen. Mit problembewusstem Engagement, international informierten Alternativen – so könnte man hier von Skandinavien lernen! - und bewährtem Organisations-Know-how können sie eine Position besetzen, von der aus buchstäblich jede denkbare Koalitionsalternative (von Breilibü bis Jamaica) legitim und sinnvoll ist, wenn sie uns zu nachhaltigen Fortschritten zu einem zukunftsfesten Sozialstaat verhilft.

Helmut Wiesenthal ist em. Professor der Politikwissenschaft und Mitglied der Grünen Akademie