Vielfalt und Gemeinsamkeit - Zur Zukunft der Europäischen Union

Ralf Fücks im Rahmen unserer Konferenz "Europas gemeinsame Zukunft".
Foto: Stephan Röhl, Quelle: Flickr, Lizenz: CC BY-SA 2.0
Teaserbild: CC-BY VinothChandar

6. November 2012
Ralf Fücks

Krisen sind Beschleuniger des Wandels. Die Finanzkrise hat die Architektur der EU bereits grundlegend verändert. Dass kein Staat für die Schulden eines anderen haftet, war ein Eckstein des Maastricht-Vertrags. Inzwischen ist er zu Staub zerfallen. Ergänzend zu den interstaatlichen Rettungsfonds garantiert die Europäische Zentralbank die Refinanzierung der überschuldeten Staaten. Das Bundesbank-Modell hat ausgedient. Eine europäische Bankenaufsicht wird kommen; die Rekapitalisierung angeschlagener Banken erfolgt über den Europäischen Stabilitätsfonds. Das sind fast revolutionäre Entwicklungen. Sie folgten keinem Plan, keinem klaren Konzept von der Zukunft der EU, sondern wurden durch die normative Kraft des Faktischen erzwungen.

Dass eine gemeinsame Währung eine verstärkte politische Integration erfordert, ist zum Allgemeinplatz geworden. Das Stichwort heißt „Fiskalunion“. Was darunter zu verstehen ist, ist aber durchaus strittig. Läuft sie auf einen permanenten Finanzausgleich zwischen finanzstarken und defizitären Staaten hinaus? Wie weit soll die gemeinsame Haftung reichen? Erfordert sie auch eine Angleichung der Steuerpolitik und der Sozialsysteme? Mit der Budgethoheit der Mitgliedsstaaten, dem Königsrecht der Parlamente, wäre es dann nicht mehr weit her. Sie müssten sich strikten Vorgaben und Kontrollen unterwerfen. Denn eine Transferunion ohne Eingriffsrechte in die Politik der Mitgliedsstaaten wäre eine Einladung zur organisierten Verantwortungslosigkeit. Umgekehrt wird es keinen europäischen Finanzminister bzw. keine europäische Finanzimisterin als Kontrollinstanz über die nationalen Budgets ohne erweiterte Solidarhaftung geben – insofern sind Schäubles und Hollandes Forderungen nur zwei Seiten einer Medaille.

Das wirtschaftliche Gefälle innerhalb der Eurozone ist heute größer als vor Ausbruch der Krise. Auch die politischen Differenzen haben sich verschärft. Von einem starken europäischen Wir-Gefühl sind wir weit entfernt. Stattdessen vagabundieren alte Ressentiments frei durch die Lande. Während die Demonstranten in Griechenland den Finanznationalismus der Deutschen geißeln, grassiert in Deutschland die Sorge, zum Zahlmeister Europas zu werden. Die Wiederkehr nationaler Stereotype untergräbt die europäische Solidarität. Nach jahrelangem zögerlichen Krisenmanagement ist klar: die Währungsunion wird nur überleben, wenn Deutschland zu einem europäischen Lastenausgleich bereit ist. Griechenland, Portugal und Spanien sind in einer Abwärtsspirale, aus der sie sich nicht heraussparen können. Ihre Zinsen müssen sinken, die Investitionen steigen. Ohne partielle Vergemeinschaftung der Schulden wird es nicht gehen. Das ist der Preis, den Germania für die Verteidigung des Euro zahlen muss. Er ist allemal niedriger als die finanziellen und politischen Kosten eines Zerfalls der Währungsunion. Zugleich liegen die Risiken einer Haftungsunion auf der Hand. Wenn gemeinschaftliche Garantien die Eigenverantwortung der Mitgliedsstaaten aushebeln, wird es gefährlich. Denn die Haftung für die Folgen der eigenen Politik ist auf Dauer die einzig wirksame Schuldenbremse.

Europas Kräfte bündeln - aber wie?

Die Frage ist also, mit welchen institutionellen Arrangements die EU wieder Land gewinnt. Für europäische Heißsporne wie meinen Freund Dany Cohn-Bendit ist die aktuelle Krise eine historische Chance für den großen Sprung in ein postnationales Europa. In dieser Perspektive ist verstärkte Integration gleichbedeutend mit dem fortlaufenden Transfer von Souveränitätsrechten: von den nationalen Parlamenten zum Europaparlament, von den Regierungen zur Kommission, vom Bundesverfassungsgericht zum Europäischen Gerichtshof. Der Prozess der europäischen Einigung wird als Staatswerdung der EU gedacht, als Fortschreiten von einer Staatengemeinschaft zum europäischen Bundesstaat. Die Übertragung von Kompetenzen erscheint als Nullsummenspiel: was die EU an Befugnissen gewinnt, verlieren die Mitgliedsstaaten. Der europäische Raum wird verdichtet, die nationale Politik entleert.

Allerdings wird diese Perspektive von der großen Mehrheit der Bevölkerung nicht geteilt. Folgt man aktuellen Umfragen, wünschen sich 68 Prozent der Deutschen mehr Bürgernähe der Politik. Wie bringen wir das mit der Forderung nach „mehr Europa“ zusammen? Eine deutliche Mehrheit lehnt die „Vereinigten Staaten von Europa“ ab, sofern darunter eine Machtkonzentration auf europäischer Ebene verstanden wird. Die meisten Bürger wünschen sich eine intensive europäische Kooperation, aber keine weitreichende Preisgabe nationaler Souveränität. Sie haben ohnehin das Gefühl, immer weniger Einfluss auf die Geschehnisse zu haben, die ihr Leben bestimmen. Die Auslagerung politischer Entscheidungen in europäische Gremien verstärkt diesen Eindruck.

Man kann dem mit guten Gründen entgegenhalten, dass Europa seine Souveränität nur behaupten kann, wenn es seine Kräfte bündelt. Der springende Punkt ist, wie man sich dieses vereinigte Europa vorstellt: als von einem Zentrum aus regiertes Gebilde oder als ein flexibles Netzwerk europäischer Staaten mit gemeinschaftlichen Institutionen, in denen sie ihre gemeinsamen Angelegenheiten regeln? Mir scheint der Doppelcharakter der EU als Union der Staaten und der Bürger eine angemessene Antwort auf die Spannung zwischen europäischer Einheit und Vielfalt. Die Staaten bilden den Unterbau für die Gemeinschaftsinstitutionen, in denen wir uns als Europäer erkennen und verhalten. Das gilt insbesondere für das Europäische Parlament, das stärker ins Zentrum europäischer Politik rücken muss.

Integration statt Zentralisierung

Auf absehbare Zeit werden die nationalen Regierungen und Parlamente maßgebliche Akteure im europäischen Konzert bleiben: Vergemeinschaftung ja, aber als horizontale Integration, nicht als Zentralisierung europäischer Politik. Die EU ist kein Empire, das von einem Zentrum aus regiert wird. Es braucht gemeinsame Ziele und Regeln, ohne die Eigenverantwortung der Staaten zu suspendieren. Sie bleibt konstitutiv für die Funktionsfähigkeit der EU. Das ist auch eine Lehre aus der Schuldenkrise. Politikversagen in den Mitgliedsstaaten kann nicht durch „mehr Europa“ kompensiert werden. Auch die Zukunft der europäischen Demokratie entscheidet sich vor allem in den einzelnen Staaten. Von dort gehen die Gefahren für eine freiheitliche politische Kultur aus. Wir brauchen beides: verbindliche Normen und Ziele, die auf europäischer Ebene vereinbart werden, und den Wettbewerb um die besten Lösungen, der den Staaten und Regionen überlassen bleibt. Im Geiste des Föderalismus gilt, dass in Brüssel nur entschieden werden soll, was zwingend europäisch entschieden werden muss.

Im digitalen Zeitalter ist Zentralisierung ein anachronistisches Modell. Wir leben in einer Epoche rascher und tiefgreifender Veränderungen. In einer dynamischen Umwelt sind dezentrale Systeme überlegen. Sie sind flexibler und anpassungsfähiger als träge Großorganisationen. Europa sollte deshalb einen dritten Weg zwischen Zentralismus und Kleinstaaterei einschlagen. Schon die heutige Union von 27 (mit Kroatien bald 28) Staaten ist zu heterogen, um im gleichen Schritt und Tritt zu marschieren. Die Antwort auf dieses Problem heißt differenzierte Integration. Die Währungsunion ist ein prominentes Beispiel für eine Zone vertiefter Zusammenarbeit innerhalb der EU. Auch der Vertrag von Schengen umfasst nur eine Teilmenge der Mitgliedsstaaten.

Statt der fixen Idee nachzujagen, die ökonomischen, politischen und kulturellen Unterschiede in Europa einzuebnen, sollten wir die EU als Rahmen für vielfältige Kooperationsnetze betrachten. Wer bei der Integration der Streitkräfte, bei der Angleichung der Steuer- und Sozialsysteme oder bei der grenz­überschreitenden Vernetzung erneuerbarer Energien vorangehen will, soll das tun können, ohne auf alle anderen warten zu müssen. Ein solches System variabler Koalitionen ist etwas anderes als die Idee eines verfestigten „Kerneuropa“, das die EU in einen inneren und einen äußeren Kreis spalten würde. Es würde Raum für Großbritannien und andere integrationsskeptische Länder bieten, ohne sie das Tempo bestimmen zu lassen. Zugleich wäre es offen für neue Mitglieder vom westlichen Balkan bis zum Schwarzen Meer. Die Methode flexibler Zusammenarbeit ermöglicht beides: vertiefte Integration wie Erweiterung der Union, statt das eine gegen das andere auszuspielen.

Wenn wir über die Zukunft der EU sprechen, geht es um mehr als die Rettung des Euro. Die Gemeinschaft muss ihre inneren Probleme lösen, damit sie nach außen handlungsfähig wird. Weder dürfen wir den europäischen Osten (einschließlich Russlands) abschreiben, noch können wir bloße Zuschauer bei den Umwälzungen bleiben, die den Nahen Osten erschüttern. Wenn Europa als Stabilitätsanker und Leuchtfeuer der Demokratie ausfällt, wird gehen für Millionen Menschen die Lichter aus. In den letzten Jahren hat die Anziehungskraft der EU in ihrer Nachbarschaft stark nachgelassen. Das hat mit ihren inneren Krisen zu tun, aber auch mit dem Verblassen der Erweiterungsperspektive. Nabelschau macht sich breit, man möchte von den Querelen auf dem Balkan oder in der Levante nicht behelligt werden. Von einer konsistenten Russland- oder Türkeipolitik kann keine Rede sein. Sicherheitspolitisch bleibt Europa auf die Allianz mit den USA angewiesen, ohne eine aktive Rolle in der NATO zu spielen. Die Frage ist, ob Europa als strategischer Akteur relevant bleiben will. Wenn ja, dann müssen wir sowohl die Solidarität nach innen wie die Handlungsfähigkeit nach außen stärken.

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Der Artikel ist erstmals in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 4. November erschienen.

Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Er publiziert in großen deutschen Tages- und Wochenzeitungen, in internationalen politischen Zeitschriften sowie im Internet zum Themenkreis Ökologie-Ökonomie, Politische Strategie, Europa und Internationale Politik.

Dossier: Europas gemeinsame Zukunft

Die EU steckt nicht nur in einer Schuldenkrise, sondern auch in einer Vertrauens- und Demokratiekrise. Gerade jetzt ist eine breite öffentliche Debatte über alternative Vorschläge zur Zukunft Europas gefragt. Die Heinrich-Böll-Stiftung möchte mit dem Webdossier zu dieser Debatte beitragen.