Ex-Präsident Kroatiens: "Die Tür zur Europäischen Union offenhalten"

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Stjepan Mesić, ehemaliger Präsident Kroatiens
Herr Mesić, nächstes Jahr zur gleichen Zeit müsste Kroatien bereits seit einigen Monaten ein vollwertiges Mitglied der Europäischen Union sein. Wie betrachten Sie, als Mitwirkender bei der Außenpolitik und unmittelbarer Akteur des Beitrittsprozesses Kroatiens in die Europäische Union, aus heutiger Sicht den Weg zum EU-Beitritt in den letzten zehn Jahren? Hätte etwas anders gemacht werden sollen oder können?

Stjepan Mesić: Vieles davon hätte anders sein können oder müssen. Angefangen bei der Tatsache, dass wir von Beginn an und vollkommen vorbehaltlos mit dem Gericht in Den Haag hätten zusammenarbeiten sollen, was wir nicht getan haben, und unsere Justiz die Fälle von verübten Kriegsverbrechen von kroatischer Seite hätte selbst übernehmen müssen. Aber hier handelt es sich noch immer um Ausnahmen. Außerdem hätten wir einen viel mutigeren Anstoß einer regionalen Zusammenarbeit und Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit gebraucht. Schließlich mangelte es auch an einem offenherzigen Ansatz für die Problematik der Minderheitenfrage, und somit der Menschenrechte im Allgemeinen. Kurz gesagt, es wurde zu viel kalkuliert, zu viel spekuliert über mögliche Folgen, die durch sinkende Wählerstimmen erkennbar werden. Als Präsident habe ich getan, was in meiner Macht stand, ich habe Initiativen ergriffen, habe Prozesse angestrengt, öffentlich das vertreten, was ich hier im Ansatz gesagt habe, aber trotz all dem haben wir – meiner Meinung nach – sehr langsam Fortschritte gemacht. Und da liegt die Verantwortung allein auf unserer Seite.
 
Die Bürgerinnen und Bürger Kroatiens haben bei einem Volksentscheid JA gesagt und sich damit für eine europäische Zukunft Kroatiens entschieden. Da des Öfteren das Argument des Ausschlusses der Öffentlichkeit aus diesem Prozess aufkommt: Hätte man Ihrer Meinung nach doch etwas mehr dafür tun können, dass die Bürgerinnen und Bürger diesen Prozess als eine Art gemeinsamem Vorhaben empfindet, und dass die Zahl derer, die sich als mögliche Verlierer des Beitritts sehen, etwas geringer ausfällt?
    
Absolut, hier hätte wesentlich mehr getan werden können. Man hat zu spät mit einer ernsthaften und umfassenden Kampagne für Bürgerinformation begonnen. Nur von Zeit zu Zeit wurde daran gearbeitet, so dass ich wage zu behaupten, dass eine große Mehrheit der kroatischen Bevölkerung noch heute nicht alles über die Europäische Union weiß, was sie wissen sollte. Aus diesem Informationsdefizit entsteht bei vielen Bürgerinnen und Bürgern die Befürchtung, dass sie die Verlierer des EU-Beitritts Kroatiens sein werden.

Kroatien befindet sich in einer Zeit an der Schwelle der Europäischen Union, in der diese sich in ihrer bisher schwersten Krise befindet. Wie sehen es, dass der Annäherungsprozess Kroatiens an die EU parallel mit der Vertiefung der Krise innerhalb der Europäischen Union einhergeht und wir in dem Moment Mitgliedstaat werden, in dem es kräftigen Widerstand einiger Mitgliedstaaten gegen eine erweiterte Integration gibt?

Die Krise, insbesondere die Krise in der Euro-Zone, ist eine Sache; der Erweiterungsprozess der Union eine andere. Es ist absolut falsch, das eine mit dem anderen zu verbinden. Nicht nur, dass die Krise zweifellos da ist, sie vertieft sich auch noch, denn – nach meiner festen Überzeugung – wird nach verkehrten Lösungswegen aus der Krise gesucht. Allen voran retten sich jene, die die Krise ausgelöst haben, nämlich die Banken. Die Bauernopfer sind die Bürgerinnen und Bürger, die ohnehin Opfer der Krise sind und durch die radikalen Sparmaßnahmen der Politik zu immer größeren Opfern werden. Ich verstehe nicht, warum niemandem klar ist, dass durch bloßes Behandeln der Symptome, ohne sich mit den wahren Ursachen zu beschäftigen, die Krise – genau wie jede Krankheit – sich nicht bewältigen lässt. Ob die Ursache einer solchen „Blindheit“ in einer zu engen Beziehung zwischen dem politischen und dem Finanzsektor zu suchen ist, darüber möchte ich nur ungern spekulieren, wobei sich die Antwort hier von selbst aufdrängt. Man sollte anders an die Krise herangehen und sie durch andere Maßnahmen bewältigen, jedoch nicht durch immer radikalere Sparmaßnahmen, sondern  Produktionsförderung, der Schaffung neuer Arbeitsplätze, kurz gesagt: durch Entwicklung. Was die Erweiterung angeht, sage ich klipp und klar: Wer sich der Vollendung des europäischen Vereinigungsprozesses entgegenstellt, der verrät die Ideale derer, die den Grundstein für die heutige europäische Integration gelegt haben.
 
Auch wenn salopp von einem Betreten der 'Titanic' gesprochen wird, sendet Kroatien mit seinem EU-Beitritt doch ein positives Signal aus bezüglich der Zukunft der Europäischen Union, daher ist auch der Beitritt selbst von großer symbolischer Bedeutung. Ist dies vielleicht für ein neues Mitglied am Rande der EU eine ganz neue Gelegenheit, trotz der enormen Schwierigkeiten, in denen es sich selbst befindet?

Die Schwierigkeiten sind gemeinsam leichter zu lösen, aber  –  ich sage es noch einmal – wir müssen endlich die Ursache der Probleme erkennen. Sie kommen nicht aus dem Bereich der Produktion, sie werden nicht durch die Arbeitenden oder Arbeitslosen oder Rentnerinnen und Rentner verursacht. Nein, ihr Ursprung liegt im neoliberalen Modell, welches an sich auch im Finanzsektor, dem wahren Träger der Macht und der Regierung, periodisch Krisen erzeugt. Wenn Kroatien dazu beiträgt, dieses Bewusstsein in der EU durchzusetzen, dann haben wir viel erreicht. Natürlich wird und darf die Zukunft der Union und des Projektes der europäischen Vereinigung nicht in Frage gestellt werden. Nur wenn es geeint ist, kann Europa auf der Weltbühne die Rolle spielen, die ihm zusteht. Verteilt auf Nationalstaaten, in denen – leider – enge, nationale Interessen über den gemeinsamen, europäischen Interessen stehen, verurteilt Europa sich selbst dazu, außen vor zu bleiben und andere dabei zu beobachten, wie sie das Schicksal der Welt lenken. 

Laut letztem Bericht der Europäischen Kommission wird Kroatien dennoch zusätzliche Bemühungen bei den Schlüsselkapiteln unternehmen müssen, die zusätzlichen Druck bis zum Schluss, bis zum EU Beitritt verursachen werden. Wie bewerten Sie die Dynamik der bisherigen Reformen, die durch Druck von außen motiviert waren? Denken Sie, dass dieser Einfluss in der Nach-Beitrittsphase schwächer wird, oder bleibt er weiterhin bestehen?

Es sind mehr als zehn Jahre vergangen, seit ich öffentlich gesagt habe, dass wir manchmal den Druck von außen brauchen, denn ohne ihn hätten wir vieles von dem, was langfristig in unserem Interesse liegt, nicht getan. Diesen generellen Standpunkt vertrete ich heute noch, mit einer kleinen Ergänzung: Sollte sich dieser Druck als unmittelbarer Nachteil für Kroatien herausstellen,  sollte man z.B. hartnäckig auf einer Privatisierung bestehen, was dem Ende des Schiffbaus gleichkäme, dann sollten wir dies ablehnen. Natürlich gibt es Gründe und Anlässe für Ermahnungen hinsichtlich ungelöster Fragen im Bereich der Justiz, der Minderheitenfragen sowie auch bei der Korruptionsbekämpfung. Und es obliegt uns, die Gründe für derartige Ermahnungen zu eliminieren. 

Auch wenn die Mitgliedschaft Kroatiens in der Europäischen Union in kroatischen Kreisen einer Reihe von Kritiken ausgesetzt war, wird in der Region eine Mitgliedschaft auch weiterhin als großer Erfolg empfunden: Es ist das erste Land des Westbalkans, das gleichzeitig Mitglied der Europäischen Union ist. Wie denken Sie über die neuen Möglichkeiten, die sich aus einer zukünftigen EU-Mitgliedschaft Kroatiens für die Region eröffnen? Kann sie die Region stabilisieren in einer Zeit, in der sogar Griechenland, Spanien und Ungarn als EU-Mitgliedstaaten vor ernsthaften Problemen stehen?  

Zu den Problemen, mit denen sich Griechenland, Spanien und Ungarn derzeit auseinandersetzen müssen, habe ich mich bereits grundsätzlich geäußert. Ich wiederhole noch einmal: Wenn sich nichts am Ansatz zur Krise ändert, wird unser Beitritt in die Union daran nichts ändern. Allerdings, was die Region angeht, bin ich der Meinung, dass der Beitritt Kroatiens sich beruhigend auswirken und einen stabilisierenden Effekt haben könnte, aber nur unter einer Bedingung: Dass den anderen Staaten des Westbalkan klar mitgeteilt wird, und zwar in dem Augenblick, in dem Kroatien in die Union aufgenommen wird, dass die Tür für sie selbst nicht verschlossen bleibt. Unser Beitritt ist ohne Zweifel ein Erfolg, der sich motivierend auf die anderen in der Region auswirken kann. Er ist ein Erfolg, der beweist, dass auch ein Land, das unter den Folgen der Kriege leidet, in denen Jugoslawien zerfiel, unter den Auswirkungen der kriminellen Privatisierung und der seit Jahren andauernden Wirtschaftskrise, die alle Länder der Region betrifft, dass ein solches Land dennoch die Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft im vereinten Europa erfüllen kann.

Slowenien erwies sich im Verhandlungsprozess als Nachbarland, das diese Situation für Rechtsnachfolgefragen im Zusammenhang mit der Auflösung Jugoslawiens nutzte. Kürzlich wurde dies wieder aktuell und führte zu neuen dunklen Wolken am Himmel. Wie kann Kroatien seine EU-Mitgliedschaft nutzen und seine Rolle in der Region festlegen?

Wenn Kroatien erst der Union beigetreten ist, darf es sich keinesfalls so verhalten, wie es Slowenien uns gegenüber tut. Da heißt, wir werden bzw. dürfen unsere EU-Mitgliedschaft nicht als Druckmittel gegen irgendjemanden nutzen. Im Gegenteil: Unser Anliegen ist es, dass wir es sind, die die Tür zur Union für andere Länder der Region offen  halten. Wenn es etwas gibt, was wir nicht brauchen und keinesfalls wollen, dann ist es die Situation, in der – und nun verwende ich einen Begriff, dessen Bedeutung jedem in Westeuropa bestens bekannt ist – der Eiserne Vorhang von Schengen an unseren Landesgrenzen gezogen wird. Wir brauchen die Region, die Region braucht uns, und das vereinte Europa braucht uns alle zusammen. Ohne den Südosten des Alten Kontinents kann das Projekt der Vereinigung Europas nicht vollendet werden.  

Kürzlich haben sie von der Dämmerung des Sozialstaates in der Europäischen Union gesprochen. Wie sehen Sie die reellen Möglichkeiten für eine Rückkehr des Sozialstaates in die Sphäre des 'Realen', in Anbetracht des signifikanten Mangels an politischer Vorstellungskraft in unserer Gesellschaft für einen Ausweg aus der Krise?  Kann die kroatische Gesellschaft auch innerhalb der EU einen derartigen Wandel in diese Richtung vollziehen?   

Wir sollten uns nicht mit dem Komplex, ein kleines Land zu sein, belasten und uns auch nicht getreu dem Motto „Wir sind klein, wir können nichts, es sind die großen, die entscheiden“ verhalten. Nein, ich bin der Meinung, dass auch Kroatien als kleines Land, wie übrigens auch eine Reihe anderer kleiner und kleinerer Länder in der EU, in jedem Fall etwas dafür tun kann, damit sich eine andere Denkweise durchsetzt, selbst wenn diese neue Weise etwas bedeutet, was wir bereits hatten und es dann aufgegeben haben. Ich denke dabei nicht etwa an das, was wir unter dem Begriff Sozialismus kannten, sondern genau das, was Sie in Ihrer Frage erwähnten: an den Sozialstaat. Oder wenn wir die Dinge in einen weiteren Kontext stellen möchten: Ich denke an die Notwendigkeit, dass man sich wieder um die Interessen und Bedürfnisse der Menschen kümmert, anstatt sich ausschließlich darum zu kümmern, wie es den großen Finanzinstitutionen ergeht und wie wir das „System erhalten“. Warum? Wenn das System nicht gut ist, wenn es verbraucht ist, dann lasst es uns ändern. Es gibt genug kluge Menschen auf dieser Welt, die eine Alternative zum neoliberalen Modell, und auch eine Rückkehr des Sozialstaates in die Sphäre des Realen ersinnen können. Wenn wir die Auffassung akzeptieren würden, dass es eine solche Alternative nicht gäbe, wäre es fast so, als akzeptierten wir die Prophezeiung aus dem Kalender der Maya, der für Dezember diesen Jahres den Weltuntergang ankündigt. 

Auch in den Ländern der EU werden Neigungen zu extremen, autoritären und populistischen  Optionen immer sichtbarer, und leider trägt die Krise anscheinend zu diesem Trend bei. Zeitweise kommt im öffentlichen Diskurs in Kroatien, etwas naiv, die These über die Irreversibilität der demokratischen Veränderungen auf, die auch innerhalb der Grenzen der EU immer öfter dementiert werden. Welche Absicherungen braucht dier Gesellschaft, um nicht in diese Richtung abzudriften?  

Die einzigen Absicherungen dagegen sind die Stärkung einer echten Demokratie und Entwicklung. Solange die Krise andauert, solange die Menschen immer schlechter leben und um ihre Existenz bangen, sind sie sehr empfänglich für Rechts- und Linksradikalismus, wobei uns die Geschichte jedoch gelehrt hat, dass sich beide – wenn sie in Krisenzeiten an die Macht kommen, indem sie Ruhe, Ordnung und Arbeit versprechen -  in das Gegenteil dessen verwandeln, was sie versprochen hatten. Solch eine Gefahr ist reell und es wäre dumm, ich wage sogar zu behaupten: sträflich, die Augen vor dieser Gefahr zu verschließen. Auch die Länder des Real-Sozialismus lebten einst im Glauben, ihr System wäre irreversibel. Und er brach in sich zusammen wie ein Kartenhaus. Nichts ist irreversibel, auch nicht die Demokratie in Kroatien oder irgendeinem anderen Staat. Dies sollten wir uns Tag für Tag vor Augen halten und – mit diesem Gedanken – an der Demokratieentwicklung und einem dauerhaften Weg aus der Krise arbeiten.  

In den vergangenen Jahren haben einige namhafte Intellektuelle und europäische Staatschefs eine föderale Lösung für die Europäische Union befürwortet. Wie denken Sie persönlich über diese Art von Diskussion, hinsichtlich der Umstände des Zerfalls Jugoslawiens? Kann Kroatien hier, unproportional zu seiner Größe, auf irgendeine Art ein Stimmrecht haben oder eine Rolle spielen, indem es an der Debatte über die Zukunft Europas teilnimmt?

Als Mitglied der Union wird Kroatien ein Stimmrecht in der Debatte über seine Zukunft bekommen müssen. Daran besteht überhaupt kein Zweifel. Persönlich bin ich der Meinung, dass eine Föderalisierung der Europäischen Union der einzige Weg ist, um das „europäische“ über dem „nationalen“, ich möchte nicht sagen „nationalistischen“, zu erhalten. Ohne dies steht das Projekt EU, langfristig gesehen, auf wackeligen Beinen. Natürlich können hier sowohl die positiven, als auch die negativen Erfahrungen der ehemaligen jugoslawischen Föderation als nützliches Beispiel dienen, und in diesem Zusammenhang kann Kroatien – als neues EU-Mitglied – sehr wohl von großem Nutzen sein.   

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Stjepan Mesić ist ehemaliger Präsident der Republik Kroatien.
Das Interview führte Vedran Horvat, Leiter des Länderbüros Kroatien der Heinrich-Böll-Stiftung.