Investition in Chancen versus höhere Transferleistungen?

Elisabeth Niehjahr, Ralf Fücks, Andrea Nahles (v.l.n.r.). Foto: Neumann und Rodtmann, Lizenz: CC BY-NC-SA 2.0

21. Juni 2011
Torsten Arndt
Von Torsten Arndt

Wenn Sozialdemokraten und Grüne zur Bundestagswahl 2013 eine überzeugende politische Alternative anbieten wollen, werden gemeinsame Ziele und Strategien in der Sozialpolitik eine zentrale Rolle einnehmen müssen. Für die SPD handelt es sich nach den Erfahrungen mit der Agenda 2010 (in den Worten von Ralf Fücks) um ein "vermintes Thema", bei den Grünen gilt Sozialpolitik dagegen zumindest in Teilen der öffentlichen Wahrnehmung nicht gerade als politischer Kernbereich.

Ralf Fücks, Vorstandsmitglied der Heinrich-Böll-Stiftung, moderierte die Debatte zwischen der SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles, dem stellvertretenden Vorsitzenden der Bundestagsfraktion der Grünen Fritz Kuhn und der ZEIT-Journalistin Elisabeth Niejahr.

Das schwere Erbe der Hartz-IV-Gesetze

Eine Diskussion über rot-grüne Sozialpolitik ist immer noch undenkbar ohne eine Bestandsaufnahme der Agenda 2010. Die zwischen 2003 und 2005 eingeleiteten Reformen des deutschen Sozialsystems und Arbeitsmarkts spalten die Gemüter bis heute. Dies zeigte sich an diesem Abend auch in der Diskussion mit dem Publikum, die von der Forderung nach einer "Entschuldigung" der beteiligten Politiker eingeleitet wurde. Gemeinsamer Tenor der Gäste war jedoch, dass die Reform aufgrund der beträchtlichen Herausforderungen des Sozialstaats grundsätzlich berechtigt gewesen sei und auch vieles richtig gemacht wurde.

Moderator Ralf Fücks wies in seinen einführenden Anmerkungen darauf hin, dass der Sozialstaat damals wie heute enormen Problemen gegenüber stehe, die sich insbesondere aus der wirtschaftlichen Globalisierung, dem demographischen Wandel und der strukturellen Verschuldung der Haushalte ergeben. Die notwendigen Reformen müssten sowohl von einem Gerechtigkeitsbegriff als auch von einem Leitbild der "inklusiven Arbeitsgesellschaft" abgeleitet werden.

Fritz Kuhn verteidigte die Hartz-Gesetze auch in dieser Hinsicht, da die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe eine "große Ungerechtigkeit" im System beseitigt habe. Allerdings sei auch unstrittig, dass die Reformen Fehlentwicklungen verursacht hätten, die es zu korrigieren gelte. Dies treffe z.B. auf den offensichtlichen Missbrauch flexibler Arbeitsverhältnisse durch Unternehmen zu. Besonders betroffen seien allerdings Langzeitarbeitslose, die zweifellos zu den Verlierern der Agenda 2010 zählten.

Andrea Nahles stimmte Kuhn in diesem Punkt zu und meinte gar, dass sich die Politik hier "versündigt" habe. Die Einführung der Ein-Euro-Jobs sei z.B. eine "idiotische Antwort" auf das Problem der Wiedereingliederung der Betroffenen gewesen. Eine zentrale politische Lehre aus dieser Erfahrung müsse sein, dass künftige "Großversprechen" auch tatsächlich gehalten werden, so Nahles. Trotzdem bestand sie darauf, dass die SPD gerade wegen ihrer umstrittenen Sozialpolitik "viel Mut" bewiesen habe.

Perspektiven rot-grüner Sozialpolitik

Mit Blick auf die aktuellen Positionen beider Parteien stellte Elisabeth Niejahr, die seit vielen Jahren aus dem Hauptstadtbüro der ZEIT über wirtschafts- und sozialpolitische Themen berichtet, zunächst fest, dass sozialpolitische Gräben oft parteiintern verlaufen. Einige parteispezifische Eigentümlichkeiten gebe es aber nach wie vor, so hätten Armutsbekämpfung und die Gleichberechtigung der Frauen seit jeher einen zentralen Platz in der grünen Sozialpolitik. Die SPD spreche dagegen häufig die gesellschaftliche Mitte an. Damit verbunden sei die sozialdemokratische Wertschätzung des Leistungsbegriffs, der in der Bevölkerung ebenfalls große Zustimmung finde. Die Forderung vieler Grünen nach einem allgemeinen Grundeinkommen sei mit diesem Anspruch kaum zu vereinbaren.

Auf der anderen Seite gestand Niejahr den Grünen zu, eine wirklichkeitsnähere Vorstellung von den Bedingungen des heutigen Arbeitsmarktes zu haben, die sich z.B. in der Analyse der drohenden Altersarmut vieler unregelmäßig beschäftigter Arbeitnehmer niederschlage. Während die Grünen beabsichtigten, hier rechtzeitig gegenzusteuern, hoffe die SPD immer noch auf die Heilkräfte des traditionellen Arbeitsmarktes. Diese Perspektive sei allerdings unrealistisch und helfe den jetzt Betroffenen nicht weiter, so Niejahr. Die demografische Entwicklung und der zu erwartende Fachkräftemangel auf dem deutschen Arbeitsmarkt könnten nach Ansicht von Niejahr für Arbeitnehmer aber auch Anlass zur Hoffnung sein. Künftig sei durchaus denkbar, dass die Verhandlungspositionen der Gewerkschaften neu erstarken und "Bosse" häufiger als "Bittsteller" auftreten müssen.

Den Ruf der Grünen als sozialpolitische "Anfänger" betrachtete Frau Niejahr als ungerechtfertigt, da sie selbst seit 1993 journalistische "Kronzeugin" grüner Sozialpolitik sei. Die öffentliche Wahrnehmung übersehe auch, dass das "bürgerliche" Image der Grünen von ihrer sozialpolitischen Beschlusslage, die oft genug links von der SPD einzuordnen sei, konterkariert werde. Niejahr vermutete, dass diese widersprüchlichen Eindrücke auf den unterschiedlich gelagerten Stellenwert des Themas in den Parteien zurückzuführen seien. In eventuellen Koalitionsverhandlungen dürfte es wohl die SPD sein, die sich für ihre sozialpolitischen Vorstellungen "verkämpfen" werde, so Elisabeth Niejahr.

Andrea Nahles ergänzte das sozialdemokratische Leitbild des Leistungsgedankens mit der Devise: "Jeder soll arbeiten, jeder soll arbeiten können." Die Überzeugung, dass Arbeit neben der Sicherung des Lebensunterhaltes auch für die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben unerlässlich sei, ließe sich tatsächlich nur schwer mit der Idee eines allgemeinen Grundeinkommens vereinbaren. Diese Auffassung hat Nahles zufolge in den letzten Jahren aber auch unter den Grünen neue Anhänger gefunden.

Die Grünen würden sich nicht einfach nur in einer Art "Arbeitsteilung" sozialdemokratischer Sozialpolitik anschließen, unterstrich dagegen Fritz Kuhn. Zwischen beiden Parteien gebe es auch hier echte Konkurrenz. Der grüne Fokus auf die Armutsbekämpfung sei gerechtfertigt, da Armut auch die gesellschaftliche Mitte betreffen müsse. Der Idee eines allgemeinen Grundeinkommens stand allerdings auch Kuhn ablehnend gegenüber, wobei er argumentierte, dass die Debatte mit dem diesbezüglichen Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts eigentlich schon entschieden sei: Kein realistisch kalkuliertes Grundeinkommen werde in der Lage sein, das vom BVG geforderte "menschenwürdige Existenzminimum" zu gewährleisten.

Was muss progressive Sozialpolitik künftig leisten?

Elisabeth Niejahr warf gleich zu Beginn einen Fehdehandschuh in die Runde, indem sie den deutschen Sozialstaat für zu groß erklärte. Die begrenzten Mittel würden viel zu stark zur Unterstützung einer recht gut versorgten Mittelschicht ausgegeben. Als Beispiel führte Niejahr die Regelungen für Kindergeld und "Ehegattensplitting" an. Der ausgreifende Sozialstaat sei auch deshalb problematisch, weil er in zu viele Lebensbereiche eingreife, in denen er zumindest aus liberaler Sicht nichts zu suchen habe. Bei den Betroffenen selbst sei durchaus eine Bereitschaft für konsequente Reformen zu erkennen, so Niejahr. Wie schnell sich hier vermeintlich festgefügte Fronten auflösen können, sei am Beispiel der unerwartet zügigen Aussetzung der Wehrpflicht abzulesen.

Andrea Nahles und Fritz Kuhn widersprachen der Einschätzung Niejahrs. Kuhn erinnerte daran, dass die Hartz-IV-Regelungen gerade in der Mittelschicht große Ängste ausgelöst hätten, die durch umfangreiche Leistungskürzungen  kaum geringer würden. Auch die SPD-Generalsekretärin warnte davor, Leistungen für die Mittelschicht generell in Frage zu stellen, da dies die politische Legitimation des Sozialstaats gefährden würde. Dessen Aufgabenspektrum müsse weiterhin auch die Sicherung der Lebensplanung derjenigen beinhalten, die ihn letztlich finanzieren.

Der Finanzierungsvorbehalt künftiger Sozialpolitik, der bereits im Titel der Veranstaltung zum Ausdruck kam, wurde von den drei Gästen anstandslos anerkannt. Andrea Nahles wehrte sich allerdings gegen die Suggestion, dass der zentrale Widerspruch zwischen sozialen Transferleistungen und Investitionen in soziale Infrastrukturen zu finden sei. Beides sei wichtig, in beiden Bereichen gebe es Spielraum für Kürzungen und Bedarf nach zusätzlicher Finanzierung. Bei allen Sparvorschlägen sei es in jedem Fall illusorisch zu glauben, dass sich eine vernünftige Sozialpolitik ohne eine Erhöhung der Steuerquote finanzieren ließe.

Fritz Kuhn griff die Gegenüberstellung zwischen Transferzahlungen und Infrastrukturinvestitionen dagegen auf und erläuterte, dass Deutschland im internationalen Vergleich zu stark auf ersteres setze. Angesichts klammer Kassen sollte künftig der Grundsatz gelten, dass Investitionen im Zweifelsfall immer bevorzugt finanziert werden, so Kuhn. Gerade im Hinblick auf die Armutsbekämpfung sei dies längerfristig wirksamer, da die Betroffenen neue Chancen erhielten, ihre Lage zu verbessern. Die Komplexität dieser politischen Entscheidungen werde freilich dadurch erhöht, dass Transferleistungen meistens vom Bund und Investitionen in soziale Infrastruktur in der Regel von den Ländern getragen werden müssten, so Kuhn.

Der zeitliche Rahmen der Veranstaltung machte es unmöglich, dass konkrete sozialpolitische Sachgebiete mehr als nur gestreift wurden. Einen längeren Austausch gab es vor allem hinsichtlich der Altersvorsorge sowie der künftigen Organisation der Pflege und Betreuung bedürftiger Bürger. Zur künftigen Rentenregelung kündigte Andrea Nahles baldige Antworten der SPD an, die sich vor allem auf die Armutsprävention konzentrieren würden.

Auch Fritz Kuhn wich einer konkreten Antwort eher aus und beließ es bei der Erwähnung einer Art "Garantierente", die in den kommenden Jahren notwendig werden könnte. Elisabeth Niejahr durfte als Journalistin etwas deutlicher werden und wünschte sich radikalere Lösungsansätze wie die Differenzierung des Renteneintrittsalters oder die Auszahlung von Teilrenten. Rentner würden künftig auch im vermeintlichen Ruhestand zumindest zeitweise arbeiten müssen. Die Schärfe dieses Problems werde bald zu Tage treten und die sozialpolitischen Verteilungskämpfe möglicherweise sogar dominieren, so Niejahr.

Ein noch größerer "Elefant im Raum" war nach Ansicht von Ralf Fücks allerdings die künftige Regulierung und Finanzierung der Pflege im Alter. Diese Herausforderung bei der Sicherung einer humanen Gesellschaft könne angesichts der sich abzeichnenden demografischen Entwicklung kaum überschätzt werden, so Fücks zum Abschluss der Podiumsdiskussion. Auch Elisabeth Niejahr führte die Pflege als Paradebeispiel für die Notwendigkeit staatlicher Intervention an, um höhere Gehälter und bessere Qualifikation der Pflegekräfte zu sichern.

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