China: Die Grenzen des Aufschwungs

6. Mai 2009
Von Barbara Unmüßig
Von Barbara Unmüßig, Vorstand Heinrich-Böll-Stiftung

China mit seinem gigantischen Binnenmarkt, seiner Attraktivität für ausländische Direktinvestitionen und den weltgrößten Währungsreserven in Höhe von fast 1,6 Billionen Euro gilt als besser gewappnet gegen die Folgen der Finanzkrise als alle anderen Schwellenländer. China ist binnen 30 Jahren zu einer der größten Wirtschaftsnationen aufgestiegen und damit zu einer tragenden Säule der Weltwirtschaft geworden. Damit stellt sich die Frage, wie stark Chinas Wirtschaft tatsächlich von der Krise betroffen ist und welche Maßnahmen die Regierung ergreift. Leistet das chinesische Konjunkturprogramm dem Green New Deal Vorschub, oder kommen die Maßnahmen, die einen ökologischen und nachhaltigen Umbau versprechen, zu kurz?

Riskante Geldgeschäfte

Kursstürze an der Börse und heftige Verluste milliardenschwerer Anlagen wie bei den beiden  Hypothekengiganten Fannie Mae und Freddie Mac oder bei anderen US-amerikanischen und europäischen Banken zeigen: Auch China war in riskante Geldgeschäfte auf den internationalen Finanzmärkten involviert. Allerdings ist der größte Teil der chinesischen Devisenreserven in relativ sichere US-amerikanische Schuldverschreibungen angelegt. Die staatliche Kontrolle des Kapitalverkehrs, die solide Finanzierung der Banken und der meisten Unternehmen hat hier Schlimmeres verhindert.

Gleichwohl bekommt China die Folgen der Finanzkrise massiv zu spüren. Chinas Exportsektor ist immerhin für 40 Prozent des chinesischen Bruttoinlandsprodukts verantwortlich und ist vom weltweiten Abschwung, insbesondere durch den Einbruch der Nachfrage aus den USA, erheblich betroffen. „Es sind Chinas ineffizientes Wachstumsmodell und die unausgeglichene ökonomische Struktur, die Chinas Wirtschaft verwundbar machen“, sagt Yu Yongding, Direktor des Instituts für Weltwirtschaft und -politik an der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften.

Strukturelle und hausgemachte Probleme werden durch die Wirtschafts- und Finanzkrise zusätzlich verstärkt und setzen die chinesische Wirtschaft massiv unter Druck. Die zweistelligen Wachstumsraten der vergangenen Jahre schmelzen. Mitte März hat die Weltbank die Wachstumsprognosen für Chinas Wirtschaft erneut nach unten korrigiert, auf nur noch 6,5 Prozent. Auch die chinesische Führung verabschiedet sich von Wachstumsraten im zweistelligen Bereich, doch verspricht sie für 2009 einen Anstieg des BIP um 8 Prozent. Das braucht China  um zusätzliche Jobs zu schaffen. Die Arbeitslosigkeit in den Städten liegt offiziell bei 4,2 Prozent, andere Quellen gehen von 9 bis 12 Prozent aus. 1,5 Millionen Universitätsabgänger sind ohne Arbeit, und sieben Millionen weitere werden 2009 auf den Arbeitsmarkt drängen. Vor allem aber haben nach offiziellen Angaben 26 Millionen Wanderarbeiter ihre Beschäftigung in den Fabriken für Exportgüter verloren und finden in ihren Dörfern nun keine Lebensgrundlage mehr.

Spielzeugindustrie in der Krise

Mit Blick auf den industriellen Sektor macht insbesondere die Spielzeugindustrie Schlagzeilen: Sie steckt durch den weltweiten Nachfragerückgang in der Krise. Verschärft wird diese durch die großen Rückrufaktionen von Spielzeug und die gestiegenen Produktionskosten. 2008 wurden allein in der Südprovinz Guangdong rund eintausend Spielzeugfabriken geschlossen.

Die Wachstumszentren der Ostküste mit ihren Weltmarktfabriken (Kleidung, Schuhe, Chip-Herstellung) sind seit langem einem harten Wettbewerb durch andere Billiglohnländer wie Bangladesh, Philippinen, Vietnam oder Laos ausgesetzt. Der an den Dollar gebundene Yuan ist von der Aufwertung des Dollars betroffen: Chinesische Exporte vor allem aus den arbeitsintensiven Industrien sind nochmals teurer geworden.(1) Diese Entwicklungen gefährden den sozialen Frieden. Schon im letzten Jahr gab es gewaltsame Proteste vor den Fabriken.

Die chinesische Regierung und die KP China sind alarmiert: Das Jahr 2009 sei das schwerste Jahr seit der Jahrtausendwende. Die Ankurbelung der Binnenwirtschaft ist das alte und neue Mantra der chinesischen Regierung. Bereits im November 2008 kündigte sie ein Konjunkturprogramm in Höhe von 458 Milliarden Euro an (1). Damit will sie den Wachstums- und Beschäftigungsmotor am Laufen zu halten. Ferner kündigte die chinesische Regierung eine deutliche Liberalisierung des Finanzsektors an. Mit Zinssenkungen der Zentralbank – es sind fünf Prozent seit September 2008 – und einer Lockerung der staatlichen Kontrollen der Kreditvergabepolitik der Banken soll vor allem die Kreditvergabe für mittelständische und kleinere Firmen angeregt werden. Da alle große Banken dem Staat gehören und die Vorstände von der Regierung ernannt sind, zeigen die Entscheidungen bereits Wirkung: Die Bankkredite an Firmen sind im Dezember 2008 angestiegen. (2)

Umfangreiches Konjunkturpaket

Das Konjunkturpaket ist eine Mischung von Investitionen, Sozialprogrammen und Subventionen. Die größten Posten sind für Infrastruktur, Wohnungsbau und die Entwicklung der ländlichen Regionen vorgesehen, darunter auch für den Aufbau der vom Erdbeben verwüsteten Gebiete in der Provinz Sichuan. Kritiker in und außerhalb Chinas dagegen bemängelten den hohen Anteil an Infrastrukturprojekten und den vergleichbar kleinen Anteil an Investitionen in Humankapital.

Denn angekündigt wurden massive Investitionen in den öffentlichen Wohnungsbau, um so die heimische Bauwirtschaft wieder anzukurbeln. Investitionen in Milliardenhöhe sind für die Krankenversicherung vorgesehen wie für die Subventionierung des Getreidepreises, für letzteres sind 12 Milliarden Euro allein für das Jahr 2009 eingeplant. Besonderes Augenmerk gilt der wirtschaftlichen Entwicklung der über viele Jahre hinweg vernachlässigten ländlichen Regionen. Dort sollen die Lebensbedingungen mit vielfältigen Maßnahmen verbessert werden. In den Boomjahren wurde zu wenig in die Landwirtschaft und Infrastruktur auf dem Land investiert. Millionen Bauern haben Ackerland an Industriezonen verloren, oft ohne dafür angemessen entschädigt zu werden. Die Verseuchung von Boden und Wasser, Erosion und Überschwemmungen sind weitere Probleme. Die Führung unter Hu Jintao hat seit 2005 die Entwicklung der ländlichen Regionen betrieben, die Bauern von Steuern befreit und Gebühren für die neunjährige Pflichtschule abgeschafft. Jetzt aber kommt die Wirtschaftkrise auf dem Land als Krise der Kaufkraft an, da Millionen von Wanderarbeiter/innen weniger oder gar kein Geld mehr nach Hause schicken können.

Wie sehr sich die chinesische Regierung um die politische Stabilität auf dem Lande sorgt, wo 840 Millionen Menschen leben, zeigen auch die Einmalzahlungen, die gerade an die 70 Millionen ärmsten Chinesen geleistet wurden, oder die verteilten Naturalien wie Reis, Fisch oder Öl.

Hilflos und kurzsichtig mutet die Aktion „Haushaltsgüter für Bauernland“ an. Für Fernseher, Waschmaschinen, Klimaanlagen, Mikrowellen und Mopeds bekommen Käufer vom Staat 13 Prozent des Preises ausgezahlt. Überall in China sollen dafür bis zu 10.000 Verkaufsstellen aufgebaut werden.(3) 1,7 Milliarden Euro will die Regierung allein 2009 für dieses Programm ausgeben. Bis 2013 soll es laufen. Mit diesem staatlichen Subventionierungsprogramm werden die riesigen Überkapazitäten der Elektronik- und Haushaltsgerätehersteller abgebaut. Für chinesische Konzerne und internationale Joint Venture ist das chinesische Konjunkturprogramm somit ein Riesengeschenk angesichts ihrer großen Lagerbestände an Waschmaschinen, Kühlschränken und Klimaanlagen. So werden Ladenhüter an Mann und Frau gebracht, egal ob diese Konsumgüter gerade zu ihren Prioritäten gehören oder nicht.(4) Die wirtschaftlichen und ökologischen Folgekosten spielen offensichtlich keine Rolle. Mit einer wohlüberlegten, nachhaltigen Entwicklungsstrategie fürs Land hat das nicht viel zu tun, allenfalls werden hier Grundlagen für ein stromfressendes Entwicklungsmodell gelegt und knappe Kaufkraft abgezogen statt aufgebaut. Ob die schönen neuen Konsumgüter und die Naturalien dazu taugen, die soziale und politische Unzufriedenheit der Menschen besänftigen zu können, ist zweifelhaft.

Siemens hofft auf Großaufträge

Das 458 Milliarden Euro schwere chinesische Konjunkturprogramm interessiert nicht nur die Chinesen. Auch internationale Konzerne wie Siemens hoffen auf neue Investitionen. Der Konzern ist seit Jahrzehnten mit Milliardensummen in China aktiv. Jüngst hat Nokia Siemens Networks mit den Telefonkonzernen China Mobile und China Unicom eine Rahmenvereinbarung über die Lieferung von Mobilfunk-Ausrüstung und -Dienstleistungen im Wert von 880 Millionen Euro unterzeichnet.(5) Siemens hofft auch auf Großaufträge beim U-Bahnbau und für neue Hochgeschwindigkeitszüge. Die Verhandlungen für hundert ICEs sind im Gange.(6)

Auch in den Ausbau der Energieinfrastruktur auf dem Land will China investieren und stellt neben Investitionen für den Infrastrukturausbau 24 Milliarden Euro für Umweltschutz und Energieeffizienz zur Verfügung. Zunächst waren sogar 40 Milliarden Euro für diesen Bereich vorgesehen, ein Vorhaben, dass das World Resources Institut als einen Schritt in Richtung „grüner“ Umgestaltung der chinesischen Wirtschaft lobte. Die Ausgaben für den Umweltschutz wurden jedoch mittlerweise um 40 Prozent auf 24 Milliarden Euro gekürzt. An diesem „grünen“ Markt hat Siemens ebenfalls Interesse. Der Konzern will in Energie- und Emissionsreduktionen investieren, vor allem aber bei den Infrastrukturmaßnahmen auf dem Lande mitmischen. Hier will er Technologien für die elektrische Stromproduktion, die Stromverteilung und beim Stromkonsum anbieten. (7) Außerdem will Siemens sich in der Wind- und Solarenergie engagieren. Die ambitionierten Ziele für erneuerbare Energien - zehn Prozent bis 2010, 15 Prozent bis 2020 - schaffen Investitionsanreize auch für ausländische Konzerne. Siemens‘ Ziel, im laufenden chinesischen Wirtschaftsjahr doppelt so stark zu wachsen wie die Wirtschaft des Landes selbst, - so der Konzern-Chef für China, Richard Hausmann, im Interview mit dem Wirtschaftsmagazin Euro – ist durchaus realistisch: Siemens hat die Hochtechnologien, die China in seine Zukunft investieren will.(8)

Die heftigste Kritik am chinesischen Konjunkturprogramm betraf die mangelnde Transparenz. Nach der Ankündigung des Pakets im November 2008 formierte sich eine landesweite Bewegung, die im Internet die Offenlegung von Details forderte. Medien unterstützten die Kampagne und ein Shanghaier Anwalt drohte unter Berufung auf ein neues Transparenzgesetz mit einer Klage, sollten die zuständigen Behörden nicht genaue Zahlen über die Verwendung der Gelder auf den Tisch legen. Selbst die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua stellte sich hinter die Bewegung. Schließlich kündigte die Regierung an, nach der Abstimmung im Nationalen Volkskongress Details zu veröffentlichen.

Der jährlich stattfindende Volkskongress, Chinas gesetzgebende Versammlung, tagte Mitte März. Hauptthema in diesem Jahr: Die Verabschiedung des Haushalts und Konjunkturpakets. Mehr als 400 von 2898 Abgeordneten stimmten gegen das Paket oder enthielten sich. Diese für das Einparteienparlament ungewöhnlich hohe Zahl ist womöglich eine Reaktion auf die mangelnde Transparenz. Hu Shuli, Chefin des renommierten Finanzmagazins Caijing, bescheinigt der diesjährigen Versammlung zwar ganz erhebliche Fortschritte bei der Offenlegung des Haushalts, fordert aber eine lange Liste weiterer Verbesserungen.

Weitere Details über das Konjunkturpaket liegen derzeit noch nicht vor, aber die bisher bekannten Zahlen sind aktualisiert worden und zeigen, dass die Kritik am Paket aufgegriffen wurde: Die Investitionen in Bildung und Soziales wurden massiv erhöht. Fast verdreifacht wurden die Mittel für den Aufbau der Gesundheitsversorgung und des Erziehungssystems von 4,6 auf 17 Milliarden Euro. Auch für Forschung und Innovation soll jetzt deutlich mehr bereit gestellt werden. Statt wie ursprünglich angekündigt 18,3 Milliarden Euro werden jetzt 31 Milliarden Euro zur Verfügung stehen. Das zeigt, dass man in Peking entschlossen ist, den langfristigen Umbau der Wirtschaft in Angriff zu nehmen, weg von der Werkbank der Welt, hin zu einer mehr wissens -und serviceorientieren Wirtschaft. Die Mittel für Infrastruktur und Verkehr wurden dafür reduziert, machen aber noch immer den größten Posten aus. Auch die Ausgaben für den Umweltschutz wurden im Zuge dieser Neuschnürung des Konjunkturpakets um 40 Prozent gekürzt.

Entwicklung vor Umweltschutz

Die Finanzkrise kann Chinas Entwicklungsdilemma nicht auflösen. Die Regierung gibt im Zweifel der Entwicklung seiner ärmsten Provinzen und damit der sozialen Stabilität Vorrang vor dem Umweltschutz. Ein radikales Umdenken wird es hier nicht geben. Die Investitionen in die Infrastruktur und Innovation beinhalten aber immer noch Chancen für einen Green New Deal. Der Ausbau der Eisenbahn und die Förderung von Energie- und Ressourceneffizienz sind erste gute Ansätze. Immerhin noch 24 Milliarden Euro sind für den direkten Umweltschutz vorgesehen. Entscheidend ist jetzt nicht nur, in welche konkreten Maßnahmen die Mittel fließen werden, sondern ob China in der Lage sein wird, diese sinnvoll umzusetzen. Der Teufel liegt im Detail, meint Yu Yongding. Wenn das Konjunkturpaket nicht die Nachfrage von Haushalten und kleineren Betrieben ankurbele, sondern die Provinzregierungen zu weiteren kurzsichtigen Investitionen animiere, dann werde es scheitern.

Bereits vor dem Volkskongress hat das Umweltministerium grüne Richtlinien für Direktinvestitionen aus dem Ausland angekündigt. Die sind im Februar 2009 um mehr als 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr gesunken. Doch als Land mit dem größten Binnenmarkt der Welt wird China attraktiv für Investoren bleiben und weiter einen nennenswerten Beitrag zur globalen Wirtschaftsentwicklung leisten. Ob diese Entwicklung für künftige Generationen vertretbar sein wird, hängt davon, ob wir alle unsere Konsum- und Produktionsmuster tiefgreifend ändern können. Jetzt ist die Chance dazu.

 

Der Artikel ist in der Zeitschrift Internationale Politik (Ausgabe 05/2009) erschienen.

Bemerkungen:

1.Hanns Günther Hilpert: China: Domino oder Rettungsanker der Weltwirtschaft?, in: Hanns Günther Hilpert und Stormy Mildner (Hrsg.), Globale Ordnungspolitik am Scheideweg. Eine Analyse der aktuellen Finanzmarktkrise, SWP-Studie Februar 2009, Berlin, S. 27-31
2. Fu Jing und Si Tingting: NDRC reveals details of stimulus package, in: China Daily vom 27.11.2008
3. The Economist: China’s flagging economy. Strong as an ox?, Ausgabe vom 22.01.2009, Hong Kong.
4. Economist, a.a.O
5. Johnny Erling: Der Wirtschaftsriese steckt in der Krise, in: RP Online vom 04.02.2009
6. Süddeutsche.de: Nokia Siemens erhält Großauftrag aus China, in Süddeutsche.de vom 25.02.2009
7. Tagesspiegel: Siemens hofft auf Großprojekt in China, in: Tagesspiegel vom 08.12.2008
8. People’s Daily Online: Siemens sets eyes on China’s „green“ market, in: People’s Daily Online vom 11.02.2009,
9. Interview mit Richard Hausmann: In China kommen wir zum Zuge, in €uro, Ausgabe 3/2009

Barbara Unmüßig

Barbara Unmüßig ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung. Sie hat zahlreiche Zeitschriften- und Buchbeiträge zu Fragen der internationalen Finanz- und Handelsbeziehungen, der internationalen Umweltpolitik und der Geschlechterpolitik veröffentlicht.