Interview mit Wladislaw Surkow: "Putin stärkt den Staat, nicht sich selbst"

Wladislaw Surkow mit Putin und Medwedew am 15. Januar 2008. Quelle: kremlin.ru. Lizenz: frei.

10. November 2004
Interview von Wladislaw Surkow
Interview des stellvertretenden Leiters der Präsidentenadministration der Russischen Föderation, Wladislaw Surkow in der Tageszeitung „Komsomolskaja Prawda“ vom 29.09.2004

Komsomolskaja Prawda: Warum werden die Maßnahmen gebraucht, die die Obrigkeit vorschlägt?

Wladislaw Surkow: Am 4. September hat der Präsident erklärt, dass Russland angegriffen wurde, dass sich das Land faktisch im Kriegszustand befindet. Wenn ein Unglück kommt, dann ergibt sich die erste Frage von selbst: warum wir? Warum ist das ausgerechnet mit uns geschehen? Wissen Sie, in Amerika, in Europa und im Osten kann man die Leute, die Entscheidungen treffen, in zwei Hauptgruppen aufteilen, die sich durch ihre Einstellung zu unserem Land unterscheiden. Die Vertreter der ersten Gruppe glauben daran, dass unsere Demokratie eine Perspektive hat, sie unterstützen uns, sie richten ihre Anstrengungen auf die Wiedergeburt und Stärkung Russlands als wichtigen Bestandteil der weltweiten geopolitischen Balance, als bedeutenden Absatzmarkt, sowie als guten und gutmütigen Nachbarn und verlässlichen Verbündeten aus.

Die zweite Gruppe besteht meiner Vorstellung nach aus Leuten, die fortfahren in den Phobien des „Kalten Krieges" zu leben. Sie betrachten unser Land als potenziellen Gegner, der die vollständige finanzielle Blockade von Terroristen und deren politische Isolierung verhindert. Sie halten den unblutigen Kollaps der Sowjetunion für ihren Verdienst und versuchen diesen Erfolg auszuweiten. Ihr Ziel ist es, Russland zu zerstören und seine enormen Weiten mit zahlreichen nicht handlungsfähigen, quasistaatlichen Gebilden zu füllen.

Leider haben sie nicht nur Ziele, sondern auch Mittel. Und diese Mittel stellt ihnen teilweise unsere Gesellschaft selbst zur Verfügung. Die beispiellose Korruption und eine unverständliche Sozial- und Wirtschaftspolitik im Nordkaukasus produzieren, mit tragischen Fehlern der Vergangenheit multipliziert, ein kriminelles Milieu aller möglicher Formen im Übermaß. Und diesem kriminellen Milieu ist es doch gleichgütig, ob es nun raubt oder „um Unabhängigkeit kämpft". Indem sie Ableger des Netzes der terroristischen Internationale werden, beginnen Menschenräuber und Kindermörder verschiedene zweifelhafte politische Projekte zu bedienen. Eine, das muss hier gesagt werden, nicht gerade neue Technologie. Die Explosion unserer südlichen Grenzgebiete als Mittel zur Schwächung Russlands wurde im 19. Und im 20. Jahrhundert mehrfach genutzt. Daran muss man sich nur erinnern.

KP: Aber es gab doch den 11. September in New York, die Terroranschläge in Spanien. Braucht man etwa neue blutige Bestätigungen dafür, dass die terroristische Bedrohung globalen Charakter trägt? Was muss Ihrer Meinung nach noch geschehen, damit sich alle zusammenschließen? Damit die Politik des doppelten Standards verschwindet, über die der Kreml so oft spricht?

WS: Die äußerst unterschiedlichen Bewertungen dessen, was in Russland passiert, hängen mit dem Unwillen des modernen Menschen zusammen, von positivistischen Illusionen zu lassen. Es hat sich heraus gestellt, dass die Welt nicht so herrlich und vernünftig ist, wie man das gern hätte. In ihr lebt ein Feind, dem man mit sogenannten „zivilisierten" Methoden nicht beikommt, also damit, zu überreden, zu kaufen, zu betrügen oder alles auf den Nachbarn zu schieben.

Es ist kein Zufall, dass Putin in einer seiner Reden vor Kurzem solche Reaktionen eines Teils der Weltelite mit der Stimmung Ende der 30er Jahre des vergangenen Jahrhunderts verglichen hat. Die Unterzeichnung des Münchner Abkommens am Vorabend des Zweiten Weltkriegs und der traurig berühmte Molotow-Ribbentropp-Pakt waren dumme Versuche „das Raubtier mit fremdem Fleisch zu füttern", also auf fremde Kosten die eigene Sicherheit zu gewährleisten. Wie bekannt ist, hat das Hitler nicht gestoppt. Und die Anti-Hitler-Koalition kam erst Zustande, nachdem alle jeweils einzeln Hitler satt hatten. Es hätte damals weniger Opfer geben können, aber die Geschichte lehrt uns ja bekanntlich nichts.

KP: In den Tagen der Beslaner Tragödie gab es erneut Aufrufe, Verhandlungen mit den Separatisten zu beginnen…

WS: Ja, als ob jemand ein Kommando gegeben hätte… Mag sein, dass ich was verpasst habe, aber ich hatte all die Jahre kein einziges Mal das Glück, klare und genaue Vorschläge zur Beilegung der Krise zu hören. Alles, was der Staat getan hat, wird als falsch erklärt. Aber was ist richtig? Verhandlungen? Bitte sehr! Worüber? Mit wem? Mit welchen Verhandlungspositionen? Was sollte das Ergebnis sein? Ich höre nichts!

KP: Truppenabzug, internationaler Status oder Unabhängigkeit Tschetscheniens…

WS: Und wenn… Wie einfach alles ist! Es riecht ein wenig nach Hochverrat, nähert sich dem Verrat am tschetschenischen Volk, an allen, die im Kaukasus an Russland glauben, dafür ist es einfach. Ich enthülle ihnen ein Geheimnis. Das tschetschenische Problem hat, genauso wie das Problem des weltweiten Terrorismus, keine einfache Lösung. Es gibt nur komplizierte, schwierige Lösungen. Und wir haben begonnen sie zu realisieren. Das ist die aktive Sozialpolitik im Nordkaukasus, der schrittweise Aufbau demokratischer Institute und der Grundlagen einer Zivilgesellschaft, eines effektiven Justiz- und Polizeisystems, von Produktionsmöglichkeiten und sozialer Infrastruktur, der Überwindung der Massenarbeitslosigkeit, Korruption und Versagen im Bereich der Kultur und der Bildung. Auf diesem Weg wird es Haltestellen geben und sogar Opfer. Das ist kein gerader und kein kurzer Weg, aber es ist der einzige.

Was die Unabhängigkeit anlangt, lassen Sie uns an die jüngste Vergangenheit erinnern. Wie bekannt, hat Tschetschenien gemäß der Vereinbarung von Chasarwjurt (Friedenvereinbarung vom Sommer 1996, JS) einen Status erlangt, der faktisch die Unabhängigkeit bedeutete. Dessen ungeachtet hat Russland Itschkeria (Selbstbezeichnung der Tschetschenen für ihr Land, JS) finanziert und dabei offensichtlich damit gerechnet, so ein bisschen Sicherheit zu erwerben. Die Banditen von Itschkeria waren allmächtig: Sie organisierten „Scharia"-Gerichte, öffentliche Hinrichtungen, schlugen ihre Glaubensgenossen mit Stöcken, schnitten Hände ab und Köpfe. Übrigens, wohin haben damals die Menschenrechtler geschaut?

Itschkeria war also unabhängig. Die Bedrohung ist davon aber nirgendwohin verschwunden. Mehr noch, sie ist mehrfach gewachsen. Die Banditen von Itschkeria haben sich mit dem Erreichten nicht zufrieden gegeben und haben nach einiger Zeit Dagestan überfallen. Was denn, hätten man ihnen auch noch Dagestan zum Auseinandernehmen geben sollen? Dann haben sie Häuser in Moskau gesprengt. Hätten man Moskau aufgeben sollen?

Und noch etwas über Verhandlungen. Wer waren Präsident Kadyrow und der Held Russlands Jamadajew? Sie waren Separatisten, sie hatten gegen uns gekämpft. Aber dann haben sie verstanden, was sich hinter dem Geschwätz über die Unabhängigkeit verbarg und sind auf die Seite ihres Volkes gewechselt, auf die Seite Russlands. Wie im übrigen Tausende von ehemaligen Kämpfern, von denen man heute vielen Waffen anvertraut und das Recht gibt, in der tschetschenischen Miliz und unseren Streitkräften zu dienen. Die Föderation hat vier Mal eine Amnestie für Teilnehmer an den Banditenbanden erklärt. Russland versteht es, um Verzeihung zu bitten und zu verzeihen. Für diejenigen, die Frieden wollen, ist die Tür immer offen.

KP: Der Präsident hat drei Pakete von vordringlichen Maßnahmen zur Abwehr der terroristischen Aggression vorgeschlagen. Das erste betrifft einen Mechanismus zur Reaktion auf Krisen und die Optimierung der Arbeit von Miliz, Armee und Geheimdienst. Das zweite soll den russischen Süden sozial aktivieren. Das dritte Paket ist das umstrittenste, es sieht die Durchführung beispielloser politischer Reformen vor. Erklären Sie bitte, wie die neue Form der Gouverneurswahl und der Abgeordneten der Staatsduma beim Kampf mit dem Terrorismus hilft.

WS: Die Hauptaufgabe der Interventen ist es, die russische Staatlichkeit zu vernichten. Einer solchen Bedrohung gegenüberstehend ist der Präsident einfach verpflichtet, das Verfassungsprinzip der Einheit der Exekutive in vollem Umfang zu realisieren. Die Einheit der Obrigkeit ist eine notwendige Bedingung für die Einheit der Nation. Natürlich wird die Wahl der Führer der Subjekte der Föderation (d.h. der Gouverneure und Republikspräsidenten, JS) durch die gesetzgebenden Versammlungen auf Vorschlag des Präsidenten nicht von allein zum schnellen Sieg über den Feind führen. Aber sie ermöglicht es, den Vorrat an Stabilität unseres politischen Systems bedeutend zu erhöhen, den Staatsmechanismus an die extremen Bedingungen eines unerklärten Krieges anzupassen. Die höchsten Beamten der Regionen erhalten mehr Rechte. Der Wettbewerb zwischen dem Zentrum und den Territorien, sich vor der Verantwortung für politische Fehler und Organisationsmängel zu drücken, wird beendet.

KP: Und doch gibt es die Meinung, dass Putin die Beslaner Ereignisse ausgenutzt hat, um seine persönliche Macht zu stärken und die Demokratie abzuschaffen. Wie begründet sind Befürchtungen, die in diesem Zusammenhang von einigen russischen und ausländischen Politikern vorgebracht werden?

WS: Westliche Politiker müssen wissen, dass Russland die einzige Föderation auf der Welt ist, deren Subjekte den Status nationaler Republiken haben können. Mir scheint, in Washington verstände man uns besser, wenn zum Beispiel eine Afro-Amerikanische Republik oder ein Hispano-Jüdischer Autonomer Bezirk Teil der USA wären. Unser Land ist einmalig und fordert entsprechende Führungssysteme. Was einige der Unseren anbelangt, so wollen sie entweder nicht wirklich verstehen, worum es geht, oder sie wollen bewusst das Publikum betrügen.

Putin stärkt den Staat, und nicht sich selbst. Seine Autorität ist auch so ausreichend groß und er hat keine Probleme in den Beziehungen mit den regionalen Führern. Das neue Schema wird nicht plötzlich anfangen zu funktionieren und auch nicht für Putin persönlich. Uns steht eine Übergangsperiode bevor, die sich über mehrere Jahre erstrecken wird. Alle nach den bisher geltenden Regeln gewählten Führer werden bis zum Ende ihrer gesetzlichen Amtszeit weiter arbeiten. Es braucht Zeit, um die Verfassung und die geltenden Grundgesetze der Subjekte der Föderation zu ändern. Erst zum Jahr 2009 werden alle Regionalführer in Übereinstimmung mit den neuen Gesetzen gewählt sein. Außerdem hat die Pro-Präsidentenpartei „Einiges Russland" nur in 17 von 89 Regionalparlamenten eine Mehrheit. In vielen Subjekten der Russischen Föderation wird der Präsident bei der Bildung der Exekutive mit der Opposition zusammenarbeiten.

KP: Übrigens über die Opposition. Wem nutzt der Übergang zum Verhältniswahlsystem für die Abgeordneten der Staatsduma?

WS: Lassen Sie uns rechnen. Von 221 direkt gewählten Abgeordneten sind 184 Mitglieder der Fraktion „Einiges Russland" Das heißt, dass gerade das gegenwärtige, gemischte Wahlsystem, und nur dieses, unserer Partei die für viele so betrübliche Verfassungsmehrheit verschafft. Wenn schon die Parlamentswahlen 2003 nach dem neuen Schema durchgeführt worden wären (lassen Sie mich ein paar Zahlen nennen, die ich habe), dann hätte „Einiges Russland" nur 239 Abgeordnetenmandate anstelle von 305 bekommen. Die Oppositionsparteien erhielten dagegen deutlich mehr Sitze in der Duma: Die KPRF (Kommunisten, JS) 80 anstelle von 51, die LDPR (Schirinowskij, JS) 73 anstelle von 36 und Rodina 58 anstelle von 39.

Ich muss Sie also enttäuschen. Das ist keine Reform „unter Putin", denn sie nutzt der Pro-Präsidentenpartei, vorsichtig ausgedrückt, nicht gerade. Es gibt für die Pro-Präsidentenpartei nur ein Plus, nämlich die Notwendigkeit, deutlich das Tempo und die Qualität des Parteiaufbaus zu erhöhen. Viel mehr Vorteile hat die russische Demokratie insgesamt. Die Wahlen nach dem Verhältniswahlrecht führen zu größerer Repräsentanz. Genauer gesagt bilden sie die Wählermeinung besser ab und verringern die Korrumpiertheit des Abgeordnetenkorpus. Vom Wettbewerb geistreicher und polittechnologischer Kniffe kommen wir zur ehrlichen Konkurrenz von Ideen und Programmen. Und, letztendlich, wird die Opposition aus ihrer Nichtexistenz zurückgeholt.

KP: Aber warum will sich die Obrigkeit das Leben schwer machen, indem sie mit den eigenen Händen oppositionelle Parteien stärkt? Lieben Sie sie so sehr?

WS: Es geht nicht darum, ob wir sie lieben oder nicht lieben, sondern darum, dass ein entwickeltes Mehrparteiensystem Russland hilft, die nationale Immunität gegenüber unterschiedlicher extremistischer Ansteckungsgefahren zu erhöhen. Ich erinnere: Der Virus des Terrorismus hat den Staat in genau dem Moment angesteckt, in dem in ihrer Operettensouveränität verpuppte Regionen und schwächliche Einwegparteien nicht in der Lage waren, dem im Land herrschenden Chaos etwas entgegen zu setzen. Teilweise haben sie das Chaos aus kleinlichen und eigennützigen Gründen sogar selbst provoziert. Diese Periode der neofeudalen Zersplitterung, die wir in den 90er Jahren durchlebt haben, hat zur Entstehung des banditenhaften Itschkerija geführt und wurde zum Prolog für die terroristische Intervention. Das darf sich nicht wiederholen.

KP: Was macht die Gesellschaft, die einfachen Bürger, wenn niemand in der Lage ist, die elementarste Sicherheit zu garantieren?

WS: Ich glaube, dass die Mobilisierung der Nation im Kampf gegen den Terrorismus die Hauptsache in dem Programm ist, das der Präsident am 13. September vorgelegt hat. Uns allen muss bewusst werden, dass der Feind vor den Toren steht. Die Front geht durch jede Stadt, durch jede Straße, durch jedes Haus. Wir brauchen Wachsamkeit, Solidarität, gegenseitige Hilfe und die Vereinigung der Anstrengungen von Bürgern und Staat.

Francis Fukuyama hat in einer seiner Arbeiten bemerkt, dass für posttotalitäre Gesellschaften ein Defizit an sozialem Kapital, an Erfahrung zu gemeinsamem Handeln und an Vertrauen der Bürger untereinander charakteristisch sei. Da macht auch unsere Gesellschaft keine Ausnahme.

Die sittliche Krise, die im Schoß des pseudokollektivistischen kommunistischen Regimes entstanden ist, setzt sich auch heute noch fort. Eine moralische Mehrheit formiert sich langsam. Aber die unausrottbaren Figuren des Kinojournals „Fitil“ (Figuren des satirisch-publizistischen Kinoalmanachs „Der Docht“, in dem in Sowjetzeiten Korruption, verschiedene Formen von Raub und Misswirtschaft angeklagt wurden, JS), also Diebe und Schwätzer, Denunzianten und Schmiergeldempfänger, Schönfärber und Karrieristen wirken heute noch genauso gewandt wie in den alten sowjetischen Zeiten.

Deshalb müssen wir einen echten Kollektivismus erst wieder lernen. Und nicht auf Lenins Art, sondern aufgrund von Erfahrungen der Zivilgesellschaft. Privatinitiative in die Bereiche des Staatsaufbaus und der öffentlichen Sicherheit einzubringen ist die vordringlichste Bedingung für unseren Sieg im Kampf mit dem Terror. In diese Arbeit muss man auch die zivilgesellschaftlichen Vereinigungen, das Bildungssystem, die Massenmedien und die Sicherheitsorgane mit einbeziehen.

KP: Offenbar hat der Präsident gerade für diese Aufgabe die Schaffung einer Gesellschaftskammer initiiert? Erzählen Sie, was man sich darunter letztendlich vorzustellen hat.

WS: Wie die Gesellschaftskammer aufgebaut sein und was sie tun soll, muss durch ein föderales Gesetz geregelt werden. Die Vorbereitung des entsprechenden Gesetzesentwurfs muss unter möglichst breiter Beteiligung zivilgesellschaftlicher Vereinigungen erfolgen. Ihre Meinung muss handlungsleitend werden. Aber vorerst kann ich mit Ihnen nur persönliche Überlegungen teilen.

Die Gesellschaftskammer kann dem Föderationsrat (Parlamentsorberhaus, JS) angegliedert sein. Sie sollte ein ständiges Organ sein. In ihr sollten sowohl allrussische als auch regionale Bürgervereinigungen vertreten sein. Die Vertreter dieser Vereinigungen sollten keine Staatsämter ausüben und auch keine Führungsposten in politischen Parteien innehaben.

In der ersten Etappe könnten alle Zweige der Staatsmacht gesellschaftliche Akteure für zwei Jahre in die Kammer delegieren. Das könnten aber auch politische Parteien machen, die bei den vorhergehenden Wahlen mehr als 1 Prozent der Stimmen erhalten haben. Oder das könnte ein besonderes Gremium von Wahlmännern in den Regionen machen. In der zweiten Etappe könnten die Mitglieder der Kammer das Recht bekommen, selbstständig neue Mitglieder zu kooptieren. Dadurch würde sich der Einfluss politischer Strukturen auf die Tätigkeit der unabhängigen Experten verringern.

Diese neue Struktur ist dazu gedacht, die Bürokratie unter Bürgerkontrolle zu stellen und so gesellschaftliche Expertise für die wichtigsten Gesetzesprojekte und Verwaltungsvorschriften zu sichern. Dazu muss die Gesellschaftkammer einen zuverlässigen Mechanismus zur Zusammenarbeit mit dem Staatsapparat und dem Gerichtssystem haben und zudem garantierten Zugang zu den Massenmedien. Sie könnten ebenso staatliche Fördermittel an den nichtkommerziellen Sektor verteilen und öffentliche Untersuchungen über die Verletzung der Bürgerrechte durchführen.

Skeptiker unterstreichen, dass alle diese Funktionen das Parlament erfüllen müsste. Das ist richtig und das macht es auch. Nur auf seine Art. Der Geburtsfehler des Parlamentarismus ist der ständige Blick auf die Wahlen, auf die vergangenen und die kommenden. Parlamentarische Diskussionen enthalten auf die eine oder andere Weise immer ein Stück Populismus. Und bei unserem ziemlich niedrigen Niveau politischer Kultur verkommt das oft zur Farce.

Die Experten der Gesellschaftskammer hängen viel weniger von der politischen Konjunktur ab, was es ihnen erlaubt objektiver zu sein und nicht durchdachte Entscheidungen der Obrigkeit zu korrigieren. Es ist ja nicht umsonst so, dass das Europaparlament und die Parlamente vieler alter Demokratien unterschiedliche Mechanismen nutzen, um mit der Zivilgesellschaft zusammenzuwirken.

KP: Aber befürchten Sie nicht, dass die von Ihnen erwähnten Skeptiker aus der Gruppe der gesellschaftlichen und politischen Akteure weder im Rahmen einer Gesellschaftskammer noch außerhalb mit der Obrigkeit zusammenarbeiten wollen?

WS: Die Weigerung, sich an einer gemeinsamen Arbeit zu beteiligen ist auch eine Position. In diesem Fall muss man sich mit Geduld wappnen und darf die Hoffnung auf eine Wiederaufnahme des Dialogs nicht verlieren. Überzeugung ist das Hauptinstrument der Demokratie.

Obwohl es natürlich auch Leute gibt, die für immer für eine Partnerschaft verloren sind. Faktisch ist im belagerten Land eine fünfte Kolonne von Rechts- und Linksradikalen aufgetaucht. Zitronen und einige Äpfel (gemeint sind „Limonowzi", also die Nationalbolschewisten und „Jabloko"=Apfel, die Jawlinskij-Partei, JS) wachsen nun an einem Zweig. Falsche Liberale und echte Nazis haben immer mehr gemeinsam. Gemeinsame Geldgeber ausländischer Herkunft. Gemeinsamen Hass. Dem Putinschen Russland gegenüber, wie sie sagen. Aber in Wirklichkeit Russland als solchem gegenüber. Daran ist nichts Verwunderliches. Über solche hat schon Dostojewskij geschrieben. Und heute verbringen diese Smerdjakows und Ljamschins eine angenehme Zeit in unterschiedlichen Komitees zur Erwartung des achten Jahrs, wo sie die Zweckmäßigkeit der Niederlage des eigenen Landes im Kampf gegen den Terrorismus predigen. Gott wird sie richten. Wir kommen auch ohne sie zurecht.

Ich wiederhole noch einmal: Die moralische Mehrheit formiert sich langsam. Aber sie formiert sich. Unsere junge Demokratie wird ihre Effektivität und ihre Lebensfähigkeit beweisen. Die Modernisierung und Solidarität der größten gesellschaftlichen Korporationen, der Berufsvereinigungen und religiösen Konfessionen, der Staatsbürokratie und der politischen Parteien, der Menschenrechtsorganisationen und des Justiz- und Polizeisystems werden Russland unbedingt zum Sieg führen.

Interview: Jelena Ocharkowa
Übersetzung: Jens Siegert, 02. Oktober 2004

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