Der Freund des Kanzlers - zur deutschen Russlandpolitik

Dieser Kommentar erschien zunächst in Russland Analysen 25/2004.

7. Mai 2004
Von Jens Siegert
Bundeskanzler Gerhard Schröder war Anfang April der erste westliche Regierungschef, der Wladimir Putin zu seinem Wahlsieg persönlich in Moskau gratulierte. Schröder, selbst im Umfragetief, zeigte sich beeindruckt über die 70 Prozent seines „Freundes“, wie er Putin nennt. Putin revanchierte sich Mitte April mit einem als „privat“ bezeichneten Geburtstagsfeierbesuch in Hannover. Nur einen Tag nach Schröder machte der französische Präsident Jacques Chirac seine Aufwartung beim Wahlsieger Putin. Während der Besichtigung eines geheimen Raketenzentrums bei Moskau lobte er ausdrücklich die „Fortschritte der russischen Demokratie“. Schröders und Chiracs öffentliches Wohlwollen gegenüber dem russischen Präsidenten und der gleichzeitige Verzicht auf ebenso öffentliche Kritik sind kennzeichnend für die Russlandpolitik der meisten westlichen Regierungen.

Die für diese „Politik der weichen Hand“ angegeben Gründe lassen sich zugespitzt im Dreiklang „Stabilität, Antiterrorkrieg, Wirtschaft“ zusammenfassen. Den westlichen Regierungen, darunter auch der Bundesregierung, sind diese drei Komponenten wichtiger als die russischen Probleme mit demokratischen Normen, Menschenrechten, Pressefreiheit und Zivilgesellschaft. Hinter dieser Prioritätensetzung verbirgt sich die lange nachwirkende Erleichterung, dass die Auflösung der Sowjetunion und der Systemwechsel in Russland Anfang der 90er Jahre ohne großen Bürgerkrieg vollzogen wurden. Aktuell noch wichtiger dürfte die Erleichterung sein, dass die Instabilität der Jelzin-Zeit nicht zum Staatszerfall geführt hat. Jedenfalls braucht in absehbarer Zeit niemand zu befürchten, dass Russland die länger werdende Liste der failing states bereichern wird. Beide Überlegungen entspringen sicher legitimem politischem Denken. Doch reichen sie eben nicht aus, sind nicht weitsichtig genug. Wer eine mögliche demokratische Entwicklung Russlands zumindest auf politisch absehbare Zeit abschreibt und schon froh ist, wenn dieses große, oft gewalttätige und irgendwie unheimliche Land nicht allzu viel Destruktivpotential entwickelt, unterschätzt die in dieser Politik verborgenen Untiefen. Das Schiff kann trotzdem sinken.

Ein neues Russland…

Was ist geschehen, dass die Sorge um die demokratische Entwicklung Russlands so sehr in den Hintergrund getreten ist? Die Antwort ist einfach: Die Welt hat sich verändert und Putin hat Russland verändert. Putin trat Anfang 2000 sein Amt mit der Ankündigung an, die so genannte „Machtvertikale“ zu stärken, um einerseits den zentrifugalen und desintegrativen Tendenzen im Land entgegen zu steuern und andererseits einer „Diktatur des Gesetzes“ zum Durchbruch zu verhelfen. Nur so, in kontrollierter Weise und als starker Zentralstaat könne sich ein so großes und in demokratischen Regeln so unerfahrenes Land wie Russland in Richtung einer demokratischen Gesellschaft entwickeln. Das in der Folge entstandene politische System – und man kann durchaus von einem neuen politischen System sprechen – der „gelenkten Demokratie“ – ist spätestens seit den Dumawahlen im Dezember 2003 innerhalb einer liberalen Verfassung Wirklichkeit geworden.

Durch die Zwei-Drittel-Mehrheit der Putin-Partei „Einiges Russland“ ist auch die Duma, wie zuvor schon der Föderationsrat, zu einem technischen Parlament oder zu einem „Staatskomitee für Politik“ geworden. Technisch im Sinne von „im Kreml getroffene politische Entscheidungen ausführend“ sind ebenso die Regierung, fast alle Gerichte mit Ausnahme des Verfassungsgerichts, in etwas geringerem Maße die Wirtschaftsverbände, die Gewerkschaften und die – politisch zentralen – elektronischen Massenmedien. Die liberalen und demokratischen Parlamentsparteien haben ein Fiasko erlitten. Ihre Strategie einer „Opposition von Kremls Gnaden“ ohne ausreichende gesellschaftliche Verankerung ist gescheitert. Dort herrscht nach der auch selbstverschuldeten K.O.-Niederlage Ratlosigkeit. Versuche von wem auch immer, autonome Machtfelder aufzubauen, duldet der Kreml nicht, wie der Fall Chodorkowskij/Jukos zeigt. Einzige autonome, wenn auch schwache politische Subjekte in Russland bleiben einige liberale Politiker und eine große Zahl von Nichtregierungsorganisationen.

… in einer Welt nach dem 11. September

Nach den Terroranschlägen auf New York und Washington am 11. September 2001 entschied sich Putin ohne Zögern, die US-geführte Anti-Terrorkoalition zu unterstützen. Daraufhin stellten viele westliche Politiker ihre Kritik an Demokratiedefiziten, Menschenrechtsverletzungen und Problemen des russischen Rechtsstaates weitgehend ein. Der brutale Krieg und die schrecklichen Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien werden seither fast kommentarlos als Teil des „Kriegs gegen den Terrorismus“ akzeptiert. Zwar versichern auch deutsche Politiker, sie sprächen diese Defizite bei Treffen mit russischen Offiziellen regelmäßig an, aber es gibt nur wenige deutliche öffentliche Äußerungen, wie die zwei kurzen Absätze in der Rede von Bundesaußenminister Joschka Fischer vor der UN-Menschenrechtskommission Mitte März 2004.

Allerdings hilft es in der Praxis wenig, wenn die Probleme benannt werden, dann aber der Wille fehlt, sie auch mit Maßnahmen in harten Politikfeldern wie Wirtschaft oder Militärpolitik zu verbinden. Die deutsche Russlandpolitik ist typisch: Der Außenminister mahnt, der Bundeskanzler lobt und schließt Wirtschaftsverträge ab. Die Wirtschaftsverbände haben sich mit den zustimmenden, ja fast euphorischen Äußerungen ihrer VertreterInnen zur Verhaftung von Chodorkowskij und zu Putins Wahlsieg längst aus ihrer auch im wirtschaftlichen Eigeninteresse stehenden Verpflichtung gestohlen, rechtsstaatliche Normen zu fördern. Das ist mindestens so fraglich und würdelos wie Schröders Geburtstagsverbrüderung. Von russischer Seite wird dieses entgegenkommende Verhalten als insgeheimes Einverständnis und als Schwäche interpretiert. Zudem führt die Einbindung Russlands in den „Krieg gegen den Terrorismus“ nicht zu der intendierten „Zivilisierung“ der russischen Außenpolitik. Im Gegenteil sind nach dem Motto „wenn wir schon beim Krieg gegen den Terrorismus mitmachen, müssen wir auch was davon haben“ eher Versuche eine Re-Imperialisierung zu beobachten. Das spüren besonders die direkten Nachbarn Russlands wie die Ukraine, Georgien oder die baltischen Staaten.

Was tun?

Wie sollte die Politik der Bundesregierung gegenüber Russland aussehen? Wichtigster Punkt bleibt die Stärkung bilateraler und multilateraler Kontakte auf allen Ebenen: offiziell, wissenschaftlich, wirtschaftlich und zivilgesellschaftlich. Die russische Gesellschaft hat eine starke Tendenz, sich wieder von der Außenwelt abzukapseln, selbstgenügsam („samodostatotschno“) zu sein. Diese Tendenz wird durch die aktuellen Entwicklungen und den nationalistischen Boom eher befördert und könnte in einem neuen bürokratisch-autoritären System enden. Derartige Systeme spiegeln zwar erfahrungsgemäß langfristige Stabilität vor, tragen ihre inneren Sprengsätze aber wie Selbstmordattentäter um den Bauch geschnallt mit sich. Tschetschenien ist nur der größte russische Sprengsatz, nicht der einzige.

Wenn es also ein wichtiges Ziel ist, die russische Zivilgesellschaft zu stärken, die Menschenrechte voranzubringen, Ökologie, Minderheitenrechte, Toleranz und Geschlechterdemokratie zu fördern, dann müssen strategische Partnerschaften mit russischen NGOs aufgebaut werden. Dafür ist natürlich nicht nur die Bundesregierung verantwortlich. Aber sie muss der russischen Staatsführung klar machen, dass zivilgesellschaftliche Kontakte eine Schlüsselrolle in den deutsch-russischen Beziehungen spielen. Die Bundesregierung muss diese Themen auch auf den Tisch bringen, wenn die „harten“ wirtschaftlichen und verteidigungspolitischen Themen diskutiert werden. Im Umgang mit Russland sollten die EU-Europäer keinen Zweifel daran lassen, dass es sich bei Russland um ein europäisches Land handelt. Russland ist Mitglied des Europarats und hat alle damit verbundenen Verpflichtungen auf sich genommen.

Gleichzeitig muss es natürlich auch vielfältige Kontakte zu den VertreterInnen der neuen „gelenkten“ Demokratie, wie der Staatsduma und seiner Mehrheitsfraktion „Einiges Russland“, geben. Aber man muss sich darüber im Klaren sein, dass es sich hier eben um vom Kreml kontrollierte Institutionen handelt. Auch die Erfahrung mit einer so „unschuldigen“ Einrichtung wie dem von Schröder und Putin initiierten Petersburger Dialog zeigt das deutlich. Der Petersburger Dialog spielt bisher eine fatale Rolle, weil er der russischen Seite gestattet, Zivilgesellschaft zu ignorieren oder zu simulieren. Die deutsche Seite hat nicht den Mut und keine ausreichende politische Unterstützung, um das zu ändern. Der nominelle Leiter des russischen Teils des Lenkungsausschusses, Michail Gorbatschow, trifft ohne Einverständnis der Kreml-Vertrauensleute keinerlei Entscheidungen – und er tut nichts, um diese Tatsache zu verbergen.

In diesem Zusammenhang ist auch eine intensivere Diskussion über das Verhältnis von Stabilität und Demokratie und wie Demokratie zu erreichen ist nach dem definitiven Ende des Kalten Kriegs notwendig. Darüber wird auf unterschiedlichen Foren bereits viel gesprochen und diskutiert. Der Einfluss dieser Diskussionen auf die konkrete Politik bleibt bisher aber eher schwach. Die rotgrüne Koalitionsvereinbarung vom Herbst 2002 enthält zwar Elemente der Anerkennung dieser Verbindung, aber im Alltagsgeschäft geraten sie meist unter die Räder von Geo- und Haushaltspolitik. Der Dialog auf Staatsebene ist unabdingbar, aber es ist der Dialog mit kritischen russischen zivilgesellschaftlichen Organisationen, der mehr Unterstützung braucht.

Der Blick auf Russland sollte wachsam, aber nicht hysterisch geschärft werden. Westliche, deutsche Russlandpolitik leidet traditionell unter einem starken Pendelausschlag zwischen euphorisch und katastrophisch – der russische Blick nach Westen übrigens auch!

Dossier

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