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Türkisch-kurdischer Konflikt: Die Janusköpfigkeit Erdogans

Lesedauer: 5 Minuten
Foto eines Stadtteils in Diyarbakir in Südost-Anatolien. Foto: Adam Reeder Lizenz: CC-BY-NC Quelle: Flickr

14. November 2011
Ralf Fücks
Büsra Ersanli wurde am 31. Oktober verhaftet. Sie vertritt die pro-kurdische „Partei des Friedens und der Demokratie“ (BDP) in der verfassungsgebenden Kommission des türkischen Parlaments. Frau Ersanli ist Professorin für internationale Beziehungen an der Istanbuler Marmara Universität, Mitglied im Vorstand der BDP und eine bekannte Menschen- und Frauenrechtsaktivistin.

Bei der Durchsuchung ihrer Wohnung beschlagnahmte die Polizei Notizen, die den Haftrichter zu folgenden Fragen veranlassten: In ihren Notizen fanden sich die Worte „Selbstbestimmungsrecht“, „lokale Selbstbestimmung“, warum haben Sie dies geschrieben? Was meinten Sie mit ihrer Notiz „Beispiel Spanien“? Warum haben Sie „Staatsbürgerschaft der Türkei“ und nicht „türkische Staatsbürgerschaft“ geschrieben? Warum wurden Sie zu einer Sendung von Roj TV (einem kurdischen Fernsehprogramm, das in Dänemark produziert wird) eingeladen?

Diese Notizen reichten für den Haftrichter aus, um gegen Büsra Ersanli Haftbefehl wegen Mitgliedschaft in der „Union der kurdischen Gemeinschaften“ (KCK) zu erlassen. Die KCK wurde von den türkischen Behörden als Vorfeldorganisation der „Arbeiterpartei Kurdistans“ (PKK) verboten. Mit ihr verhaftet wurde auch der international bekannte Verleger Ragip Zarakolu, der eigentlich an diesem Tag zu einem Abendessen beim Kulturminister eingeladen war. Insgesamt traf es an diesem Montag 42 Personen. Die Liste der wegen vermeintlicher Mitgliedschaft in der KCK Verhafteten ist mittlerweile kilometerlang. Es ist schwer, den Überblick zu behalten. Der BDP sind insgesamt 3.548 Inhaftierte namentlich bekannt – Bürgermeister und kommunale Abgeordnete, Journalisten, Akademikerinnen und NGO-Aktivisten. Verhaftet wurden sie nicht aufgrund von Gewalttaten, sondern von Meinungsdelikten. Man kann sie nicht anders denn als politische Häftlinge bezeichnen. Ihre Zahl dürfte sich insgesamt auf mehr als 4.000 Personen belaufen. Das türkische Anti-Terror-Gesetz erlaubt es, die Festgenommenen bis zu zehn Jahre in Untersuchungshaft zu halten.

Es ist keine Frage, dass die PKK eine unheilvolle, steinzeitliche Kraft ist, die mit ihren Anschlägen, Überfällen und Entführungen die Spirale der Gewalt immer wieder anzieht. Es ist aber sehr wohl die Frage, ob der Kampf gegen sie die Methoden rechtfertigt, mit der Regierung, Armee und Justiz gegen wirkliche und vermeintliche Sympathisanten vorgehen – und ob diese Politik etwas anderes bewirkt als eine Stärkung der PKK.

Ich war Anfang Oktober in Begleitung der Leiterin des Türkei-Büros der Heinrich-Böll-Stiftung zu einer Informationsreise in Südost-Anatolien. Wir haben zahlreiche Gespräche mit Anwälten, kurdischen Politikern und zivilgesellschaftlichen Organisationen geführt, um ein ungeschminktes Bild der Lage zu gewinnen. Noch vor zwei Jahren schien es so, als wollte Erdogan einen neuen Weg gegenüber den Kurden einschlagen. So wurden Medien in kurdischer Sprache zugelassen, und es gab informelle Verhandlungen mit der PKK über ein Ende des bewaffneten Konflikts. Inzwischen scheint das kurze Tauwetter im türkisch-kurdischen Verhältnis vorbei. Die PKK hat den Guerillakrieg wieder aufgenommen, und die AKP-Regierung kehrt zur Repressionspolitik ihrer kemalistischen Vorläufer zurück. Sie lässt keine Bereitschaft erkennen, den Konflikt, der auf beiden Seiten eine tiefe Erbitterung geschürt hat, mit politischen Methoden zu lösen. Das gilt insbesondere für zwei Kernpunkte der kurdischen Autonomiebestrebungen: die Zulassung von muttersprachlichem Unterricht und erweiterte Selbstverwaltungsrechte für kurdische Gemeinden und Gebiete. Wer solche Forderungen erhebt, muss damit rechnen, als Unterstützer der PKK aus dem Verkehr gezogen zu werden. So sitzt der Verleger einer kurdisch-sprachigen Tageszeitung im Gefängnis; Bürgermeister werden inhaftiert, weil sie mehrsprachige Informationsbroschüren zu kommunalen Dienstleistungen drucken lassen.

Dabei haben dreißig Jahre gewaltsamer Konflikte gezeigt, dass die Kurdenfrage nicht militärisch zu lösen ist. Mit der aktuellen Verhaftungswelle zerstört die türkische Regierung die Kraft, die eine friedliche Lösung erst möglich machen könnte: eine zivile kurdische Opposition, die sich an der politischen Gestaltung des Landes beteiligt. Gerade in einer Phase, in der die Türkei eine neue Verfassung ausarbeiten will, ist die Einbindung dieser Opposition bedeutsam. Es bedarf des Abschieds von einer ethnisch-nationalistischen Konzeption des „Türkentums“ als Grundlage des Staates. Die neue Verfassung muss der ethnischen, kulturellen und religiösen Vielfalt der Türkei Rechnung tragen. Ein verfassungsgebender Prozess, der eine solche Diskussion nicht zulässt, kann nicht demokratisch genannt werden. Als Reaktion auf die jüngsten Verhaftungen haben die der BDP zugehörigen Abgeordneten erklärt, dass unter diesen Umständen kein verfassungsgebender Prozess möglich ist. Man fragt sich, ob die AKP-Regierung es darauf anlegt, dass sich die BDP aus der verfassungsgebenden Kommission zurückzieht. Damit wäre jede Chance auf einen Neubeginn verspielt.

Vor dem Hintergrund dieser Ereignisse ist es kein Zufall, dass Ministerpräsident Erdogan in den letzten Wochen den deutschen politischen Stiftungen wiederholt vorgeworfen hat, sie würden der PKK politisch und finanziell zuarbeiten. Die Vorwürfe sind bodenlos, aber kalkuliert. Sie zielen darauf, die zivile kurdische Opposition auch international zu isolieren und jede Form der Zusammenarbeit mit ihr zu unterbinden. Während Erdogan in Deutschland als Anwalt der türkischen Immigranten auftritt, verbittet er sich jedes bürgerrechtliche Engagement internationaler Organisationen in der Türkei als „Einmischung in die inneren Angelegenheiten“. Diese Rhetorik der Einschüchterung scheint zu wirken. Oder wie will man sonst erklären, dass die Bundesregierung kein öffentliches Wort zu der Verhaftungswelle in der Türkei verloren hat? Es ist nicht zu kritisieren, wenn die Kanzlerin dem türkischen Ministerpräsidenten Unterstützung im Kampf gegen den Terrorismus zusagt. Aber das darf nicht bedeuten, zur Verletzung elementarer rechtsstaatlicher Normen zu schweigen. Wenn Premierminister Erdogan von Deutschland fordert, den Beitritt seines Landes zur Europäischen Union zu unterstützen, ist das hoffentlich nicht nur für die Kulisse gesprochen. Denn dazu gehört nicht nur eine aufstrebende Wirtschaft, sondern vor allem eine demokratische politische Kultur.

Dieser Artikel erschien zuerst in der Süddeutschen Zeitung.

Ralf Fücks ist Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung

Er publiziert in großen deutschen Tages- und Wochenzeitungen, in internationalen politischen Zeitschriften sowie im Internet zum Themenkreis Ökologie-Ökonomie, Politische Strategie, Europa und Internationale Politik.